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Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

415–430

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U.

Titel/Untertitel:

"Was Gott ist, bestimme ich!"
Theologie im Zeitalter der "Cafeteria-Religion"(1)

I

Wir leben in der Endphase eines kulturgestützten Christentums, keineswegs aber in einer säkularen Welt. Die christlichen Kirchen verlieren an Bedeutung, aber die Nachfrage nach Religion ist stark. Zeitschriften wie Newsweek, Time, Spiegel oder Psychologie Heute belegen den Trend durch Titelgeschichten. Und der ist deutlich: Überkommene Kirchenlehre und traditionelle Frömmigkeitsstile werden abgelehnt, zugleich aber wächst die "Suche nach dem Heiligen"(2), die Sucht nach religiösem Erleben und die "Flucht ins Spirituelle"(3). Ein Drittel aller erwachsenen Amerikanerinnen und Amerikaner berichtet Newsweek zufolge von religiösen oder mystischen Erlebnissen(4), ein Fünftel hat das Gefühl, Gott habe sich ihnen im vergangenen Jahr geoffenbart, und ein Achtel spürte die Gegenwart von Engeln.(5) In Deutschland ist es ähnlich: Jeder siebte glaubt an Magie und Hexerei, jeder dritte hält die Zukunft für vorhersagbar, und hat der Spiegel recht, dann bieten mehr Hellseher und Wahrsager ihre Dienste an als alle evangelischen und katholischen Geistlichen zusammen.(6) Wie immer das hierzulande sein mag, es ist unbestreitbar: Nicht die Religion hat ihre Faszination verloren, sondern die Kirche ihre Bindungskraft.

Die Entwicklung spiegelt ein fundamentales Problem des neuzeitlichen Umgangs mit Religion. Ihm verdankt sich ein Gutteil der gegenwärtigen Schwierigkeiten der christlichen Kirchen, während umgekehrt die postchristlichen Privat-Religionen mit ihrer subjektivistischen Selbstbedienungsmentalität gerade davon profitieren. Beides signalisiert, daß wir am Ende der Aufklärung oder vielleicht auch am Anfang des Aufbruchs in eine weitere Aufklärung stehen mit noch nicht absehbaren Folgen für Kirche und Theologie. Wie soll sich die Theologie - nur nach ihr frage ich hier - in dieser Umbruchsituation verhalten? Wie kann sie ihre Aufgabe, den christlichen Glauben denkend zu verantworten(7), heute verantwortlich wahrnehmen - heute, im Zeitalter der Cafeteria-Religion, wie Newsweek das kürzlich nannte(8)?

II

Man wird das nicht beantworten können, ohne sich des ambivalenten Erbes der ersten Aufklärung zu erinnern, von dem die mit dieser Formel angesprochene Problemlage zehrt: der Auffassung der Religion als Privatsache. Diese Auffassung ist fundamental zweideutig, weil sich in ihr zwei sachlich und historisch verschiedene Perspektiven überlagern. Die eine bestimmt Religion im Kontrast zur staatlich regulierten Öffentlichkeit, die andere im Kontrast zur öffentlichen Allgemeinheit der Vernunft. Religion fällt nicht in die Regelungskompetenz des Staates, lautet die eine, Religion ist privat, Vernunft öffentlich die andere vielfach variierte These der Aufklärung. Das bringt nicht nur zwei Begriffe von Öffentlichkeit ins Spiel, die bis in die Gegenwart nicht nur in Frankfurt immer wieder vermischt werden: die gesellschaftlich-politische Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit des rationalen Diskurses. Auch die Privatheit der Religion wird ganz verschieden verstanden und gewertet, nämlich im einen Fall positiv als Freiheit von staatlichem Zwang, im anderen dagegen negativ als Unfähigkeit zur Verantwortung vor dem Forum der Vernunft. Die heutige Problemlage ist Folge der unkritischen Verbindung beider Sichtweisen.

So wird Religion seit der Frühaufklärung als Privatsache verstanden, in die sich der Staat nicht einzumischen hat, solange sie nicht die öffentliche Ordnung stört(9): "Jedermann kann seine Religion oder seine Weltanschauung frei wählen und bekennen. Jedermann hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten, an einem religiösen Unterricht teilzunehmen oder eine religiöse Handlung vorzunehmen, doch darf niemand hierzu gezwungen werden..."(10) Das sind Grundrechte, die wir heute für selbstverständlich halten und historisch mit Recht als Gewinn verbuchen. 1175 Jahre lang, seit dem Religionsedikt von Theodosius dem Großen, war das Christentum allein geltende Staatsreligion in Europa, war Widerspruch gegen das kirchliche Dogma Verstoß gegen das Reichsrecht. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde dieses Alleingeltungsrecht nicht aufgehoben, sondern mit Hilfe des Prinzips cuius regio, eius religio nur der Realität der konfessionell gespaltenen westlichen Christenheit angepaßt. Religiöse Wahlfreiheit hatten auch jetzt nur die Landesherrn, nicht die Untertanen. Erst im Gefolge der Konfessionskriege wurde diese frühneuzeitliche Regelung einer für alle verbindlichen öffentlich-einheitlichen Staatsreligion durch zwei Prinzipien ersetzt: die institutionelle Trennung von Staat und Kirche und die individuelle Wahlfreiheit in Sachen Religion. Unter den damaligen historischen Bedingungen war das ein Fortschritt. Heute sehen wir deutlicher auch die Probleme:

Zum einen kannten beide Prinzipien nur den Gegensatz von Einzelnem und Allgemeinem(11), und das bedeutete eine erhebliche Verkürzung gesellschaftlicher Realitäten. So führte die Orientierung am Gegensatz von Individuum und Allgemeinheit zwar zur Propagierung individueller Menschenrechte, verhinderte aber, die Rechte religiöser, kultureller oder ethnischer Minderheiten als Gruppenrechte zu schützen, und genau das steht heute im Zentrum der religiösen und kulturellen Konflikte nicht nur hier in Europa.(12)

Zum anderen ging es darum, daß der Staat keinen Einfluß auf die religiösen Überzeugungen und die Religionspraxis seiner Bürger haben kann und darf: Der Staat ist religiös neutral, und die Einzelnen sind in ihren religiösen Aktivitäten vor dem Staat geschützt.(13) Heute dagegen ist aus dieser Nichtstaatsangelegenheit der Religion eine reine Privatangelegenheit im Sinne einer beliebig wählbaren Option geworden, die man auch ganz ignorieren kann, ohne gesellschaftliche Sanktionen befürchten zu müssen. Dabei besteht die Wahl schon lange nicht mehr nur darin, sich zwischen einer christlichen Kirche oder Konfession oder gar keiner Religion entscheiden zu müssen. Migration, Mission und Massenmedien haben in unserer Gesellschaft zu einer Situation geführt, die jedem und jeder erlaubt, sich ein eigenes Sinn-Menü aus einem reichhaltigen und unüberschaubaren religiösen Angebot zusammenzustellen: Versatzstücke der Weltreligionen und Naturmythen, streßmindernde Meditationsrituale und esoterische Spekulationen, ein Häppchen Buddhismus und etwas Mystik nach Feierabend - das alles gehört zur ,Cafeteria-Reli-gion' der Gegenwart. "Was Gott ist, bestimme ich!" lautet die Devise, sofern dabei überhaupt noch von Gott die Rede ist, und diese Devise wird nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der christlichen Kirchen ausgiebig gelebt.

Was in der Aufklärung als Befreiung des religiösen Gewissens aus obrigkeitsstaatlicher Bevormundung begann, ist damit heute zur "Ideologie von der bloßen Privatheit religiös-weltanschaulicher Überzeugungen"(14) verkommen, wie E. Herms nicht zu Unrecht moniert. Zu dieser Ideologie gehört nicht nur, daß gerade in religiösen Angelegenheiten der einzelne aus der öffentlichen Rechenschaftspflicht entlassen und damit in der Illusion belassen wird, in diesem sensiblen Bereich niemandem als nur sich selbst verantwortlich zu sein. Zu ihr gehört auch eine Mentalität religiöser bricolage, die den Wirklichkeitsbezug von Religion und die Wirklichkeitswahrnehmung des Glaubens systematisch verkennt. "Da die Realität schlechthin unsere Schöpfung, Produkt unserer Fiktionen ist", heißt es etwa im Anschluß an den sich radikal dünkenden Konstruktivismus, seien auch Religion, Glaube und Gebet "sozusagen als autosuggestive... Fiktionsverstärker rehabilitiert".(15) Und in einer jüngst durchgeführten Jugenduntersuchung ist zu lesen: "Ich hab' mir meine eigene Religion zusammengezimmert... Denn: wenn du überall'n bißchen Wahrheit rausnimmst, dann hast du die absolute Wahrheit - nämlich deine Wahrheit".(16) Das Motto ist klar: "Was Gott ist, bestimme ich!" Doch ob das wirklich Gott ist, was so bestimmt wird, und ob Gott wirklich so ist, wie er bestimmt wird, wird nicht gefragt. Diese Fragen spielen keine Rolle, weil ihnen keine Antwort zugetraut wird, die mehr wäre als ein neuer (oder alter) Meinungsmix: In Sachen Religion und Glaube scheint die öffentliche Meinung heute allenfalls noch Geschmacksfragen zu kennen.

