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Ausgabe:

März/1999

Spalte:

315–318

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Berlin, Isaiah

Titel/Untertitel:

Der Magus in Norden. J. G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus. Hrsg. v. H. Hardy. Aus dem Engl. übers.von J. Hagestedt.

Verlag:

Berlin : Berlin Verlag 1995. 203 S. 8. Pp. DM 38,-. ISBN 3-8270-0140-4.

Rezensent:

Georg Baudler

Es gibt in Deutschland einen Kreis von Hamann-Forschern um den Regensburger Germanisten Bernhard Gajek, der sich immer wieder auch zu Symposien über Fragen der Hamann-Interpretation trifft. Das hier vorliegende Buch des bekannten und für seine Schriften mehrfach preisgekrönten englischen Geistes- und Ideengeschichtlers Isaiah Berlin steht zu diesem Kreis in keiner Verbindung. Das Buch geht auf einen Text zurück, den B. 1965 für eine Vorlesungsreihe an der Columbia-Universität in New York zum Titel Two Enemies of the Enlightenment ("Zwei Gegner der Aufklärung") gehalten hat.

B. hat unter diesem Titel Johann Georg Hamann und Joseph de Maistre nebeneinander gestellt. Die Ausführungen über Joseph de Maistre sind in dem zuletzt in Deutschland erschienenen Essay-Band von B. Das krumme Holz der Humanität (Frankfurt a. M. 1992) unter dem Titel "Joseph de Maistre und der Ursprung des Faschismus" veröffentlicht worden. Offenbar hat B. in seiner Vorlesungsreihe auch Johann Georg Hamann unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Dies kommt in dem vorliegenden Band auch tatsächlich mehrmals zum Ausdruck. Er hebt Hamanns Kritik an dem jüdischen Berliner Philosophen Mendelssohn hervor und schreibt, Hamann prangere den Kreis um Mendelssohn in der Hauptstadt Berlin an, "weil er von weltlicher, liberaler - d. h. positiver, kritischer, atheistischer, analytischer, zersetzender - Kultur beherrscht sei" und fügt hinzu, eine Kritik dieser Art finde sich später auch bei de Maistre "und in der gesamten antirationalistischen, antisemitischen Literatur des 19. Jahrhunderts, bis sie im österreichisch-deutschen Rassismus und im Nationalsozialismus schließlich zu gewaltsamer Hysterie wird" (82).

Hamann, so schreibt B., verkörpere "als einer der ersten" eine "Verbindung von Populismus und Obskurantismus", und er fährt fort: "Diese Art reaktionären Demokratismus, die Einheit von Intellektualismus und Identifikation mit den Massen findet sich später sowohl bei Cobbett als auch bei den deutschen Nationalisten der Napoleonischen Kriege, sie ist einer der bestimmenden Züge der christlich-sozialen Partei Österreichs, der chauvinistisch-klerikalen Politik im Frankreich der Jahrhundertwende und später im Faschismus und Nationalsozialismus, in den sich diese Strömungen teilweise ergossen" (146). Hamann war für B. "ein Fanatiker" (162), der bisweilen in einen "blinden Obskurantismus" (161) verfällt, wobei bei ihm ein "Haß auf kritisches Denken, auf letztlich jedwede geistige Tätigkeit" (162) ausbricht. Von hier aus kommt dann B. wieder zu der von ihm ins Auge gefaßten geistesgeschichtlichen Linie: "Diese Verachtung und diese blinde Unvernunft haben jene Strömung genährt, die vor allem in Deutschland in unserem Jahrhundert zu gesellschaftlichem und politischem Irrationalismus geführt hat ..." (163).

