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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1263–1265

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Reinhard, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Kleine Geschichte des Kolonialismus.

Verlag:

Stuttgart: Kröner 1996. VIII, 376 S. m. Abb. 8 = Kröners Taschenausgabe, 475. Lw. DM 34,-. ISBN 3-520-47501-4.

Rezensent:

Hans-Werner Gensichen

Nicht ohne Aufatmen, wie es scheint, hat die neuere Missionswissenschaft das Thema Kolonialismus ad acta gelegt. Allenfalls in theologischen Enzyklopädien fristet es noch ein wenig beachtetes Dasein, bedingt durch die Erkenntnis neuzeitlicher Forschung, daß koloniale Systeme früher oder später ihre eigene Überwindung bewirken (Klaus J. Bade). Wäre demnach dem deutschen Soziologen Albert Schäffle beizupflichten, der schon vor einem Jahrhundert die Auflösung des Kolonialismus durch die Rezeption westlicher "Gesittung" in den Kolonialgebieten vorhersah (Kolonialpolitische Studien, ZGStW 43, 1887, 180 f.)? Oder muß man sich heute der besseren Einsicht des früheren Missionsdirektors und späteren Orientreisenden Paul Schütz beugen, dem sich zwischen den Weltkriegen die Mission des kolonialen Zeitalters letztlich als "Jagdhund des Cäsars" darstellte - eine Diagnose, die bis hinein in die theologischen Hörsäle der 1968er Generation ihren Widerhall fand?

Es sieht nicht so aus, als wären die Einseitigkeiten kontrastierender Vorurteile dieser Art mittlerweile obsolet geworden. Horst Rzepkowski, unvergessener kritischer Beobachter zeitgenössischer Entwicklungen in der Mission und Missionswissenschaft, hat daher noch kurz vor seinem Tod angemahnt, daß "die Erfahrung des gesamten Untersuchungsfeldes im internationalen Bereich" erst noch zu erschließen sei, ehe man vor einer adäquaten "Bestandsaufnahme einer Geschichte oder Theorie der Kolonialmission" reden könne (Lexikon der Mission, Graz-Wien-Köln 1992, 247). Was die Missionswissenschaft bisher überwiegend in Gestalt von Einzelstudien erarbeitet hat, verdient offenkundig Respekt, wird aber nicht immer dem gerecht, was Rzepkowski als "die umgreifende koloniale Situation, die auch die Mission nicht ausnahm und ausließ", behandelt wissen wollte (248). Um so erfreulicher ist es, daß die säkulare Geschichtsschreibung mittlerweile das scheinbar Unmögliche möglich gemacht hat. Der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard hat in den Jahren 1983-1990 eine monumentale "Geschichte der europäischen Expansion" vorgelegt, die in vier Bänden die Gesamtperspektive jener weltweiten Bewegung erschließt, die von Europa aus "die vielen Welten der Menschen letztendlich zu einer Welt gemacht hat", und an der auch die christliche Mission ihren Anteil gehabt hat.

Die hier zu besprechende "Kleine Geschichte des Kolonialismus" hat den Vorzug, die Stoffmenge des großen Werks komprimiert und übersichtlich dazubieten, ohne daß wesentliche Aspekte verloren gehen. - So gelingt dem Vf. der Nachweis, daß Vorformen kolonialer Herrschaft eines Volkes über ein anderes, unter Ausnutzung der Entwicklungsdifferenz zwischen beiden, vorkommen, ohne doch die Dimensionen des europäischen Kolonialismus zu erreichen, wie er etwa die iberischen Mächte durch Reconquista und Conquista zur kolonialen Beherrschung aller Teile Amerikas führte. Portugiesischer und niederländischer Handelskapitalismus setzten neue Akzente, die für den Kolonialismus des 19. und 20. Jh.s die Grundlagen schufen. Hier ist nicht der Ort, den Fortgang der Entwicklung im einzelnen zu rekapitulieren. Die Feststellung mag genügen, daß der Vf. sowohl im Referieren des Geschehens als auch in der Analyse der gesamten vielfältigen Prozesse in knapper, äußerst präziser Sprache ein Beispiel geliefert hat, das noch lange maßgebend bleiben wird.