Das ist die Folge der anderen Aufklärungsthese, die das gesellschaftspolitische Verständnis der Privatheit von Religion aus der Frühzeit der Aufklärung überlagert hat. Religion ist privat, Vernunft dagegen öffentlich. Nur eine den kritischen Vernunftprinzipien genügende natürliche Religion verdient einen Platz in der Öffentlichkeit, positive Religionen mit ihren autoritäts- und offenbarungsabhängigen Partikularansprüchen haben dort nichts verloren - im Grunde auch nicht die Kirchen, die als organisierte Formen privater religiöser Überzeugungen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit allenfalls durch ihren sozialen Beitrag zum Gemeinwohl eine Funktion beanspruchen können, und dieser Erwartung auch bis in die jüngsten Debatten hinein eifrig zu genügen suchen.

Doch was im 18. Jh. als kritische Einschränkung religiöser und kirchlicher Ansprüche durch die öffentliche Vernunft be-gann, sich im 19. Jh. als vager, die Werte der bürgerlichen Welt fundierender Gottesglaube in volkskirchlichen Strukturen stabilisierte und bis in die Gegenwart im unspezifischen Theismus der Rede von Gott in unseren Verfassungen nachklingt, ist heute zur unkritischen Entbindung religiöser Überzeugungen von jeder öffentlichen Rechenschaftspflicht geworden. Jeder kann glauben, was er will, und muß das vor keiner Öffentlichkeit, sondern allenfalls noch vor sich selbst rechtfertigen.

Damit ist das Aufklärungsprojekt zur Unkenntlichkeit pervertiert. Bei aller Vielfalt der Ansätze bestand dieses ja in dem Versuch, ohne Rekurs auf äußere Autoritäten oder private Vorlieben das, was wir wissen können, tun sollen und hoffen dürfen, allein durch den Gebrauch unserer Vernunft innerhalb der Grenzen des Erfahrbaren zu bestimmen.(17) Leitgedanke war dabei ein Konzept der Rationalität, das auf Neutralität, Universalität und Öffentlichkeit setzte: Nur das ist rational, was sich ohne Bindung an einen bestimmten Standpunkt (also neutral) und unter Absehung von allen partikularen Interessen, die unsere Perspektive begrenzen und beeinträchtigen könnten (also universal) vor den kritischen Augen und Ohren aller (also öffentlich) vertreten läßt. Was so in der Öffentlichkeit eines kritisch räsonierenden Publikums - und darauf wird der Begriff der Öffentlichkeit seit Habermas' Habilitationsschrift(18) meist und wider besseres Wissen weithin noch immer reduziert(19) - nicht vertreten werden kann, hat bestenfalls private Bedeutung, aber kein Recht auf öffentliche Anerkennung.

Auch Religion, Kirche und Theologie sollen sich so von einem traditionsfreien, konfessionsneutralen Standpunkt aus mit logisch gültigen und universal überzeugenden Gründen rechtfertigen, sofern sie öffentliche Geltung beanspruchen wollen. Doch was sind solche Gründe? Wer entscheidet über ihre Gültigkeit? Die Öffentlichkeit? Wer oder was ist denn die Öffentlichkeit? Wie kommt sie zustande? Wer hat an ihr teil? Und wer setzt ihre Maßstäbe? Die Fragen signalisieren eine innere Aporie des Aufklärungsprojekts. Dieses lebt von einem normativen Öffentlichkeitsbegriff (der Öffentlichkeit der Vernunft, des common sense, der Verantwortung vor dem Allgemeinen), aber es setzte und setzt einen Prozeß der Ideologisierung der Öffentlichkeit frei, in dem immer wieder die jeweils faktische Öffentlichkeit einer schwer faßbaren ,öffentlichen Meinung'(20) oder eine idealisierte rationale Diskursgemeinschaft zur normativen Instanz stilisiert wird, vor der sich alle Ansprüche auszuweisen haben. Doch das Faktische ist nicht das Vernünftige, die öffentliche Meinung kein Gradmesser von Wahrheit, richtig nicht das, was gerade mehrheitsfähig scheint, und rational nicht nur das, was sich immer, überall und vor allen mit denselben Gründen vertreten läßt. Die Berufung auf Öffentlichkeit ist deshalb pseudokritisch, wo nur eine gegenwärtige Mehrheitsmeinung gemeint ist, sie ist abstrakt, wo sie unspezifisch an das Forum aller Denkenden appelliert, und sie wird zur Floskel, wo jeder nur noch sich selbst verantwortlich ist.

Gerade das letzte aber gilt heute als liberales Credo im Blick auf religiöse Überzeugungen: Jeder kann glauben, was er will, und keiner ist einem anderen in seinem Glauben rechenschaftspflichtig. Das war nicht die Absicht der Aufklärung, ist aber eine Folge ihres Umgangs mit der Religion und ihres dabei vorausgesetzten Verständnisses von Vernunft und Öffentlichkeit. Das zeigt sich bis in die jüngsten Diskussionen um das Kruzifix-Urteil in der Bundesrepublik im Unvermögen, das Dilemma zwischen der (nur sozial-moralisch legitimierten) Öffentlichkeit der Kirche und der Privatheit der Religion zu überwinden und ein Konzept öffentlicher Verantwortung zu entwickeln, das den Begriff der Öffentlichkeit nicht abstrakt und kontextvergessen am Maßstab einer neutralen und universalen Beobachterrationalität orientiert, sondern die Vielzahl partikularer Kommunikationsweisen und positioneller Kommunikationsvollzüge be-rücksichtigt, durch die Öffentlichkeiten von Beteiligten konkret konstituiert werden. Denn wenn Religion wesentlich partikular, positionell und privat sein soll, Rationalität aber ebenso we-sentlich universal, neutral und öffentlich, wie sollen sich religiöse Überzeugungen dann jemals rational rechtfertigen und öffentlich verantworten lassen? Wie sollte der Anspruch der Kirche in der Öffentlichkeit dann anders als gesellschaftlich-funktional legitimiert werden? Wie könnte es für die Theologie dann eine andere als eine funktional-kirchenbezogene und für ihr Reden von Gott etwas anderes als eine gesellschaftsgenetische oder allenfalls noch anthropologische Begründung geben? Und wenn sich all das als unzulänglich und unhaltbar erweist, wie etwa Falk Wagner im Blick auf die gegenwärtige Lage des Protestantismus nicht müde wird zu wiederholen(21), ist dann die Zeit für die evangelische Theologie und Kirche abgelaufen? Haben uns die Folgen der Aufklärung heute endgültig eingeholt? Bleibt uns dann wirklich nur noch die Alternative zwischen dem doch längst als ungangbar erwiesenen Weg zurück zur liberalen Kulturtheologie à la Troeltsch, den Wagner wider besseres Wissen empfiehlt, oder der resignierenden Einsicht, daß zwischen Unglauben, Glauben und Aberglauben rational kein Unterschied besteht und es allenfalls um private Ge-schmackspräferenzen geht?

Selbst wenn es wirklich nur eine Geschmacksfrage wäre - auch über Geschmack kann und muß man streiten. Christlicher Glaube jedenfalls ist etwas anderes als religiöse Sinnbefriedigung in Selbstbedienungsmentalität, wenn anders das erste Gebot in seiner christologischen Konkretion für Christen Geltung behalten soll.(22) Das muß die Theologie klarstellen, und sei es durch Konflikt und Kontroverse mit den Tendenzen ihrer Zeit und deren Reflex in den Kirchen. Die Schwierigkeiten, die die Theologie dabei gegenwärtig hat, rühren zumindest auch daher, daß ihre Problemstellungen und Argumentationsmuster immer noch weithin an den Anfragen der Aufklärungsvernunft und damit an einer anderen Problemlage orientiert sind. Das zeigt sich nicht nur an theologischen Entwürfen wie denen Pannenbergs oder Küngs, die ganz Fragestellungen der Moderne verpflichtet sind. Das zeigt sich auch an der verbreiteten, aber kurzsichtigen Bereitschaft, im Verständnis der Religion als Kontingenzbewältigungsfunktion der Gesellschaft eine theologisch hinreichende Antwort auf die Religionskritik des 19. Jh.s zu sehen. Und das zeigt sich schließlich auch noch dort, wo die unter dem diffusen Stichwort der Postmoderne geübte Kritik an der Einheitsideologie der Aufkärungsvernunft theologisch ausdrücklich begrüßt und das plurale Denken in Widerstreit und Differenz als Befreiung der Theologie aus "den Zwängen des dialektischen und szientistischen Monismus" der Moderne gefeiert wird.(23) Wo vieles möglich ist und nicht nur eines gilt und geht, scheinen in der Tat auch Glaube und Theologie wieder akzeptabel zu werden. Doch die Freude ist verfrüht, und die eilfertige Umarmung der Postmoderne durch einige Theologen zeigt nur, daß sie noch immer an obsoleten Fragestellungen orientiert sind: Nicht mehr die kritischen Anfragen einer universalistischen Einheitsvernunft sind heute die primäre Herausforderung, sondern der ungebremste religiöse Individualismus und hedonistische Subjektivismus, dem alles gleich gültig zu werden droht, solange es nur der eigenen emotionalen Befriedigung dient.(24)

Natürlich haben auch Theologen darauf zu reagieren begonnen, bezeichnenderweise zunächst vor allem in den USA. Aber sie haben das, wie der Kommunitarismus der Yale-Schule belegt, weithin auf einem Weg versucht, der selbst nur eine Variante dessen ist, was er kritisiert. Inwiefern?