So sehr sich der Hamann-Kenner und an Hamann Interessierte darüber freut, daß sich ein Experte der europäischen Geistesgeschichte wie B. mit Hamann beschäftigt und wie perspektiven- und kenntnisreich seine Studie auch im ganzen ist, diese der Studie insgesamt zugrunde liegende geistesgeschichtliche Einordnung Hamanns ist eine willkürliche Konstruktion, die nicht entschieden genug zurückgewiesen werden kann. In ihr kommt genau jene Geisteshaltung zum Tragen, die Hamann in allen seinen Schriften kritisiert hat und deren Kritik - wie dies B. an vielen Stellen seines Buches durchaus auch selbst zugibt - Hamanns geistesgeschichtliche Bedeutung ausmacht: ein Denken, das nicht bei den vorfindbaren Phänomenen ansetzt und versucht, diese aus sich selbst zum Sprechen zu bringen, sondern von vorgefaßten Systematisierungen ausgeht und dann die Phänomene in die vorgefertigten Raster des Systems hineinzwängt. Nur so ist es auch zu verstehen, daß B. in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt, er wisse zwar, daß "vor allem in Deutschland viel über Hamann geforscht worden ist" und er hätte sich auch "zu einigen der jüngeren Darstellungen Hamanns geäußert", wenn er das Buch erst jetzt geschrieben und nicht auf seine jahrzehntealten Texte zurückgegriffen hätte, dann aber global ausführt, diese Arbeiten hätten ihn nicht überzeugt und er hätte andernfalls der Veröffentlichung seiner Darstellung in der vorliegenden Form nicht zugestimmt (9 f.).

Inhaltlich geht er nur auf die Unterscheidung des amerikanischen Hamann-Forschers J. C. O’Flaherty ein, der in Übereinstimmung mit der angesprochenen deutschen Hamann-Forschung zwischen einer diskursiven und einer intuitiven Vernunft unterscheidet und in Hamann zwar einen leidenschaftlichen Gegner der diskursiven, aber einen ebenso engagierten Vertreter der intuitiven Vernunft sieht. B. lehnt in seinem Vorwort diese Unterscheidung ab, obwohl sie sich, wie er selber ausführt, zwar nicht wörtlich, aber doch sachlich eindeutig in Hamanns Schriften findet und obwohl viele Hamann-Forscher sie zum Schlüssel ihrer Hamann-Interpetation gemacht haben. Willkürlich definiert er den Begriff der "diskursiven Vernunft" so weit, daß damit jegliche Art rationalen Denkens und rationaler Methodik verstanden und Hamann global als Gegner dieser Vernunft, ja als "Vater der Gegenaufklärung" (14) bezeichnet werden kann. Von diesem willkürlich festgelegten Vernunftbegriff aus kann er "nicht erkennen, inwiefern jüngere Interpretationen des Hamannschen Denkens ... meine zentralen Thesen anfechten", und - selbst ziemlich irrational - beschließt er sein Vorwort mit dem Diktum: "Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben; möge der kritische Leser es gelten lassen oder verwerfen" (ebd.).

Dieses apodiktische, durch ein negatives Vorurteil festgelegte Herangehen B.s an Hamann ist um so bedauerlicher, als B. in seiner Studie nicht nur als versierter Kenner der europäischen Geistesgeschichte, sondern ebenso als guter Hamann-Kenner sichtbar wird. Sein Kapitel über das Sprachverständnis Hamanns (über das ich selbst gearbeite habe)1 zeichnet in wenigen, aber ungemein treffsicheren Strichen Hamanns Einsichten in das Wesen der Sprache nach und kennzeichnet diese Erkenntnisse in ihrer philosophiegeschichtlichen Bedeutung: "Hamann ist einer der ersten Denker, die sich darüber im klaren sind, daß das Denken der Gebrauch von Symbolen ist, daß es ein nicht symbolisches Denken, d. h. ein Denken ohne Symbole ... nicht geben kann" (108, Hervorhebung von B.). Auch die Zusammenfassung von Hamanns Denken, wie B. sie im Anhang auf knapp drei Seiten gibt, trifft erstaunlich genau das Wesentliche und faßt ungemein kompakt zusammen. Um so verwunderlicher erscheint es dem Leser, daß der Autor Hamann, dessen Denken auf eine so überschaubare und in sich konsistente Weise dargestellt ist - wobei die Einsicht in den sprachlichen Charakter der Vernunft die Grundlage bildet (vgl. 120) -, dann in anderen Passagen des Buches als blinden Fanatiker und Irrationalisten bezeichnet.

Der tiefere Grund dafür, daß ein so kenntnisreicher Geisteshistoriker wie B. völlig verfehlt eine geistesgeschichtliche Linie von Hamann zum Faschismus und Nationalsozialismus ziehen konnte, liegt im Unverständnis B.s für die religiöse Wurzel des Hamannschen Denkens. B. gibt dies durchaus zu: "Es gibt weite Bereiche in Hamanns Schriften - in erster Linie natürlich die religiösen Ideen, die im Zentrum all dessen stehen, was er war, fühlte und glaubte -, die zu untersuchen ich mich nicht kompetent fühlte ..." (9). Hier bleibt zu fragen, wie jemand, der sich für die Untersuchung der Ideen, die, wie von ihm selber erkannt, im Zentrum eines Denkers stehen, "nicht kompetent" fühlt, dann über eben diesen Denker doch so kategorische Werturteile fällen und seinen geistesgeschichtlichen Ort so dezidiert bestimmen kann.