Besondere Beachtung verdient nun aber die zweite Besonderheit, die das Werk kennzeichnet: Der Vf. läßt keinen Zweifel daran, daß in vielen Fällen der Kolonialismus in die Dekolonisation übergegangen ist. Der chronologisch erste Fall, ohne Beteiligung der indianischen Bevölkerung, entstand im nordamerikanischen "Kräftedreieck" des 18. Jh.s, der zweite, nunmehr afroamerikanisch, in Haiti, bald auch in Gestalt regionaler Befreiungsaktionen im restlichen Iberoamerika und im "Neu-Europa" der Auswanderer auf der Südhalbkugel.

Zwar hat der moderne Kolonialismus erst im 20. Jh. seine Höhepunkte erreicht, zumal erst nach dem Zweiten Weltkrieg viele Kolonien sich als nützlich für ihre Besitzer erwiesen haben. Schon 1932 deutet sich aber der gegenläufige Trend an, für den Moritz Bonn, ein deutscher Emigrant in England, das Stichwort lieferte: Dem Kolonialismus folgt eine Epoche der "countercolonization", der Dekolonisation, die vor allem von den USA und der Sowjetunion international durchgesetzt wurde, wenn auch nach wie vor neue koloniale Krisenherde entstehen und zumal das Erbe von Fällen eines "inneren Kolonialismus" (Rußland, Südafrika, Israel) fortbestehen kann.

In einer früheren Einzelstudie (Gelenkter Kulturwandel im siebzehnten Jahrhundert. Akkulturation in den Jesuitenmissionen als universalhistorisches Problem", HZ 223, 1976, 529-590) hatte der Vf. bereits die Auswirkungen christlicher Missionsarbeit auf die wechselseitigen Kulturkontakte in Ostasien kritisch untersucht, so daß schon für diese Epoche ein differenziertes Bild der Situation vorlag, das den weithin üblichen Kontrast von "kolonialistischer" und "antikolonialistischer" Mission zu korrigieren vermochte. Das vorliegende Werk - dies ist seine dritte Besonderheit - führt diese Linie auf breiter Basis fort und zeigt von Fall zu Fall, daß mit dem simplen Postulat von der Mission als dem Jagdhund des Cäsars" nicht mehr überall durchzukommen ist, z. B. weder im portugiesischen noch im niederländischen Handelskolonialismus, während in der spanischen Conquista das Seelenheil der Heiden eine größere Rolle spielte. Auch wenn in der neueren Kolonialgeschichte die angebliche gegenseitige Abhängigkeit von Kolonialismus und Mission mittels simplifizierter Dependenztheorien geradezu dogmatisiert wurde, weist der Vf. insbesondere an Hand afrikanischer Beispiele nach, daß das Schema vom Missionar als dem Agenten imperialistischer Expansionspolitik nicht zu verallgemeinern ist. Mit Recht weist er auch auf die heute immer mehr Raum gewinnenden unabhängigen Kirchen in Afrika hin, zumal wenn in ihnen ein synkretistischer Chiliasmus dezidiert antikolonialistische Tendenzen zeigt, während der Kolonialimperialismus alten Stils, mit Joseph A. Schumpeter, eher als Produkt einer inzwischen überholten Mentalität von Kriegerkasten zu bewerten ist (243).

Was ein indischer Gastprofessor an einem evangelisch-theologischen College in Kamerun bereits 1992 beobachtete, dürfte auch der Überzeugung von Reinhard entsprechen: "The theme ’disengaging from the colonial past’ will not be a concern of the future generation as it is for the present generation. Already the colonial experience is unknown to half of the population of Africa, and they will move into the next century with quite different concerns" (s. Immanuel David, 1994 tödlich verunglückt; in "ministerial formation", April 1993, 22). Es wäre zu wünschen, daß eine Stimme wie die des Asiaten in Afrika auch in der fortdauernden missionswissenschaftlichen Diskussion so viel Gehör findet wie das Werk von Reinhard, das im übrigen auch durch seine internationale Bibliographie (17 Seiten!), durch die instruktiven Karten und ein vorzügliches Register die besten Voraussetzungen dafür mitbringt.