Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

704–706

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Brauers, Claudia

Titel/Untertitel:

Perspektiven des Unendlichen. Friedrich Schlegels ästhetische Vermittlungstheorie: Die freie Religion der Kunst und ihre Umformung in eine Traditionsgeschichte der Kirche.

Verlag:

Berlin: Schmidt 1996. 368 S. 8 = Philologische Studien und Quellen, 139. Kart. DM 108,-. ISBN 3-503-03734-9.

Rezensent:

Kurt Nowak

Bei der Erforschung der Konfessionskulturen des frühen 19. Jh.s nimmt Friedrich Schlegel einen wichtigen Platz ein. Unter den Allgemeinhistorikern war es zuletzt Wolfgang Altgeld, der sich in seiner Habilitationsschrift von 1990 mit ihm beschäftigte (Druck: Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus. Mainz 1992 [VKZ B 59]). Schlegel, Sohn des protestantischen Geistlichen und Schriftstellers Johann Adolf Schlegel und führender Theoretiker der deutschen Frühromantik, der Dichter, Kulturphilosoph, Literaturwissenschaftler und -kritiker, trat 1808 zum Katholizismus über. Geistig angebahnt war der Übertritt seit Schlegels Pariser Zeit, also ab 1802.

Die literaturwissenschaftliche Dissertation von Claudia Brauers (Doktorvater: Norbert Oellers) verdient im Kontext der Kirchen- und Christentumsgeschichte interdisziplinäre Beachtung. Das sei besonders unterstrichen, weil die Studie - unbeschadet ihrer lehrreichen Durchführung - in den Grenzen der germanistischen Literaturwissenschaft verharrt. Nicht einmal ansatz- und versuchsweise wirft die Vfn. den Blick über den disziplinären Zaun. Zusammenhängen mag diese fachliche "Askese" mit dem Stand der Schlegel-Forschung. Deren Komplexität gerecht zu werden, ist eine Herausforderung eigener Art.

Die Leitgedanken der Studie lassen sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Schlegels Verarbeitung von frühromantischen Erfahrungen der Dissoziation und Fragmentierung im Programm der progressiven Universalpoesie und in der neuen My-thologie werde durch die Kehre zum Katholizismus in seiner "artistisch-perspektivischen Liberalität" (346) eingeschränkt. Das Unendliche bleibt unendlich, artikuliert sich jetzt aber im Rahmen einer christlich-idealistischen Theorie der Kunst. Ein Mann vom Schlage Zacherias Werners war Schlegel nicht. In Schlegels christlich-romantischem Literaturkonzept bleibt die Tendenz der Verdinglichung ins Kirchlich-Katholische (und Nationale) konterkariert durch die Unendlichkeitsperspektive. Die Überschußqualitäten der frühromantischen Poetologie und Mythologie gehen nicht verloren.

Die Vfn. stand vor der Aufgabe, den Weg des frühromantischen Schlegel zum Literaturtheoretiker und Kulturphilosophen der mittleren Phase (bis 1812) so nachzuzeichnen, daß Kontinuität wie Diskontinuität des ästhetischen und philosophischen Programms gleichermaßen sichtbar werden. Sie hatte zu zeigen, warum die "unendliche Reflexion" auf den Katholizismus zu-trieb, ohne dessen Objektivitätsansprüchen zu erliegen. Können die Theorieverwandlungen Schlegels, die Mutationen und Transformationen seines ästhetischen Anliegens, historisch-genetisch erfaßt werden? Die Vfn. meint "Nein". Sie wählte deshalb eine Analysetechnik, in der sich Längs- und Querschnitte miteinander verschränken. "Mit ihr soll gezeigt werden, wie poetologische, religiöse und politische Haltungen Schlegels aus demselben dynamischen System hervorgehen, in diesem aber ständig ersetzt und verschoben werden" (19). - Anders gesagt, die Vfn. nimmt Schlegels Texte quer durch die Chronologie als referentielles System, in dem die "unendliche Selbstbezüglichkeit als auch die progrediente Textüberschreitung" ein Verweisungsspiel konstituieren (ebd). Die Rekonstruktion der Veränderungen in Schlegels Theoriebestand ist primär an den "Begriffsstrukturen und -veränderungen" ausgerichtet (S. 21). Dieses werkimmanente Verfahren besitzt Stärken und Schwächen. Als ahistorisch braucht es nicht zu gelten, weil die historisch reflektierende Literaturwissenschaft es im Licht einer geschichtlich vermittelten Hermeneutik handhabt.

