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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

651 f

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Harrisville, Roy A., and Walter Sundberg

Titel/Untertitel:

The Bible in Modern Culture. Theology and historical-critical Method from Spinoza to Käsemann.

Verlag:

Grand Rapids: Eerdmans 1995. XI, 282 S. gr. 8 Kart. $ 20.-. ISBN 0-8028-0873-5.

Rezensent:

Otto Merk

Diese Untersuchung ist der alten Frage gewidmet, wie notwendige historisch-kritische Erforschung die biblischen Schriften, als Zeugnisse weckenden Glaubens entstanden und verstanden, methodisch bearbeiten kann. Auf einen kurzen Nenner ge-bracht: Der garstige Graben zwischen Theologie als Wissenschaft und Glaube wird von den beiden Vff. erneut diagnostiziert und zugleich ein Rezept verordnet, das als Heilmittel den sachgemäßen Umgang mit historischer Kritik, durch die For-schungsgeschichte als Lernprozeß ausgewiesen, anbietet.

Das Grundübel ist nach den Vff., daß sich durch die Epoche der Aufklärung und seitdem die theologische Forschung - weit gefaßt auch Philosophie einbezogen - "in Modern Culture" ergangen und der jeweiligen Weltsicht, alias Zeitgeist, sich in ungewöhnlicher Weite geöffnet und gleichzeitig das Verstehen der Schrift als Glaubenszeugnis vernachlässigt bzw. preisgegeben hat. Es sind darum auch forschungsgeschichtlich zu unterscheiden: Einerseits eine Traditionslinie, die durch die Aufklärung bestimmt ist, andererseits eine solche, in der das biblische Zeugnis seit Augustin als Entfaltung des Heilsgeschehens auch wissenschaftlich-kritisch so ausgelegt wird, daß dies dem Glaubensverständnis der Kirche dient.

Beide Vff. sehen für ihre Fragestellung im Weg der theologischen Forschung im deutschen Protestantismus seit der Aufklärung die notwendigen Anhaltspunkte gegeben. Vorzüglich ausgewiesen in der dafür einschlägigen theologischen Forschung vermitteln sie in ihrer Darstellung einen kenntnisreichen und diskussionswürdigen Überblick, der für den amerikanischen Adressatenkreis als eine wichtige Einführung in die protestantische Theologiegeschichte anzusehen ist und der auch im deutschsprachigen Raum Beachtung finden sollte.

In einem gedrängten Durchgang wird in Kap. 1 zunächst die anstehende Fragestellung von der vorkritischen Periode bis in das 20. Jh. hinein auch in ihrer Wechselbeziehung erörtert, zugleich aber schon hier das Gefälle der beiden Linien abgesteckt: Die ,negative' ist mit der Aufklärung verbunden, die ,positive' mit Augustin, Luther, M. Kähler u. a. (10-31). In den weiteren Kapiteln wird zunächst B. Spinoza als der geistige Ahnherr des deutschen Rationalismus gewürdigt (Untertitel des Kap. 2: "The Emergence of Rationalist Biblical Criticism", 32), anschließend H. S. Reimarus (Kap. 3), um dann gleich zu Schleiermacher (Kap. 4), D. F. Strauß (Kap. 5) und F. C. Baur (Kap. 6) weiterzugehen. Es folgen J. C. K. v. Hofmann (Kap. 7), E. Troeltsch (Kap. 8). Hier einen Einschnitt in der Darstellung zu sehen, ist insofern berechtigt, als in Kap. 9 der amerikanische ,Fundamentalismus' unter besonderer Berücksichtigung von J. G. Machen (1881-1937, u. a. Schüler von W. Herrmann, A. Jülicher und J. Weiß in Marburg) und seinem bedeutenden Einfluß auf das dortige kirchliche wie wissenschaftlich-theologische Denken entfaltet wird. Die beiden abschließenden, Persönlichkeiten gewidmeten Kap. 10 u. 11, gelten "Rudolf Bultmann. Biblical Scholarship in Crisis and Renewal" (203 ff.) und "Ernst Käsemann. Biblical Theology under the Cross" (238 ff.), die unter verschiedenen Aspekten und in zu differenzierender Weise nach Meinung der Vff. ihr Anliegen am klarsten erkannt und in ihrem Lebenswerk die anstehende Problematik zu lösen gesucht haben. In einem abrundenden Kap. 12 "Two Traditions of Historical Criticism" (262 ff.) wird festgehalten, daß nicht die Linie "I. The Enlightenment Tradition" (Spinoza, Reimarus und ihre Entfaltung wie Weiterführung bei Schleiermacher, Strauß, Baur und Troeltsch) in ihrer je zeit- und gegenwartsverhafteten Kritik der Schriftauslegung dem Verstehen des Glaubensgrundes diene, sondern daß dies der Linie "II. The Augustinian Tradition" (Luther, v. Hofmann, Macher, Bultmann, Käsemann) zugehöre ("Historical Criticism pursued for the purpose of expositing what the Bible says is the hallmark of the work of Bultmann and Käsemann", 270).

Die einzelnen Kapitel verraten profunde Kenntnisse der Vff. Die Darstellung ist sehr lehrreich, und doch ist ihr Wert für die Fragestellung des Buches begrenzt, weil das eigentliche Thema bei den angeführten Theologen (abgesehen von Bultmann und Käsemann) meist zu wenig und auch nicht differenziert genug angegangen wird. Das Bild, das die verästelte Forschung allein in der deutschen Aufklärung bietet, die ohne die Ergebnisse vor allem auch der englischen Aufklärung nicht in ihrer Tiefenschärfe erfaßt werden kann (was die Vff. zu allgemein nur er-wähnen), ist in vorliegender Untersuchung zu ausschnitthaft ge-boten (trotz 1 ff.4 ff.) und ohne J. S. Semler, J. G. Eichhorn und die Beiträge der ,Neologen' für die anstehende Problematik kaum voll in den Griff zu bekommen. Hätten die Vff. - als Beispiel angeführt - die umfassende Diskussion um ,Rekonstruktion und Interpretation' in ihrem Verhältnis zueinander unter Be-rücksichtigung der ihr inhärenten Implikationen in der Spätphase der deutschen Aufklärung eingebracht, würde die Nachzeichnung der beiden Traditionslinien ,historischer Kritik' anders ausgefallen sein, würde die nachwirkende gegenseitige kritische Beeinflussung derselben im 19. Jh. (etwa bei F. C. Baur) und die differenzierter zu sehende nachbaursche Ära deutlicher auch das zur Geltung bringen, was die Vff. als theologischen ,Liberalismus' wohl doch zu allgemein einschätzen - verbunden mit der Konsequenz, daß ,historische Kritik' und ,Historismus' in je ihrer Eigenbewegung noch tiefgreifender sind, als die Darstellung gleichwohl bedenkenswert hervorhebt (155 ff.). So wird man auch die beiden Traditionslinien im Gesamtwerk von Bultmann und Käsemann stärker in ihrem Ineinander zu sehen haben, da für diese beiden Theologen in ihrem hermeneutischen Anliegen sachkritisch fundierte exegetisch-theologische Arbeit ,Glauben und Verstehen' einschließt.

Bei auch notwendigen Anfragen handelt es sich um ein wichtig orientierendes, Anstöße vermittelndes Werk, das seinen Ge-genwartsbezug im unabgeschlossenen Gespräch zwischen hi-storisch-kritischer Forschung und Kirche hat.

Errata: S. 226: Ernst Fuchs ist nicht Lehrstuhlnachfolger Bultmanns in Marburg; S. 282: lies: Wickert, Ulrich.