Wenn die "religiösen Ideen" - ich sage treffender: die religiöse Erfahrung -, wie alle Hamann-Forscher (einschließlich B. selbst) zugeben, die Wurzel des Hamannschen Denkens ist, dann kann ich nicht - schon gar nicht wertend - über Hamann schreiben, ohne seine Londoner Erfahrung und die daraus erwachsenen Biblischen Betrachtungen in den Blick zu nehmen. Hätte B. dies auch nur ansatzhaft getan - es wäre dazu über ein menschliches Einfühlungsvermögen hinaus keine größere theologische oder religiöse Kompetenz notwendig gewesen -, wäre B.s Urteil anders ausgefallen. Er hätte in diesen "Betrachtungen" Hamanns gelesen, daß dieser sich von seinem grundlegenden Denkansatz aus nicht gegen die menschliche Vernunft als solche richtet, sondern gegen die "Turmbauten menschlicher Vernunft" (Werke I, S. 30, 32 f.), d. h. gegen ein Denken, das nicht bei den wahrnehmbaren Phänomenen ansetzt, sich von diesen inspirieren und die Kategorien vorgeben läßt, mit deren Hilfe eine (dann sachlich begründete) Ordnung und Zusammenschau der betrachteten Wirklichkeit möglich ist, sondern von einem vorgefaßten gedanklichen System ausgeht und die Phänomene in die sachlich unbegründeten Ordnungskategorien dieses vorgefaßten Systems hineinpreßt - was nur möglich ist, indem ich den Phänomenen dabei ihre Lebendigkeit und ihren Eigencharakter nehme und sie nach dem Muster aufgespießter - d. h. getöteter - Schmetterlinge in eine Reihe ordne.

Diesem willkürlich vereinnahmenden Akt des Denkens, dieser "Usurpation" (vgl. Werke III, 225,10; 384,6), setzt sich Hamann entgegen, und an diesem Widerstand hält er fest, obwohl er dadurch die Zuwendung seiner einflußreichen Gönner und Freunde verliert und sein Leben als Packhofverwalter in Königsberg verbringen muß. Die in großer äußerer Not und innerer Einsamkeit vollzogene Londoner Bibellektüre hat Hamann die Einsicht vermittelt, daß das solchermaßen auf Usurpation ausgerichtete Denken und Sein des Menschen der Ursprung menschlicher Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit ist. Ein solches Denken, nicht aber die in ihrem Wesen als Sprache verstandene Vernunft, führt zu Kreuzigungen, mit denen der Widerstand der Wirklichkeit gebrochen werden soll. Hamann hört in London die Stimme des Gekreuzigten "als die Stimme eines erschlagenen Bruders", die in seinem Herzen jammert und seufzt (vgl. die Beschreibung seiner grundlegenden religiösen Erfahrung in Werke II, 40,37-41,15).

Wenn diese Erfahrungen und Einsichten nach der übereinstimmenden Ansicht der Hamann-Forscher (einschließlich B.s) "im Zentrum all dessen stehen, was er [Hamann] war, fühlte und glaubte" (B. 9), dann ist es absurd, Hamanns Denken mit Faschismus und Nationalsozialismus jedweder Art in eine positive Verbindung zu bringen. Das Kennzeichnende des Faschismus besteht ja gerade darin, aus Machtinteresse heraus ein willkürliches System zu errichten und mit brachialer Gewalt alles diesem willkürlich errichteten System unterzuordnen. Der von Hamanns Denken beeinflußte Mensch hört - wenn er dieses Denken nicht gewaltsam von seiner religiösen Wurzel losreißt - immer und überall die Stimme des erschlagenen Bruders, gerade und dort, wo dieser faschistischen Systemen zum Opfer fällt, und er stellt sich auf dessen Seite.

So muß der geistesgeschichtliche Ansatz von B.s Hamann-Buch als gänzlich verfehlt bezeichnet werden, auch wenn in dem Buch im einzelnen viel Richtiges und Bedenkenswertes und Informativ-Kompaktes über Hamann gesagt wird.

Fussnoten:

1) Vgl. G. Baudler, "Im Worte sehen". Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn 1970.