III

Was und wie wir glauben, steht nicht in unserem Belieben. Schon in den Formulierungen unseres Glaubens hängen wir ab von anderen, von Traditionen, Geschichten und Lebensformen, die wir nicht geschaffen und erfunden haben. Würde das Prinzip "Was Gott ist, bestimme ich" buchstäblich ernst genommen, hätten wir uns nichts mehr zu sagen und könnten uns nicht mehr verstehen. Aber es kann so nicht ernst genommen werden. Das hat Wittgenstein mit seiner Kritik des Privatsprachenarguments dem philosophischen Bewußtsein des Jahrhunderts eingeprägt. Das haben Kulturanthropologen wie Clifford Geertz empirisch konkretisiert. Und das haben Theologen wie Charles Lindbeck zum theologischen Argument erhoben: Wie eine Kultur oder eine Sprache ist auch eine Religion "ein Gemeinschaftsphänomen, das die subjektiven Überzeugungen von Individuen formt und nicht primär eine Manifestation dieser subjektiven Überzeugungen ist".(25) Jede Religion ist eine sprachlich-kulturelle Matrix, die uns bestimmt und an die wir auch dann noch gebunden bleiben, wenn wir meinen, selbst zu bestimmen, was Gott ist und was wir glauben. Stets variieren wir kulturell Vorgegebenes und bleiben damit auf die Traditionen und Horizonte einer Gemeinschaft bezogen.

So weit, so gut. Aber Lindbeck und die Yale-Schule ziehen aus dieser richtigen Einsicht in den grundlegenden Gemeinschaftscharakter von Religion und die unbestreitbare Traditionsbindung gelebten Glaubens problematische Folgerungen. So werden Religionen als umfassende sprachlich-kulturelle Systeme beschrieben(26), die durch ihre Mythen, Lehren, Riten und Verhaltensnormen das Erfahren, Denken und Verhalten, die Weltsicht und das Selbstverständnis ihrer Mitglieder durchgängig prägen.(27) Christen, so heißt es, sprechen ihre eigene Sprache, befolgen ihre eigenen moralischen und alethischen Regeln, die im begrifflichen Rahmen ihrer biblischen Wirklichkeitsperspektive angelegt sind, und leben so in ihrer eigenen Welt, die sich grundlegend von den Welten anderer Religionen und der sie umgebenden Welt der säkularen Kultur unterscheidet.

Doch mit dieser einseitigen Betonung der Eigenständigkeit und des umfassenden Charakters der christlichen (und jeder anderen religiösen) Wirklichkeitsperspektive wird die Differenz zwischen Innen und Außen, der Welt der Christen und den Welten anderer in fragwürdiger Weise prinzipialisiert. Es gibt hier nur ein Entweder-Oder, das aber - und das ist die theologische crux - gerade nicht als eschatologische (also in jeder Kultur sich stellende), sondern als kulturelle Alternative gefaßt wird: Christen, so Lindbeck, können ihr Anliegen nicht in der ,fremden Sprache' der sie umgebenden säkularen Kultur zur Geltung bringen, ohne es zu verfälschen. Wer sie verstehen will, muß sich auf ihre Sprache einlassen, nicht umgekehrt.(28) Zwar sollen und müssen sie sich mit den Fragen und Problemen ihrer Zeit und Umwelt auseinandersetzen, aber sie können und dürfen ihre christliche Perspektive dabei nicht verlassen. Sie sollten daher nicht länger den Versuch liberaler Theologen fortsetzen, die biblisch-christliche Sicht vor der modernen Welt zu rechtfertigen, sondern zu der "alten Praxis"(29) zurückkehren, ihre kulturelle Umwelt deutend in die biblische Weltsicht einzubeziehen, diese also über ,dichte Beschreibungen' auf alles auszudehnen, so daß kein ihr fremdes Außen mehr bleibt.(30) Nicht Rechtfertigung, sondern Werbung, Deutung und Neubeschreibung seien der sachgerechte Bezug der Christen auf ihre kulturelle Umwelt. Das ist kulturell freilich nur dann signifikant, wenn es massenhaft geschieht. Und so endet Lindbeck nicht von ungefähr mit dem Wunsch: "May their tribe increase".(31)

Man hat diese Auffassung als postmoderne Tribalisierung des Glaubens im Licht eines funktionalen Religionsbegriffs und eines halb- und deshalb falsch verstandenen Wittgensteinischen Begriffs der Lebensform kritisiert(32): Religion wird als Funktion der Gesellschaft begriffen, Glaube als Funktion geschichtlich gewachsener Gemeinschaften, die als eigenständige Lebensformen beschrieben und samt ihrer spezifischen Rede von Gott "intratextuell", d. h. allein aus sich selbst zu verstehen gesucht werden. Und in der Tat: Wird der egozentrische Individualismus einer Privatperspektive "Was Gott ist, bestimme ich" hier nicht nur durch den gemeinschaftszentrierten Individualismus einer Gruppenperspektive "Was Gott ist, bestimmen wir" er-setzt? Und führt das nicht genau in die gesprächsunfähige Entgegensetzung partikularer Totalperspektiven, aus der die Aufklärung mit dem Konzept einer neutralen und universalen Beobachterperspektive einen Ausweg suchte?



Unbestreitbar ist Religion mehr als private Überzeugung und Glaube anderes als subjektives Erleben: Er ist gemeinschaftliche Lebenspraxis und damit konkret nur in Gemeinschaftszusammenhängen. Wo Glaube in fragwürdiger Zuspitzung subjektzentrierter Tendenzen der Moderne primär oder ausschließlich über privates Erleben und subjektives Empfinden definiert wird, müssen christliche Kirchen Schwierigkeiten bekommen. Sie sind keine Erlebnisgemeinschaften und kein Zusammenschluß religiös Gleichgesinnter. Sie beruhen weder auf gegenseitiger Sympathie noch auf übereinstimmenden Empfindungen. Aber sie definieren sich auch nicht über den Konstruktionskonsens derer, die das, was Gott ist, zufälligerweise oder aus historisch-soziokulturellen Gründen in derselben Weise bestimmen.(33) Und sie erschöpfen sich auch nicht im öffentlichen Ge-brauch eines religiösen Symbolsystems, auf das eine Gesellschaft in der einen oder anderen Weise angeblich angewiesen ist. Gerade wenn diese funktionale Beschreibung zutrifft, ist sie zu wenig. Sie kennt nur historische Antworten auf die Frage nach dem Grund der konkreten soziokulturellen Gestaltung dieser Funktion. Und sie kann deshalb auch nicht vermeiden, die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gestaltungen, Traditionen oder Religionen in multikulturellen Gesellschaften zu einer bloßen Machtfrage werden zu lassen.(34)

Der Verweis auf Gemeinschaft und Gemeinschaftspraxis ist deshalb nicht genug. Niemand kann das, was Gott ist, einfach selbst bestimmen; doch das gilt für Gemeinschaften nicht weniger als für Personen. Niemand kann einen Glauben oder ein Gottesverständnis ausbilden und leben, ohne das in (positivem und negativem) Zusammenhang mit dem Glauben und Gottesverständnis anderer zu tun. Niemand glaubt für sich allein, auch wenn nicht jeder das glaubt, was auch andere glauben. Glaube ist wesentlich gemeinschaftliche Lebens- und Gottesdienstpraxis, aber das heißt nicht, daß nur die interne Öffentlichkeit einer Glaubensgemeinschaft zu berücksichtigen wäre. Durch den Gebrauch symbolischer Mittel, durch Zeichen, Medien und Sprachen ist diese in mannigfacher Weise mit anderen Öffentlichkeiten kulturell verbunden und vernetzt, gegen die sie sich nur aufgrund dieser Gemeinsamkeiten in ihrer Eigenart abgrenzen kann. Wir leben nicht in verschiedenen Welten, sondern wir sind permanent dabei, uns in der Kommunikation mit anderen gemeinsame Welten und dadurch auch unsere eigene Welt zu erschließen. Nur weil wir gemeinsame Welten haben, haben wir auch eine eigene, als einzelne und als Gemeinschaften.

