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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

706–708

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Clement, A. A. [Ed.]

Titel/Untertitel:

Das Blut Jesu und die Lehre von der Versöhnung im Werk Johann Sebastian Bachs.

Verlag:

Amsterdam-Oxford-New York-Tokyo: North-Holland 1995. XII, 304 S. m. Abb. gr. 8 = Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen Verhandelingen Afd. Letterkunde, Nieuwe Reeks, 164. ISBN 0-444-85783-4.

Rezensent:

Christoph Wetzel

Im vorliegenden Band werden die Beiträge zum interdisziplinären Kolloquium der Königlichen Niederländischen Akademie der Wissenschaften im September 1993 - zugleich 14. Tagung der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung - zu den Beziehungen zwischen dem verkündigten Versöhnungswerk Christi und den kirchenmusikalischen Werken Bachs dokumentiert.

1. Die Lehre von der Versöhnung in Schriften und Künsten:

In diesem Kapitel sind die Referate abgedruckt, in denen spezielle Themen aus dem Vor- und Umfeld im Blick auf das Hauptthema neutestamentlich-theologisch, hymnologisch, theologiegeschichtlich, musik- und kunstwissenschaftlich bearbeitet sind. H. Werthemann (63 ff.) geht dem Gebrauch und der Be-deutung von Luthers Wortbildung "Gnadenstuhl" in Theologie, Poesie, bildender Kunst und in Kantaten und Passionen Bachs nach. In der Mitte des sogenannten Herzstückes der Joh-Passion wird der Ort der Gegenwart und der Versöhnung Gottes mit den Versen "Dein Kerker ist der Gnadenthron/Die Freistatt aller Frommen" besungen.

2. Bachs Kantaten: L. und R. Steiger (103 ff.) analysieren exemplarisch die Topoi des Redens vom Blut Jesu in Bachs Kantaten und Passionen. Und M. Petzoldt (163 ff.) interpretiert am Beispiel der Kantate BWV 105 den Topos "Tilgung der verklagenden Handschrift". In beiden Referaten kommen ,interdisziplinär' auch die entsprechenden musikalischen Umsetzungen zur Sprache. Doch je umfangreicher diese Literatur im Ganzen wird, um so deutlicher tritt ein Ungenügen der theologischen Bachforschung zutage, denn sie scheint die Musik mehr in ihre Analysen zu verrechnen als sich für das "hermeneutische Plus" der Musik offen zu halten.

B. Casper (139 ff.) versucht mittels philosophischer Definitionsangebote das hermeneutische Plus der Musik zu begreifen und damit der Interdisziplinarität der theologischen Bachforschung einen Dienst zu leisten. Zum je Spezielleren fortschreitend formuliert er das hermeneutische Plus jeder persönlichen Rede, der religiösen Sprache, des Kunstwerks überhaupt und der Musik insbesondere. Das Plus des Kunstwerks liege darin, daß es, "obwohl selbst in endlicher Gestalt sich zeitigend, dennoch ein Unendliches an Bedeutung hervorbringe". Und das besondere Plus der Musik ergibt sich aus ihrem Wesen als Zeitkunst, "daß sie das unsagbare und derart abwesende Unendliche gerade durch das Geschehen der Zeitigung selbst den Hörer berühren läßt". Jedes musikalische Symbol kann - muß nicht - in diesem Sinne als religiöses Symbol erfahren werden. Dieses hermeneutische Plus kann frei in den Dienst des verkündigenden und bekennenden Sprechens treten, daß das Gesagte "in einer volleren menschlichen Weise vernommen wird, und daß der Akt des Glaubens sich in dem Geschehen des Sich-Freigebens an das unsagbare Geheimnis hält und sich zugleich aus ihm empfängt". M. Walter (151 ff.) zeigt in der Spur dieses Denkens das Plus der Musik an Beispielen aus Kantaten Bachs auf. "Das hermeneutische Plus ist so letztlich ein 'phänomenologisches Plus': ein Mehr-sehen-Lassen vom Glauben, das bereits... im Glauben und für den Glauben geschieht".

