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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

712 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Wolff, Christoph [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Welt der Bach-Kantaten. Bd. I: Johann Sebastian Bachs Kirchenkantaten: Von Arnstadt bis in die Köthener Zeit. Mit einem Vorwort von T. Koopman.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler; Kassel: Bärenreiter 1996. 238 S. gr.8. ISBN 3-476-01425-8 u. 3-7618-1275-2.

Rezensent:

Siegfried Oechsle

Das klingende Großprojekt erhält publizistischen Flankenschutz: In Zusammenhang mit der CD-Einspielung aller erhaltenen Bach-Kantaten durch Ton Koopman und The Amsterdam Baroque Orchestra & Choir ist es dem renommierten Bach-Forscher Christoph Wolff gelungen, eine Reihe ausgewiesener Spezialisten für ein begleitendes Buchprojekt zu gewinnen. Nicht das Einzelwerk ist es, das hier im Mittelpunkt des Interesses steht. Vielmehr beleuchten die Autoren literarische, theologische sowie ästhetische Kontexte und stellen übergreifende gattungsgeschichtliche und aufführungspraktische Überlegungen an.

Der erste der drei geplanten Bände gilt den geistlichen Kantaten der Jahre vor Bachs Leipziger Zeit (das Erscheinen der anderen beiden Bände ist für 1997 bzw. 1998 annonciert). Er gliedert sich in einen primär biographischen und in einen werkspezifischen Teil. Nach dem einleitenden Essay von W., der sich dem Repertoire über die Rezeptionsgeschichte nähert und die überlieferten Kantaten dem Umfang, der Herkunft der Texte und der Chronologie nach beleuchtet, vermittelt Peter Wollny einen Überblick über die Gattungen und Stile der Kirchenmusik um 1700. Der Schwerpunkt seiner Ausführungen liegt dabei auf der Frage nach möglichen Vorbildern Bachs in der Vokalmusik norddeutscher Organisten wie Weckmann, Bruhns und Buxtehude. Claus Oefner liefert zwar eine allgemeine sozialgeschichtliche Skizze des höfischen und städtischen Musiklebens in Mitteldeutschland der Zeit um 1700, konzentriert sich jedoch immer wieder auf Bachs Geburtsstadt Eisenach. Der Aufsatz von Andreas Glöckner über die Stätten von Bachs vorleipziger Leben und Wirken richtet sich nicht speziell auf das Kantatenschaffen. Er darf dafür als die derzeit aktuellste und kompetenteste biographische Darstellung dieses Zeitraums in Bachs Vita gelten. Zwei Studien über instrumentale Bereiche beschließen den ersten Teil des Buches: George B. Stauffers Abriß der Orgelmusik vor Leipzig, der auch Verbindungen von diesem Terrain aus zu dem der Kantaten sucht, und Hans-Joachim Schulzes Beitrag, in dem der Instrumentalvirtuose Bach gegen den Komponisten gehalten wird und das Verhältnis beider Seiten in Bachs Entwicklung und in der zeitgenössischen Rezeption herausgearbeitet werden.

Der zweite Teil des Bandes ist mit "Die Werke und ihre Welt" überschrieben. Zunächst untersucht H.-J. Schulze die von Bach vertonten Texte im Zusammenhang mit der komplexen Entstehungsgeschichte der "gemischten" Kirchenkantate aus Bibelwort, Choralstrophe sowie aus freier Dichtung in Form von Rezitativ und (Da-capo-)Arie. In zwei umfangreichen Studien geht Martin Petzoldt sodann auf theologische, liturgiegeschichtliche und hymnologische Aspekte ein. Die eine sucht in Bachs "Textbenutzung" nach theologischen Aussagen auf werkstruktureller Ebene, während die andere eine höchst kundige Darstellung der in Arnstadt, Mühlhausen, Weimar und Köthen ge-bräuchlichen Gesangbücher und Agenden bietet. Daran schließt sich ein zweiter Beitrag Wolffs an, der über Chor und Instrumentarium der vorleipziger Kantaten handelt.

Aus der Feder von Daniel R. Melamed stammt eine Studie zu den Chor- und Choralsätzen, die über diesen Rahmen hinaus auch den Umgang mit Choralmelodien in solistischen Sätzen thematisiert. Daß sich die Betrachtung von Einzelwerken einerseits und von Gattungspanoramen oder Kontextstapeln andererseits nicht ausschließen müssen, zeigt P. Wollnys Beitrag über Arien und Rezitative. Auf der Grundlage von präzisen und dennoch nicht zu detaillierten analytischen Fakten gelingt es dem Autor, Bachs so experimentierfreudiges wie systematisches Ar-beiten mit den neuen Satztypen dem Leser nahezubringen. Danach runden Ulrich Leisingers Ausführungen zum barocken Affektbegriff und zu den Funktionen der Rhetorik bei der ästhetischen Rechtfertigung von "affektbegründendem" Rezitativ und "affektdarstellender" Arie diesen Einblick in die "Welt" der Bach-Kantaten. Die Coda des Bandes bildet Ton Koopmans Einführung des Lesers in Probleme der Aufführungspraxis.

Zwar sind die Aufsätze nicht nur für den engeren Kreis der Musikologen geschrieben, sondern wenden sich auch an Theologen, Kirchenmusiker, Chorsänger sowie Konzert- und Plattenhörer. Gleichwohl ist die Darstellung wissenschaftlich fundiert und kommt ohne verzerrende Verkürzungen aus. Nicht, daß es ganz ohne Schwächen abgegangen wäre: Man kann beispielsweise das angemessene Eingehen auf mitteldeutsche Traditionen vermissen oder die Bezeichnung Bachs als des Erfinders der Permutationsfuge bedauern. Doch dies ändert nichts an dem hohen Niveau des Buches. Noch nie hat es einen so umsichtigen und zugleich so konzentrierten historischen Überblick über diese Gruppe Bachscher Werke gegeben.

Zu monieren sind indes äußere Mängel. Die fangen bei der Textformatierung (Zeilenumbruch, Wortzwischenräume) an und enden bei der Silbentrennung, die leider zu arglos dem Computer überlassen wurde. Dem reichen Bildmaterial ist ein Layout widerfahren, das wenig vom Notenlesen weiß und eine seltsame Vorliebe zum Kleinformat dokumentiert (auch bei ganzseitiger Wiedergabe). Die Texte sind jedoch viel zu gut, um dem Band nicht die möglichst weite Verbreitung zu wünschen.