Doch können nicht auch Gemeinschaften irren? Schützt öffentliche Kommunikation vor religiöser Illusion? Und kann nicht auch ein gemeinsames Gottesverständnis zu einer falschen Lebens- und Gottesdienstpraxis führen? Das sind Fragen, die mit dem Verweis auf eine durch eine solche Praxis bediente anthropologische oder gesellschaftliche Funktion nicht zu beantworten sind, weil sie normative Entscheidungen implizieren. Denn woran bemißt sich, ob ein Gottesverständnis oder die Gestaltung einer gemeinsamen Lebens- und Gottesdienstpraxis angemessen ist? Wie kann zwischen konkurrierenden Bestimmungen und Gestaltungen entschieden werden? Und was ist denn wahrer Gottesdienst?

Mit der kommunitaristischen Umstellung vom Einzelnen auf die Gemeinschaft ist das noch nicht beantwortet. Sicher, der Prozeß der Ausbildung und Erprobung eines eigenen Verständnisses in der Kommunikation mit Näheren und Ferneren ist keine Einbahnstraße. Es geht dabei weder nur um die Übernahme der Ansichten anderer (sondern um deren kritische Aneignung oder Ablehnung) noch ausschließlich um die Verantwortung meiner Überzeugungen vor dem Forum ihrer Meinungen - oder umgekehrt (sondern um die gemeinsame Suche nach der Wahrheit unserer Überzeugungen gemäß der Regel Kants "Andere sind nicht Lehrlinge, auch nicht Richter, sondern Collegen im großen Rathe der Menschlichen Vernunft"(35)). Ich bin nicht völlig frei zu bestimmen, was Gott ist, aber auch die anderen haben das richtige Verständnis nicht gepachtet - ob es sich nun um Christen, eine andere Religion oder die mehr oder weniger aufgeklärte ,öffentliche Meinung' handelt. Der Schritt vom Ich zum Wir, vom Subjekt zur Gemeinschaft, vom liberalen Individualismus zum postliberalen Kommunitarismus ist daher wichtig, aber nicht genug. Er beachtet die soziale Funktion des Glaubens und ist insofern einem abstrakt am Individuum ausgerichteten Religionsverständnis überlegen. Aber er geht letztlich(36) den Konsequenzen aus dem Weg, die sich daraus ergeben, daß der christliche Glaube beansprucht, von seinem Grund und Gegenstand bestimmt und damit wahrheits- und rechenschaftsfähig zu sein.

IV

Wie kann über den Schritt vom Individualismus zum Kommunitarismus hinaus weitergegangen werden, oder: Welcher Weg führt von Yale nach Zürich? Drei gängige Wege gewiß nicht, nämlich der Weg der Vormoderne, der Moderne oder der Postmoderne.

1. Auf dem ersten sucht jede Gemeinschaft ihre Auffassung anderen gegenüber durchzusetzen nach dem Motto "Was Gott ist, bestimmen wir". Andere Auffassungen haben sich dem anzupassen oder sind als religio falsa zu bekämpfen. Da keine Position allein aufgrund ihrer Setzung die Wahrheit besitzt, kann dieser Konflikt nicht argumentativ, sondern nur durch Mittel der Macht ausgetragen werden. Die können subtiler sein (und sind es heute meist auch) als die der Kreuzzüge, der Konfessionskriege oder der vielen Religionskriege bis in unsere Gegenwart. Aber auch dort, wo sich eine Seite durchsetzt, kommt so nur die Sicht der gerade Stärkeren zur Geltung.

2. Angesichts der menschenunwürdigen Folgen dieser nur auf politische, militärische, wirtschaftliche, rechtliche oder kulturelle Macht gegründeten Strategie des Stärkeren hat die Moderne auf den Weg der vernünftigen Allgemeinheit und des besseren Arguments gesetzt. Alle partikularen Positionen historischer Glaubensgemeinschaften haben in der allgemeinen Vernunft und gemeinsam überprüfbaren Erfahrung eine öffentliche Instanz, die auch in Sachen des Glaubens über Meinungskonflikte rational und neutral zu entscheiden erlaubt. Dabei mußte man allerdings - ohne zunächst die Implikationen zu sehen - die Sicht der Beteiligten durch die von Beobachtern ersetzen, Glaube als besonderen Fall von Religion beschreiben und praxisverwobene Glaubensüberzeugungen abstrakt als religiöse Meinungen behandeln, über deren Wahrheit oder Falschheit im Prinzip nicht anders zu entscheiden ist als über die wissenschaftlicher Meinungen. Dabei wurde übersehen, daß die Konzeption einer allgemeinen Vernunft und öffentlichen Erfahrung selbst nur eine bestimmte, unter kontingenten historischen Bedingungen ausgebildete Position und keineswegs eine neutrale und universale Instanz zur Beurteilung aller anderen Positionen ist. Vor allem aber verkannte man, daß der Universalismus einer konsequenten Beobachterperspektive strikt unmöglich ist: Kein Beobachter kann sich selbst nur beobachten, immer ist er auch Beteiligter. Der blinde Fleck des Beobachters bleibt prinzipiell uneinholbar: Wir sind, irgendwie und irgendwo, immer auch beteiligt.

3. Postmoderne Kritiker der Moderne sind freilich noch weiter gegangen. Sie haben nicht nur den Mythos einer einheitlichen und allgemeinverbindlichen Beobachtervernunft kritisiert, die gegenüber allen partikularen Auffassungen Gottes eine neutrale Entscheidungsinstanz darstelle. Sie haben vielmehr die Meinung suggeriert, daß über die Wahrheit oder Falschheit religiöser Überzeugungen weder entschieden werden könne noch müsse. Die (vorsichtigeren) einen begründen das damit, daß religiöse Überzeugungen wie Geschmacksurteile allenfalls ästhetisch, aber nicht unter dem Gesichtspunkt von Wahrheit und Falschheit zu beurteilen seien, die (radikalen) anderen damit, daß mit dem Mythos der einen Vernunft die Frage nach Wahrheit oder Falschheit überhaupt obsolet geworden sei. Man glaubt, was gefällt, und wem es nicht gefällt, der glaubt eben etwas anderes. Berufung auf Wahrheit ist dementsprechend nichts als eine verbale Drohgebärde: Sie hat allenfalls rhetorische Funktion.

Doch die Korrektur eines Fehlers bedeutet eben keineswegs auch schon die Fehlerlosigkeit der Korrektur. So berechtigt die Kritik an der neutralen Einheitsvernunft der Moderne und ihrem irreführenden Ideal einer einheitlichen Beobachterperspektive ist, so wenig kann man sich mit dieser Kritik begnügen. Soll die Lösung von Konflikten zwischen Glaubensüberzeugungen am Ausgang der Moderne nicht doch wieder zu einer bloßen Machtfrage werden, darf die Aufklärungskultur einer argumentierenden Öffentlichkeit nicht einfach vergessen werden. Es genügt nicht, Glaubensüberzeugungen zur Privatsache zu erklären und als Geschmacksproblem zu behandeln, grundsätzlich auf die Wahrheitsfrage zu verzichten und nicht einmal mehr sich selbst die Rechtfertigung der eigenen Ansichten abzufordern, weil dadurch andere Ansichten diskriminiert würden. Das genügt schon deshalb nicht, weil man damit die Beobachterperspektive nur pluralisiert und sich gerade nicht in die Position der Beteiligten begibt. Und genau das ist der christlichen Theologie verwehrt.

Sie - und damit komme ich zum von mir favorisierten Weg - spricht stets aus der Perspektive der Beteiligten, weil sie den christlichen Glauben und nicht ein philosophisch reformuliertes Substitut öffentlich zu verantworten hat. Das gelingt nicht, wenn man Wirklichkeit in (religiöser) Beobachterperspektive neutral zu beschreiben sucht, ob das nun in Gestalt einer monistischen oder pluralistischen Metaphysik geschieht. Theologie hat über eine bestimmte Einstellung zur Wirklichkeit Rechenschaft abzulegen, die im Bekenntnis des Glaubens zum Ausdruck kommt. Diese Einstellung fügt wissenschaftlichen Detail- und metaphysischen Totalbeschreibungen unserer Welt keine religiösen Beschreibungen hinzu, sondern wirkt wirklichkeits-erschließend, indem sie unsere Welt in all ihren Details und unter jeder Beschreibung coram deo beurteilt: Wer Menschen, Mäuse oder Misteln als Geschöpfe bezeichnet, beschreibt sie nicht genauer oder besser als die Wissenschaften, sondern bringt seine Einstellung zum Ausdruck, wie man sich ihnen gegenüber angesichts der Gegenwart Gottes angemessen zu verhalten hat. Diese Einstellung ist aber weder willkürlich noch unfundiert. Sie gründet in der - durchaus strittigen - Wahrnehmung der Gegenwart Gottes in unserer Wirklichkeit, die Christen im trinitarischen Bekenntnis auf den kürzesten Nenner bringen. Und genau das hat die Theologie öffentlich deutlich zu machen.