3. Bachs Passionen und Agnus-Dei-Kompositionen: D. O. Franklin (179 ff.) untersucht, auf der breiten Forschung fußend, die Quellen, Entwicklungsstadien und Akzentuierungen des Versöhnungsgedankens in den verschiedenen Fassungen der Joh-Passion. Das Libretto analysiert er als ein Gemenge von Textschichten unterschiedlicher theologischer Aussagen, die zu einer an der Kommentierung des biblischen Textes durch Olearius angelehnten theologischen Konzeption verbunden sind. 1. Schicht: Joh. 18 und l9, z. T. umgearbeitete Texte von Postel, Choralstrophen und Eingangschor, die im Kern im johanneischen Versöhnungsgedanken vermittelt sind. 2. Schicht: die Textinterpolationen aus Mk15 und Mt 27, die mit den ihnen folgenden madrigalischen/choralen Sätzen das Thema Reue/ Buße kräftig anschlagen - unerläßlicher Inhalt der Passionspredigt der Zeit. 3. Schicht: Texte von Brockes, die teils eklektisch, teils bearbeitet dem Grundkonzept hinzugefügt sind. Die Abfolge Urfassung 1724 - Umarbeitung 1725 - Revision 1732 zeigt des Komponisten Ringen um Form und Inhalt an. Klarheit der Konzeption und Offenheit und Weite für textliche und musikalische Anregungen zeichnen letztlich das Werk aus. Das 1739 verfügte Aufführungsverbot deutet auf eine mögliche Einflußnahme der kirchlichen Öffentlichkeit hin. J. Pelikan (205 ff.) vertieft das Verständnis der Arie "Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken" in der Joh-Passion. Die vielen prägnanten dialektischen Formulierungen in den madrigalischen Texten der Joh. Passion (wie "Auch in der größten Niedrigkeit!/Verherrlicht worden bist" u.a. m.) sind begründet in der Christologie und Soteriologie, die in dem ,crux-gloria-Topos' oder ,victor quia victima' (Sieger weil Opfer) ihren Beweggrund haben. Wie im Noah-Bund der Regenbogen das sakramentale Zeichen für die ganze Schöpfung ist, so ist das Blut Christi - hier im Bild des dem Regenbogen gleichen blutgefärbten Rückens - für den Kosmos das sakramentale Zeichen des Neuen Bundes.

M. P. Bangert (215 ff.) findet in der Mt-Passion von Bach wie in Predigten von A. Pfeiffer eine lebendige Verbindung von Passionserinnerung und Abendmahlspraxis. Bach hebt die Einsetzungsworte durch eigene Taktart, ariose Melodik und durchkomponierte Instrumentalbegleitung aus den Jesusworten in einer dem lutherischen Verständnis entsprechenden Weise heraus. Tonartliche und motivische Bezüge zu den Folgesätzen, deren Texte starke eucharistisch-theologische Schlüsselworte enthalten, be-stärken diesen Eindruck. Schon der cantus firmus des Eingangschores der Passion gehört der Abendmahlsliturgie an. R. A. Leaver (233 ff.) deutet die Agnus-Dei-Kompositionen in Kantaten, Passionen und Messen Bachs. Schon vom Aufführungsort im Gottesdienst her hat jedes Werk einen existentiellen Bezug zum Abendmahl, den Bach dort bewußt aufnimmt, wo er die ge-bräuchlichen deutschen Versionen des Agnus Dei als cantus firmus oder Motivzitat verwendet.

So geht es z. B. in der Estomihi-Kantate BWV 23 sowohl um die Heilung des Blinden als auch das Heil der das Abendmahl feiernden Gemeinde. Die strukturell-musikalischen Beziehungen zwischen den Sätzen Agnus Dei und Domine Deus (aus dem Gloria) der Messe in h-moll gründen wohl darin, daß die Texte an den Sohn Gottes als das - im Altarsakrament gegenwärtige - Lamm Gottes gerichtet sind. Und die auf Dona nobis pacem parodierte Musik zu Gratias agimus erinnert mit dem ersten Fugenthema an den Melodiekopf "Christe, du Lamm Gottes" und läßt die Danksagungskollekte assoziieren.

4. Bachs Orgelwerke: R. J. Luth (253 ff.) sieht die Choralbearbeitungen in Bachs Orgelbüchlein durch, in deren Texten die Themen "Blut" und "Versöhnung" angesprochen sind. U. Meyer (259 ff.) interpretiert das Titelblatt des "Dritter Theil der Clavier Übung" und von da aus im Zusammenhang der Theologie Luthers die beiden Bearbeitungen des Taufliedes dieser Sammlung. R. Bockholdt (271 ff.) spricht von der Musikwissenschaft her das Grundproblem der Bach-Forschung an. "Mag Bach uns über das Musikalische hinaus noch so viel bedeuten: was er uns hinterlassen hat, ist Musik. Wenn wir Bach einen Theologen oder Prediger nennen,... die Bezeichnungen sind Metaphern. Bach war Komponist. Was Bach uns zu geben hat, gibt er uns durch die von ihm geschaffene Musik" (271). In glänzender Analyse verbalisiert er den Verlauf der Fuga super "Jesus Christus unser Heiland" (BWV 689) und bezieht diese letzte Katechismusliedbearbeitung auf den Katechismus als ganzen. A. Clement (285 ff.) erschließt sorgfältig den der theologischen Konzeption entsprechenden Bauplan der Schübler-Choräle. Da ein Erscheinungstermin der Sammlung zwischen 1748 und 1750 möglich erscheint, leistet Bach hier wahrscheinlich ein Stück persönlicher musikalischer Sterbevorbereitung.

Für den Fortgang der interdisziplinären theologischen BachForschung sind die von dem Musiker Bach ausgehenden Arbeiten besonders anregend und wegweisend.