Die Dissertation ist gegliedert in zehn Kapitel und in drei nicht eigens numerierte Vorkapitel ("Einleitung. Mit einem Fragmentarischen Exkurs über Postaufklärung, Postromantik und Postmoderne, über Neue Ästhetik und Neoreligiosität"; "Ein Blick auf die Schlegel- und Romantikforschung"; "Die perspektivische Vermittlung im Unendlichen: Schlegels Ausgangsmodell").

Natürlich kann die Studie nicht durchgängig mit Neuigkeiten aufwarten. Was die Vfn. über "Die freie Religion der Kunst im ,Universum der Poesie'" (Kap. 1), über "Das Projekt der neuen Bibel: Religion der allmächtigen Schrift" (Kap. 2) oder auch über "Die neue Mythologie" (Kap. 3) mitteilt, ist im wesentlichen bekannt. Beobachtungen, welche die Forschung weiterführen, finden sich vor allem in Kapitel sieben ("Universelles Christentum: die ,Revision' der traditionsbegründeten Urreli-gion"), in Kapitel acht ("Der Anschluß an die ,objektive Form der Mittheilung' in den Symbolen des Katholizismus") und in den beiden Schlußkapiteln. Die repetitio von wohlbekannten Elementen der Schlegelschen Poesie- und Religionstheorie aus der frühromantischen Phase ist dem Interpretationsansatz ge-schuldet, Schlegels Texte im "diakritischen Vergleichsverfahren" (345) zu lesen.

Die Ästhetisierung des Katholizismus zugunsten der poetischen Versöhnung des Endlichen mit dem Unendlichen, des Universalen mit dem Partikularen, des allgemein Christlichen mit den Konfessionschristentümern usf. war kein geistiges Sondergut Schlegels. Darüber hätte man gern mehr gelesen. Wie nimmt sich z. B. die Gefühlsfundierung von Schlegels Kunsttheorie, mit der er der Vereinseitigung seiner römisch-katholischen Option entrann, im Vergleich mit Chateaubriands ästhetischen Figurationen im "Genie des Christentums" aus? Zu kurz kommt auch Schlegels ökumenisches Anliegen: die Versöhnung des protestantischen und des römisch-katholischen Prinzips in einem Typ des Christentums, das zwar noch katholisch heißen mag, doch "ka-tholisch" im transkonfessionellen Sinn ist. Auch über das Verhältnis von nationalliterarischer Tradition und transnationalem Kaisertum wären vertiefende Bemerkungen denkbar gewesen.

In den Anfangspassagen der Studie wird der Leser durch sprachlich wenig geglückte Ausdrücke irritiert (z. B. "nachverfolgt" [16]; "im frühromantischen Paradoxieren zuspitzt" [8]; "von Schlegels ästhetischen Entwurfsketten ausgefiltert" [24]). Bei den Schlegel-Exegesen erfährt der Stil der Vfn. dann eine Aufbesserung. Schmerzlich vermißt wird ein Personenregister.

In einem Brief vom 22. Juni 1808 schrieb Goethe an C. F. von Reinhard: " Durchaus aber ist diese Schlegelsche Konver-sion sehr der Mühe wert, daß man ihr Schritt vor Schritt folge, sowohl weil sie ein Zeichen der Zeit ist, als auch weil vielleicht in keiner Zeit ein so merkwürdiger Fall eintrat, daß im höchsten Lichte der Vernunft, des Verstandes, der Weltübersicht ein vorzügliches und höchstausgebildetes Talent verleitet wird sich zu verhüllen" (op. cit. 17). Der Gewinn der Dissertation besteht in dem Nachweis, daß die Abhebung des frühromantischen vom katholisch-ultramontanen Schlegel nicht angängig ist. Die Probleme, die ihren Kern in der Balance von perspektivischer Unendlichkeit und kommunikativer Vermittlung haben, bleiben für Schlegels Werk konstitutiv. Insofern führt die Dissertation über zwei ältere Linien der Schlegel-Forschung hinaus: über die "fromme" Deutung von Schlegels Konversion durch katholische Forscher und über jene Deutungen, die im "katholischen Schlegel" einen intellektualgeschichtlichen Unglücksfall sehen.