So entschieden sie dabei aus der Perspektive der Beteiligten spricht, so wenig setzt sie allerdings diese Perspektive absolut, sondern unterscheidet sie kritisch von der Wirklichkeit, die in ihr wahrgenommen wird. Theologie distanziert sich innerhalb dieser Perspektive so vom Lebensvollzug des Glaubens, daß sie diesen und sein Verhältnis zu anderen Wiklichkeitsperspektiven kritisch am Gegenstand des Glaubens messen und von ihm aus beurteilen kann. Denn obgleich ihr dieser Gegenstand nicht unabhängig vom Glauben zugänglich ist, kann sie ihn im Vergleich seiner verschiedenen geschichtlichen Gestaltungen kritisch rekonstruieren, muß gerade deshalb aber auch ihre Rekonstruktionen immer wieder an den grundlegenden Urkunden des Glaubens prüfen.

Theologie ist daher etwas anderes als Glaube, aber sie nimmt dessen Bekenntnis ernst, von seinem Gegenstand bestimmt und damit wahrheitsfähig zu sein. Sie hat keinen privilegierten Zu-gang zu diesem Gegenstand, der Gegenwart Gottes, sondern weiß, daß diese nicht unabhängig davon zugänglich ist, wie sie sich Glaubenden und damit Beteiligten erschließt. Aber deshalb ist Theologie keineswegs bloß die systematische Beschreibung eines "Gemeinschaftsphänomens", wie Lindbeck nahelegt. Mit den Glaubenden selbst besteht sie vielmehr darauf, daß zwischen Gottes Wirklichkeit und dem Glauben an sie eine Differenz besteht, an der die Wahrheit dieses Glaubens hängt und durch die sich diese Wirklichkeit zu Wort meldet.

Daß sich nur im Lebensvollzug des Glaubens und nicht in dessen distanzierter Beobachtung und Analyse Gottes Wirklichkeit erschließt, ist keineswegs eine Besonderheit des Glaubens. Wirklichkeit wird grundsätzlich nur im Vollzug und damit nur von Beteiligten erfahren. Man muß leben, nicht bloß über das Leben reden, um seine Wirklichkeit zu erfassen. Und wie im Leben überhaupt, so auch sonst: Nicht wer heute die Kritik liest, sondern nur wer gestern selbst in Verdis Tosca war, hat die lebendige Wirklichkeit dieser Musik erlebt. Eine Aufnahme mag diese simulieren, doch es ist ein ganz entscheidender Un-terschied, ob man eine Aufzeichnung anhört oder an einer Aufführung teilnimmt: Nur im konkreten Mitvollzug als Musiker und Hörer schwingen die ganzen Kontingenzen mit, die dem Leben seine Qualität und spezifische Tönung geben, nur hier bündeln sie sich in der Einheit eines Vorgangs zu einem einzigartigen, unwiederholbaren Moment des eigenen und des fremden Lebensvollzugs. Das gilt von der Musik, das gilt vom Leben und das gilt vom Glauben: Nur im Mitvollzug erschließt sich Wirklichkeit, und nur im Mitvollzug des Glaubens er-schließt sich die Wirklichkeit Gottes.

Jeder Versuch, das Vorliegen dieser Wirklichkeit aus neutraler Beobachterperspektive zu beweisen, geht deshalb völlig fehl. Kein Beweis ersetzt eigene Beobachtung, keine Beobachtung kann die Lücke zwischen sich und der von ihr beobachteten Wirklichkeit schließen, und keine mögliche Beobachtung ersetzt den Mitvollzug. Man muß sich deshalb auf den Glauben einlassen, um die Wirklichkeit in den Blick zu bekommen, an der der Lebensvollzug der Glaubenden selbst gemessen sein will. Diese folgen nicht dem Leitsatz "Was Gott ist, bestimmen wir", sondern "Was wir sind, bestimmt Gott", und entsprechend bestimmen sie Gott so, wie sie von seiner Wirklichkeit be-stimmt werden. Das jedenfalls ist der Anspruch, an dem sie zu messen sind, und es ist die Aufgabe der Theologie, das kritisch zu tun. Die Wahrheit des Glaubens entscheidet sich an Gottes Wirklichkeit. Deshalb hört der Glaube auf, Glaube zu sein, wenn er sich nicht offen von Unglaube, Irrglaube und Aberglaube unterscheidet; und entsprechend hört die Theologie auf, Theologie zu sein, wenn sie diesen Glauben und ihr eigenes Tun nicht öffentlich zu verantworten sucht. Dazu muß sie aus der Sicht der Beteiligten reden, aber sich vom Vollzug des Glaubens unterscheiden, und sie muß sich reflektierend auf diesen beziehen, ohne zum bloßen Beobachter zu werden.

Der Weg der Theologie bewegt sich so auf einem schmalen Grad. Auf der einen Seite weiß sie, daß es keine konsequente Beobachterperspektive gibt und sich der Glaube anderen ge-genüber immer nur aus der Sicht von Beteiligten und damit in der ersten Person Singular und Plural verantworten läßt.(37) Auf der anderen Seite weiß sie auch, daß nicht die Beteiligten entscheiden, was Gott ist. Ob ein Gottesverständnis wahr ist, entscheidet sich allein an Gottes Wirklichkeit. Da diese sich nur Beteiligten erschließt, besteht zwar ein unaufhebbarer Zusammenhang zwischen Gottesverständnis und Gottesverehrung: Ein Gottesverständnis aber, das den Kontext konkreter Gottesverehrung ausblendet, erfaßt nicht das, was im Lebensvollzug einer Glaubensgemeinschaft als Gott wahrgenommen und angesprochen wird.

Aber das heißt nicht, daß Gott einfach das ist, was eine Gemeinschaft als Gott verehrt. Zwischen Gott, Gottesverehrung und Gottesverständnis ließe sich dann nicht mehr sinnvoll unterscheiden, zwischen verschiedenen Gottesauffassungen da-mit allenfalls noch polemisieren, aber kaum mehr argumentieren. Das ist nur dort möglich, wo gerade angesichts des konstitutiven Zusammenhangs von Gott, Gottesverehrung und Gottesverständnis nicht vom Gott der jeweiligen Gemeinschaft, sondern von verschiedenen Verehrungsweisen Gottes gesprochen wird, deren Adäquatheit sich jeweils an der Wahrheit des zu-grundeliegenden Gottesverständnisses bemißt. Ohne diese selbstkritische Relativierung der Gottesverehrung einer Glaubensgemeinschaft auf die Wahrheit ihres Gottesverständnisses degenerieren Religionen zu Ideologien. Über die Wahrheit ihres Gottesverständnisses aber entscheidet keine Glaubensgemeinschaft selbst, sondern allein die Wirklichkeit Gottes. Gerade für Beteiligte ist Gott ja nicht Gott, weil er verehrt wird, sondern er wird verehrt, weil er Gott ist - oder dafür gehalten wird. Ihr Gottesverständnis ist daher nicht als Implikat ihrer Gottesverehrung, sondern diese gerade umgekehrt als Implikat der Wahrheit (oder eben Falschheit) ihres Gottesverständnisses zu denken. Sie verehren Gott, weil er nicht aufhört, Gott zu sein, auch wenn er nicht - noch nicht oder nicht mehr - als Gott verehrt wird. Gottesglaube und Gottesverehrung sind deshalb nie eine nur private Angelegenheit: Gott kann nicht mein oder unser Gott sein, wenn er nicht auch der Gott anderer, ja aller anderen sein könnte. Die Praxis der Gottesverehrung wird im Gottesverständnis deshalb erst dann sachgemäß berücksichtigt, wenn Gott nicht nur als der gedacht wird, der in einer Gemeinschaft faktisch verehrt wird, sondern als der, der als einziger uneingeschränkt und umfassend von allen um seiner selbst willen zu verehren ist. Wer weniger will, verfehlt Gott. Und wer meint, anderen ihren Gott gönnen zu müssen und sich mit seinem be-gnügen zu können, bringt sie und sich um die Chance, ernsthaft mit Gottes Wirklichkeit zu rechnen.

Man kann Gott deshalb strenggenommen nicht einmal denken, ohne sich und alle anderen in das Gedachte einbezogen zu wissen: Gott als den zu denken, der als einziger uneingeschränkt und umfassend von allen um seiner selbst willen zu verehren ist, ohne ihn selbst zu verehren und es nicht auch von anderen zu erwarten, ist ein pragmatischer Selbstwiderspruch und ebenso irregeleitet, wie alle Menschen für sterblich zu halten und sich oder irgend einen anderen Menschen davon auszunehmen. Der Widerspruch läßt sich vermeiden: Niemand muß Gott denken, aber auch niemand ist davon ausgeschlossen, Gott in gebührender Weise zu verehren. Doch wer immer Gott als Gott zu denken versucht, kann nicht umhin zu wissen, daß er der Wahrheit des von ihm gedachten Gottesgedankens so lange widerspricht, als er selbst Gott nicht verehrt oder von anderen diese Gottesverehrung nicht erwartet.

Das heißt gerade nicht, daß man das eigene Gottesverständnis - als einzelner oder als Gemeinschaft - für unhintergehbar oder absolut halten müßte. Was Christen glauben, ist nicht deshalb wahr, weil sie es glauben. Sie unterscheiden zwischen Gott und Gottesverständnis, Wahrheit und Vollzug des Glaubens, weil sie sich an Gottes Wirklichkeit auszurichten suchen. Im christlichen Glauben selbst ist insofern die prinzipielle Fähigkeit und Verpflichtung zur Selbstkritik eingebaut. Dazu gehört, daß man sich in den eigenen Glaubensvollzügen auf andere bezieht, mit ihnen kommuniziert und eben so relative Öffentlichkeiten schafft, in denen es zum Vergleich, zum Konflikt, zur Korrektur, zur Vertiefung oder zur Kombination unterschiedlicher Gottesauffassungen kommen kann.

Solche Kommunikationen sind für jede Gemeinschaft unumgänglich, aber sie begründen nicht die Wahrheit ihres Gottesverständnisses und machen sie dieser Wahrheit auch nicht gewiß. Wahrheitsgewißheit, da ist J. Fischer zuzustimmen, gibt es nur innerhalb der Kommunikation des Glaubens.(38) Aber diese Kommunikation ist nicht als Kommunikation nur unter Glaubenden mißzuverstehen, und sie schließt immer auch schon (Ansätze zur) Kommunikation über den Glauben und damit die Öffnung auf weitere Öffentlichkeiten hin ein. Denn zum einen kommunizieren und interagieren Glaubende nicht nur untereinander, sondern stets auch mit ihren kulturellen Umwelten, mit denen sie mehr als nur eine Sprache teilen; ja sie werden durch die Wahrheitsgewißheit, die sich in der eschatologischen(39) Kommunikation des Glaubens einstellt und in der sie der Geist als Glaubende konstituiert, gerade instand gesetzt, sich in einer bestimmten Weise auf andere innerhalb und außerhalb der christlichen Gemeinschaft zu beziehen. Zum anderen wird die Wahrheitsgewißheit des Glaubens über (nicht durch!) ein verbum externum konstituiert, das zwar seine Wahrheit stets und ausschließlich der eschatologischen Präsenz Gottes verdankt, seine Bestimmtheit und Verständlichkeit aber seiner unterschiedlichen semantischen und sachlichen Differenz zu anderen Botschaften und seine soziale Konkretion der immer wieder neu zu fassenden kulturellen Distanz der christlichen Gemeinde zu ihren sich verändernden Umwelten.(40) Zum dritten schließlich muß jede konkrete Kommunikation des Glaubens, und mehr noch jede diese reflektierende Theologie, diese Differenzen und Distanzen sowie die dadurch provozierten Anfragen, Einwände und Bestreitungen beachten und berücksichtigen, um wirklich zu ihrer Zeit zu sprechen. Sie ist damit, ob sie es will oder nicht, in Prozesse verwickelt, in denen es permanent zum Vergleich, zur Veränderung und zur Verknüpfung von Glaubensüberzeugungen innerhalb einer Gemeinschaft und zwischen verschiedenen Gemeinschaften kommt.

Es ist Aufgabe gerade der systematischen Theologie, diese Prozesse kritisch zu beurteilen. Wird die Differenz zwischen dem, was unter ,Gott' verstanden wird, und dem, was Gott ist, kritisch gewahrt? Ist eine Bestimmung Gottes an Gott selbst und damit an der Selbstbestimmung Gottes orientiert oder an etwas anderem? Suchen einzelne ("Was Gott ist, bestimme ich") oder Gemeinschaften ("Was Gott ist, bestimmen wir") frei zu entscheiden, was Gott ist, oder räumen sie ein, daß sich das allein an Gott selbst entscheidet ("Was Gott ist, bestimmt Gott selbst")?

Der gängige Einwand, das, was hier ,Gott selbst' genannt werde, sei doch selbst eine Setzung oder Bestimmung von uns, hat nicht das Gewicht, das er sich selbst zuschreibt. Wir können in der Tat nur in der Sprache zwischen unserer Bestimmung Gottes und Gott selbst unterscheiden, aber deshalb ist das, worauf wir mit dem Ausdruck ,Gott selbst' Bezug nehmen, keineswegs nur Resultat einer sprachlichen Operation. Die Referenz konstituiert nicht den Referenten, und daß uns alles nur unter einer Beschreibung gegeben ist, heißt nicht, daß uns nur Beschreibungen gegeben wären. Als soziale Wesen bewegen wir uns immer schon gemeinsam im Horizont einer uns sprachlich erschlossenen Wirklichkeit. Aber in diesem Horizont stellt sich uns das Problem von Wahrheit und Falschheit. Und dieses Problem können wir weder durch eine abstrakte Entgegensetzung von Sprache und Wirklichkeit noch durch eine nicht weniger abstrakte Bestreitung dieser Differenz lösen, sondern allein dadurch, daß wir der Sperrigkeit der Phänomene in der uns sprachlich erschlossenen Wirklichkeit nachgehen und von Fall zu Fall das Verhältnis von sprachlicher Bestimmung und erschlossener Wirklichkeit so präzis wie möglich zu fassen suchen. Das gilt auch im Fall Gottes. Bestimmen erfordert Differenz und vollzieht sich als Negation auf der Zeichen- und Beschreibungsebene.(41) Aber die Wahrheit einer Bestimmung hängt nicht am Vollzug des Bestimmens, sondern daran, daß Gott auch so ist, wie wir bestimmen. Nur wenn Gottes Wirklichkeit unserem Bestimmen und Verehren so vorausgeht, beziehen sich diese auf etwas, was sich nicht unserem individuellen oder kollektiven Imaginieren verdankt, sondern entdeckt oder verkannt, erkannt oder verfehlt werden kann.

Der christliche Glaube lebt davon, daß das so ist. Er bekennt, aus der Wahrnehmung der Gegenwart Gottes zu leben, die sich in und durch Christus in bestimmter Weise erschlossen hat und immer wieder erschließt. Das läßt sich nur aus der Perspektive der Beteiligten sagen. Aber es setzt die eigene Perspektive nicht mit der Wirklichkeit Gottes in eins, sondern unterscheidet sie selbstkritisch von ihr.(42) Der Glaube hat deshalb Vernunft, aber diese ist nicht neutral, universal und unbeteiligt-beobachtend, sondern engagiert, öffentlich und (selbst)kritisch. Sie folgt Regeln, die sich formulieren lassen, etwa:

- Wahre die Differenz zwischen deinem Gottesverständnis und Gott (denn Gott ist quidam maius quam cogitari potest);

- Vertiefe dein Gottesverständnis im Umgang mit Gott (denn nicht in der Abstraktion vom Gottesdienst, sondern nur in der Praxis eigener Gottesverehrung erschließt sich die Wirklichkeit Gottes);

- Verstehe dich, dein Leben und deine Welt ganz coram deo, d. h. im Licht der wirksamen Gegenwart Gottes (denn das erweist die lebensorientierende Kraft dieser Wirklichkeitseinstellung);

- Setze dein Gottesverständnis vorbehaltlos der Kritik aus und sei bereit, es anderen gegenüber zu verantworten (denn nur so kann man die Schwächen und Stärken seines Gottesverständnisses erkunden und sich davor schützen, sein Leben an diesem statt an Gottes Wirklichkeit auszurichten).

Ohne den kritischen Realismus einer so regulierten Glaubenspraxis gäbe es keinen Grund zu sagen, der Glaube sei von seinem Grund und Gegenstand bestimmt, als wahrheitsfähig, und daher auch öffentlich und mit Argumenten zu verantworten.

Das aber ist für den christlichen Glauben wesentlich. Er ist nicht nur subjektives Erleben, freie Erfindung und Verknüpfung religiöser Ansichten oder Tradition geschichtlich gewachsener Überzeugungen. Als spezifische Einstellung zur Wirklichkeit ist er zu öffentlicher Verantwortung fähig und bereit, weil er sich von Gottes Wirklichkeit bestimmt weiß, in und durch deren Gegenwart alles ist, was ist. Im christlichen Glauben geht es um eine - Gott selbst als Ursache zugeschriebene - Wahrnehmung von Wirklichkeit, die sich nicht in der funktionalen Bedeutung dieses Glaubens für die Glaubenden erschöpft und die auch nicht schon dadurch legitimiert ist, daß unter Verweis auf eine angebliche Mythenpflichtigkeit des Menschen die Projektionsthese der Religionskritik ins Positive gewendet wird: Da wir alle projizieren müßten, habe jeder das Recht, sich seinen Gott nach eigenem gusto zu bestimmen. Gerade so nicht. Der Glaube nimmt seinem eigenen Selbstverständnis zufolge Wirklichkeit wahr, über die sich streiten läßt: die wirksame Gegenwart der Liebe Gottes.(43) Nur weil sie diese bestreitbare Wirklichkeit und nicht nur ihr unbestreitbares Erleben und Erfinden verkünden, verdienen Christen und die Kirchen Gehör in der Öffentlichkeit, nicht allein aufgrund ihres sozialen und diakonischen Engagements, das doch nicht selbsttragend, sondern ethische Folge dieser Wirklichkeitswahrnehmung ist.

Genau hier liegt der nicht zu verwischende Gegensatz zur religiösen Bastelkultur unserer Gegenwart. Weil sie bekennen, aus der Wahrnehmung von Gottes wirksamer Gegenwart zu leben, sind Christen verpflichtet, den zeitgenössischen Tendenzen zur Privatisierung des Glaubens, zur subjektivistischen Mystik und zur Auflösung von Religion in psychotechnische Mittel der Selbstfindung zu widerstehen. Das geschieht keineswegs schon dadurch, daß sich die Kirchen selbst als esoterische Mysterien- und Meditationskulte präsentieren, das Lob der Leiblichkeit und kosmischen Ganzheitlichkeit singen und hoffen, durch Ausdruckstanz das Akzeptanzdefizit wettmachen zu können, das ihnen gegenüber den privaten Heilsbringern bescheinigt wird. Sie müssen ihre Botschaft und ihr Gottesverständnis unmißverständlich zur Sprache bringen und ihr Bekenntnis, aus der Wahrnehmung göttlicher Wirklichkeit zu leben, in aller Öffentlichkeit so verantworten, daß eine freie Aneignung des christlichen Glaubens möglich wird, die auf Einsicht und Überzeugung und nicht auf Überredung, spiritueller Bedürfnisbefriedigung oder religiöser Funktionserfüllung beruht. Wer glaubt, hat damit auch Gründe, und auf deren Überzeugungskraft setzt, wer über seinen Glauben Rechenschaft ablegt.

Auch für die Kirchen geht es deshalb nicht darum, sich möglichst große Anteile am religiösen Markt zu sichern, sondern andere in die Lage zu versetzen, selbst die Wirklichkeit wahrzunehmen, die sie verkünden. Recht verstanden kann und darf der Kirche nicht an ihr selbst, sondern nur an ihrer Botschaft liegen, und die verpflichtet sie zur öffentlichen Verantwortung. Es ist deshalb gerade heute eine zentrale Aufgabe der Theologie, die Kirche bei dieser Pflicht zur öffentlichen Verantwortung zu behaften und gegen den modischen Trend zur mystischen Hermetik nachdrücklich auf einer öffentlichen Hermeneutik des christlichen Glaubens zu insistieren. Es ist nicht Aufgabe der Theologie zu erklären, warum Menschen glauben, was sie glauben, sondern was ihren Glauben wahr und vernünftig macht, und welche psychologischen oder soziologischen Funktionen der christliche Glaube auch immer erfüllen mag, er ist nur wahr, wenn die Wirklichkeit so ist, wie er bekennt, und nur vernünftig, wenn dieses Bekenntnis mit Argumenten verantwortet werden kann. Deshalb muß sich die Theologie am Streit um die Wahrheit des Glaubens beteiligen und dafür eintreten, daß dieser Streit auch öffentlich geführt und nicht aus Scheu vor der falsch verstandenen Privatheit religiöser Überzeugungen zum Schaden aller unterbleibt. Und deshalb gehört Theologie auch heute an den Ort, wo in unserer Gesellschaft der Streit um Wahrheit öffentlich ausgetragen wird: an die Universität.(44)

Fussnoten:

1 Psychologie Heute, Juli 1995: "Was GOTT ist, bestimme ich! Religion als Selbsterfahrung", Titel und Editorial.

2 Newsweek 28.11.1994: "The Search for the Sacred", Titel.

3 Der Spiegel 52, 1994: "Die Flucht ins Spirituelle. Sehnsucht nach Sinn", Titel.

4 Newsweek, a.a.O., 40.

5 Psychologie Heute, a.a.O., 23.

6 Soviel Psi war nie, Der Spiegel, a.a.O., 78-96, 79.

7 Das heißt, ihn auf die Probleme unserer Zeit zu beziehen und diese in seinem Licht zu erhellen, und das vor Gott und vor der Welt (und Kirche) zu verantworten.

8 H. Ernst, Die Cafeteria-Religion, Psychologie Heute, a.a.O., 3.



9 Vgl. J. Lecler, Geschichte der Religionsfreiheit, 2 Bde., Stuttgart 1965; G. Jellinek, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in: R. Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Menschenrechte, Darmstadt 1964, 1 ff.; H. Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, Darmstadt 1977; A. v. Campenhausen, Religionsfreiheit, Göttingen 1971; B. Kaufmann, Das Problem der Glaubens- und Überzeugungsfreiheit im Völkerrecht, Zürich 1989.

10 Entwurf für eine Totalrevision der Bundesverfassung (VE 1977), Art. 11. Zitiert nach D. Kraus, Schweizerisches Staatskirchenrecht. Hauptlinie des Verhältnisses von Staat und Kirche auf eidgenössischer und kantonaler Ebene, Tübingen 1993, 434.

11 Das Allgemeine wird mit dem Staat, aber auch mit der Nation identifiziert. Mit dieser Neubestimmung staatlicher Identitäten im frühneuzeitlichen Europa über nationale Identitäten ist der Weg zum Nationalstaat beschritten.

12 W. Kymlicka, Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford 1995.

13 "Congress shall make no law respecting the establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof" heißt es im First Amendment zur U. S. Constitution, das im Jefferson zu verdankenden Virginia Statute for Religious Freedom seinen Ursprung hat. Vgl. J. Clayton, Enlightenment, Pluralism and the Philosophy of Religion, in: Fr. X. D'Sa/R. Mesquita (Hg.), Hermeneutics of Encounter. Essays in Honour of Gerhard Oberhammer on the Occasion of his 65th Birthday, Wien, 1994, 35-59, 37 (und Anmerkungen).

14 E. Herms, Der religöse Sinn der Moral. Unzeitgemäße Betrachtungen zu den Grundlagen einer Ethik der Unternehmensführung, in: Ders., Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991, 216-251, 247.

15 Psychologie Heute, a.a.O., 26.

16 H. Barz, Meine Religion mach ich mir selbst!, Psychologie Heute, a.a.O., 20-27, 25; ders., Jugend und Religion, Bd. 1: Religion ohne Institu-tion? Eine Bilanz der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung, Opladen 1992; Bd. 2: Postmoderne Religion am Beispiel der jungen Generation in den alten Bundesländern, Opladen 1992; Bd. 3: Postsozialistische Religion am Beispiel der jungen Generation in den neuen Bundesländern, Opladen 1993.

17 Vgl. J. Clayton, a.a.O., 35 ff.

18 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962), Neuauflage, ergänzt um ein Vorwort, Neuwied 1990.

19 J. Schulte-Saase, Einleitung: Kritisch-rationale und literarische Öffentlichkeit, in: Ch. Bürger, P. Bürger, J. Schulte-Saase (Hg.), Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 1980, 12: "Der Begriff der Öffentlichkeit ist historisch wie systematisch in erster Linie an die Vorstellung eines kritisch räsonierenden Publikums gebunden." Zur Kritik vgl. F. Schneider, Öffentlichkeit und Diskurs. Studien zur Entstehung, Struktur und Form der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Bielefeld 1992; A. Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, 11 ff.

20 Zu den Schwierigkeiten, den Begriff zu klären, vgl. F. Tönnies, Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin 1922; R. Mischke, Die Entstehung der öffentlichen Meinung im 18. Jahrhundert (Diss. Phil.) Hamburg 1958; L. Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, Stuttgart 1979, 105 ff.



21 F. Wagner, Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, München 1995.

22 Vgl. T. Veijola, Wahrheit und Intoleranz nach Deuteronomium 13, ZThK 92, 1995, 287-314, 311 ff.



23 Vgl. P. Koslowski, Die Prüfungen der Neuzeit. Über Postmodernität, Philosophie der Geschichte, Metaphysik, Gnosis, Wien 1989, 137. Vgl. R. M. Bucher, Die Theologie in postmodernen Zeiten. Zu Wolfgang Welschs bemerkenswertem Buch ,Unsere postmoderne Moderne', ThGl 79, 1988, 178-191; ders., Die Theologie in Moderne und Postmoderne. Zu unterbliebenen und zu anstehenden Innovationen des theologischen Diskurses, in: H.-J. Höhn (Hg.), Theologie, die an der Zeit ist. Entwicklungen - Positionen - Konsequenzen, Paderborn/München 1992, 35-57.

24 Vgl. K. Füssel, D. Sölle, F. Steffensky, Die Sowohl-als-auch-Falle. Eine theologische Kritik des Postmodernismus, Luzern 1993. Vgl. B. Schmidt, Am Jenseits der Heimat. Gegen die herrschende Utopiefeindlichkeit im Dekonstruktiven. Ein Essay mit Anhang, Wien 1994.

25 Ch. Lindbeck, The Nature of Doctrine, Religion and Theology in a Postliberal Age, Philadelphia 1984, 33 (meine Übersetzung, im folgenden dto.).

26 A.a.O., 55.

27 A.a.O., 40 f.

28 A.a.O., 129 f. Daß sie das auch "intratextual" nur können, weil vielfältige sprachliche und kulturelle Verbindungen und Gemeinsamkeiten mit anderen bestehen, wird theologisch trotz aller Hinweise bei Lindbeck nicht hinreichend bedacht. Aber was eschatologisch gilt (die absolute Differenz zwischen dem Alten und dem Gott verdankten Neuen), gilt kulturell gerade nicht: Jede kulturelle Differenz ist durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede gekennzeichnet und insofern nie ein absolutes Entweder-Oder.

29 A.a.O., 135.

30 A.a.O., 114 ff. 129 ff.

31 A.a.O., 135.

32 D. Z. Philipps, Faith after Foundationalism, London 1989, 195 ff. Vgl. auch die Arbeiten in Modern Theology 4 (Heft 2), 1987/88 (Special Issue: George Lindbeck's The Nature of Doctrine).



33 H. Weder, Grenzüberschreitende Gemeinschaft - neutestamentliche Überlegungen zur Konstitution der Kirche, in: A. Schindler (Hg.), Kirche und Staat. Bindung - Trennung - Partnerschaft. Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, Zürich 1994, 11-36, 35 f.

34 Genau das propagiert Yeshayahou Leibowitz als unumgänglich: "Über Werte kann man nicht streiten, sondern nur Krieg führen" (WDR 3, 4.12.1995). Und dasselbe gilt ihm zufolge für Religionen, die deshalb nur dadurch überleben können, daß sie ihre Gegner vernichten: Religion ist immer eine Sache der Entscheidung, und zwar einer irrationalen, nicht begründbaren Entscheidung. Gerade so ist sie, wie Leibowitz sagt, ein Akt der "Befreiung des Menschen von der Realität". Die Folgen dieser Befreiung im Konflikt der Religionen und Glaubensüberzeugungen bestätigen freilich alle Befürchtungen und Erfahrungen der Aufklärung. Man wird deshalb sehr genau zu fragen haben, ob die Entscheidung für eine Religion wirklich so unabhängig von jeder Wirklichkeits- und Wahrheitserkenntnis ist, wie Leibowitz es darstellt: Die Alternative Wissen, Wahrheit und Rationalität vs. Religion, Wert und Irrationalität ist zu einfach und zu gefährlich, um akzeptabel zu sein.



35 I. Kant, Refl. 2566 (AA XVI, 419 f.).

36 Lindbeck diskutiert das Problem mittels der Unterscheidung zwischen "intrasystematischer" und "ontologischer" Wahrheit (a.a.O., 64 ff.). Aber sein Konzept der ontologischen Wahrheit ist nicht so geklärt, daß es mit seiner eigenen Position widerspruchsfrei vereinbar wäre. Vgl. die Kritik von Phillipps, a.a.O., 204 ff.



37 Das ist die nicht zu vergessende Lektion der Postmoderne: "Let every-one speak in the first person, singular and plural", A. Borgmann, Crossing the Postmodern Divide, Chicago 1992, 144.

38 Vgl. J. Fischer, Pluralismus, Wahrheit und die Krise der Dogmatik, ZThK 91, 1994, 487-539, 507 f.

39 Also nicht nur intersubjektiven Kommunikation zwischen Menschen, sondern dazu querstehenden Kommunikation Gottes mit ihnen, der sich die Evidenz der Wahrheit des menschlich Kommunizierten verdankt und die sich überall einstellen kann, ubi et quando visum est deo in his qui audiunt evangelium.

40 Vgl. die treffenden Überlegungen von M. Volf, Christliche Identität und Differenz, Zur Eigenart der christlichen Präsenz in den modernen Gesellschaften, ZThK 92, 1995, 357-375.



41 Vgl. J. Dierken, Religion und Sittlichkeit. Erwägungen zur Aufgabe moderner systematischer Theologie im Anschluß an Wilhelm Herrmann, ZThK 92, 1995, 376-395, 391 f.

42 In diesem Sinn operiert der christliche Glaube mit einer starken, aber nicht naiven Wirklichkeitsunterstellung: Er setzt auf Gottes wirksame Gegenwart, und damit auch darauf, daß sich uns diese erschließt. Wir wüßten im Hinblick auf Gottes Wirklichkeit nichts Wahres zu sagen, wenn uns diese nicht irgendwie gegeben wäre, und das heißt: in bestimmter Weise gegeben wäre. Nichts ist uns als es selbst unmittelbar gegeben, auch nicht Gott, sondern immer nur in einer bestimmten Gegebenheits- oder Darstellungsweise, oder kurz: Perspektive. Diese perspektivische Gegebenheits- oder Darstellungsweise ist dem Dargestellten nicht äußerlich, so daß ein externer Vergleich zwischen Gegebenem und Gegebenheitsweise, Dargestelltem und Darstellungsweise möglich wäre. Das zu meinen ist der Fehler des naiven Realismus, und dieser Fehler gründet in einem verkürzten, zweistelligen Zeichenbegriff, der nur Zeichen und Bezeichnetes unterscheidet und nicht berücksichtigt, daß Etwas ein Anderes nur aufgrund eines Dritten bezeichnet, wie Peirce grundlegend erkannt hat.

Auch Gott ist uns nur gegeben, sofern er uns in bestimmter Weise und damit in bestimmter Perspektive gegeben ist; und auch hier können wir diese Gegebenheitsweise niemals mit Gott selbst vergleichen. Aber das heißt gerade nicht, daß Gott uns nur so gegeben sein könnte, wie er uns gegeben ist. Selbst daß Gott so ist, wie er uns gegeben ist, erfordert, daß er uns in mehr als einer Perspektive zugänglich, unter mehr als einer Beschreibung gegeben ist. Und das ist auch der Fall. Faktisch oder doch zumindest potentiell gibt es immer auch noch andere Perspektiven, in denen Gott anders oder gar nicht erscheint. Und erst in der kritischen Verknüpfung solcher differenten Perspektiven hat es überhaupt Sinn, von Gottes Identität oder Selbigkeit zu reden: Gerade weil Gott in der einen Perspektive so, in einer anderen anders bestimmt ist, stellt sich die Frage nach der Selbigkeit dessen, der jeweils als Gott (oder einmal als Gott und das andere mal gar nicht) thematisiert wird. Das Problem und seine Lösung setzt Kommunikation zwischen verschiedenen Perspektiven und insofern (rudimentäre) Öffentlichkeit voraus. Das entscheidende Kriterium zur Entscheidung zwischen diesen beiden Sichtweisen oder zu ihrer modifizierenden Kombination ist aber weder die Gottesbestimmung der einen noch der anderen Seite, sondern das, was bei beiden als Differenz zwischen Dargestelltem und Darstellungsweise in Anspruch genommen wird: der Referent ihrer Rede von Gott. Dieser Referent ist nicht unmittelbar, sondern immer nur in bestimmter Weise gegeben. Aber er läßt sich über die Differenzfigur von Dargestelltem und Darstellungsweise in unterschiedlichen Perspektiven thematisieren. Und insofern fungiert der Ausdruck ,Gott', gerade wenn er realistisch verstanden wird, als die Regel, die unser Weiterschreiten von einer Gottesvorstellung zu anderen Gottesvorstellungen leitet, und zwar so, daß dieses Weiterschreiten in keiner bestimmten Vorstellung zum Abschluß kommen könnte: ,Gott' bezeichnet (recht verstanden) kein transzendentes Wesen oder noumenales Ding-an-sich (Hick), sondern markiert den permanenten Verweisungszusammenhang auf das ewige schöpferische Leben, das (formal gesprochen) in der dreistelligen Zeichenstruktur seinen kürzesten Ausdruck und (inhaltlich) nach dem Bekenntnis des christlichen Glaubens in Jesus Christus seinen klarsten Ausdruck gefunden hat.

43 Glaubende nehmen nicht Gott wahr, sondern sich selbst und ihre Welt im Licht der Gegenwart Gottes.

44 Antrittsvorlesung an der Universität Zürich am 30.10.1995.