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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

544–547

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Rösel, Martin

Titel/Untertitel:

Übersetzung als Vollendung der Auslegung. Studien zur Genesis-Septuaginta.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1994. VIII, 290 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 223. ISBN 3-11-014234-1.

Rezensent:

Ina Willi-Plein

Seit die kritische Göttinger LXX-Ausgabe in immer größeren Teilen vorliegt, wäre es leichter als zuvor möglich, ernsthaft mit der griechischen Übersetzung des AT zu arbeiten. Dennoch wird sie im theologischen Alltag kaum bzw. allenfalls als textkritisches Hilfsmittel konsultiert, nicht jedoch als Quelle der eigenen theologischen Tradition und Auslegungsgeschichte gewürdigt. Dies mag verschiedene Gründe haben, zu denen auch die immer härter werdende Sprachbarriere und die da-durch bedingte Schwellenangst gehört. Vielleicht kann R.s anregendes Buch etwas zu deren Abbau beitragen. Um das griechische AT als Literatur würdigen zu können, müßte man es in der griechischen "Ursprache" zusammenhängend lesen. Im deutschen Sprachbereich ist dies - abgesehen vom engeren Kreis der LXX-Sachverständigen - nur wenigen möglich. Eine Arbeitsübersetzung der LXX, wie sie für das Französische von M. Harl erstellt wird, liegt im Deutschen nicht vor. So bleibt das über den textkritischen Rahmen hinausgehende Zeugnis der LXX weitgehend aus der theologischen Arbeit ausgeblendet, obwohl, wie der auf H. G. Gadamer zurückgreifende Titel des hier anzuzeigenden Buches andeutet, gerade die alte griechische "Übersetzung als Vollendung der Auslegung" gelesen werden kann, wenn auch nicht als deren Abschluß.

Fast gleichzeitig mit R. veröffentlichte J. W. Wevers seine "Notes on the Greek Text of Genesis", die allerdings mehr in der Linie der üblichen LXX-Benutzung liegen und das zu ihrer Übersetzung führende Textverständnis systematisch zu verfolgen suchen. R. will mehr, obwohl auch er die "übergeordnete Leitfrage" (7) benennt, "wie der Übersetzer den ihm vorliegenden hebräischen Text verstanden hat bzw. welches Verständnis des hebräischen Textes sich aus der Übersetzung erschließen läßt." Dabei sollen aber nicht nur einzelne Stellen besprochen, sondern es soll der Prozeß der Auslegung, wie er hinter LXX insgesamt steht, nachvollziehbar werden.

Gegenstand ist ausdrücklich nur die Gen-LXX (als erstes ins Griech. übertragenes Buch der hebr. Bibel) und hiervon wiederum nur Kap. 1-11. "Die Beschränkung auf die Urgeschichte hat einzig pragmatische Gründe" (7), spiegelt aber natürlich dennoch das heute übliche exegetische Urteil über die (inhaltliche) Stukturierung von Gen, das als solches auch in bezug auf LXX hinterfragt werden könnte, da Gen 12,1 weder im MT noch in LXX trennende Textsignale aufweist. - Vergleichsgrößen sind für R. ausdrücklich LXX und MT, d.h. wo Abweichung von MT festzustellen ist, ist i.a. nach der Übersetzungsintention zu fragen. Zur Begründung dieser methodischen Entscheidung beruft er sich (15) auf E. Tov und J. Wevers, die festhalten, daß "erst dann, wenn alle anderen Erklärungsversuche fehlschlagen, angenommen werden kann, daß ein von MT abweichender Text Vorlage des Übersetzers war". Ob R. diese Position zu Recht jener von R. Hanhart (daß vormasoretische Textformen "weithin auch dort als Vorlage der Septuaginta-Übersetzung vorausgesetzt werden müssen, wo man bis dahin mit Freiheit des Übersetzungsprinzips rechnete" - Hanhart-Zitat auf S.13) und A. Aejmelaeus entgegensetzt, ist der Rezn. zweifelhaft. Hanharts "vormasoretische Textform" bedeutet doch nicht irgendwelche anderen Textformen, die früher als MT sein sollen, sondern H. mahnt gegenüber raschen Urteilen über Freiheiten oder postulierte Harmonisierungen der Übersetzer zur Vorsicht. Dies ist auch R.s Anliegen. Eben wenn, wie R. (13) moniert, "keine Kriterien" vorliegen, "mittels derer... festgestellt werden könnte, wann eine Abweichung auf einer anderen Vorlage als dem MT beruht und wann es sich um einen Eingriff des Übersetzers... handelt" (Hanharts und anderer, v.a. der Schüler von S. Soininen, Arbeiten haben aber gerade solche Kriterien greifbarer gemacht), ist Zurückhaltung gegenüber dem Rechnen mit Eingriffen der Übersetzer geboten und nach einer Textgeschichte zu suchen, die Übersetzung und Entwicklung der MT-Form verständlich machen könnte. Dieser Grundsatz liegt auch R.s eigener 1. Hauptkategorie von "Abweichungen, die nicht theologisch auswertbar sind", zugrunde. Der 2. Hauptkategorie gilt jedoch sein Hauptinteresse: Bei den "Abweichungen, die Rückschlüsse auf den Übersetzer, seine äußere Situation und seine Theologie zulassen" (17), unterscheidet er zwischen Fällen von "Targumismus", wie etwa paraphrasierender Verdeutlichung, und Fällen, "die eine theologische Interpretation der Vorlage zeigen, welche von dem abweicht, was aus heutiger Sicht als der historisch ursprüngliche Sinn des Textes zu sehen ist" (18). Auch wenn hier "Einblick in die exegetischen Traditionen der Gemeinde des Übersetzers" (18) möglich wird, möchte die Rezn. zu bedenken geben, daß diese Tradition u. U. auch vorgriechisch sein kann, daß also die Frage, von wann ab eine "Neuinterpretation" eines "historisch ursprünglichen Textes" vorliegt, nicht zuletzt von der Definition des als "ursprünglich" Anzunehmenden abhängt. Dieses Problem wird z. B. auf S. 81 ff. zu Gen 1 und 2 greifbar. Mußte sich der Übersetzer wirklich "mit dem Problem befassen, daß ihm ein deutlich in zwei Teile zerfallender Schöpfungsbericht vorlag" (81), kann wirklich von einem "kaum verbundenen Nebeneinander der beiden biblischen Schöpfungsberichte" die Rede sein, das erst durch die Übersetzung zu einem "Bericht, der sinnvoll in zwei Teile unterschieden ist", wurde? Werden hier nicht Einsichten und Ansichten der neuzeitlichen hist.-krit. Exegese in die (griechische) Rezeptionsgeschichte des biblischen Textes rückprojiziert? Wird nicht vielmehr schon in der hebräischen Endgestalt, vielleicht gar in der P-Konzeption und auf alle Fälle in der frühesten Rezeptionsgeschichte des hebr. Textes das geleistet, was R. dem Übersetzer und dessen s. E. am Timaios des Platon geschulten Bemühen zuschreibt? Die "Verstehensbedingungen der hellenistischen Umwelt" (85) waren m. E. nicht derart gegenüber einem die hebr. Endgestalt tradierenden Judentum verändert, daß der Übersetzer den biblischen Bericht "als wahr und seinem Gegenstand angemessen" (85) erweisen mußte - das Übersetzungswerk als solches geht ja - das dürfte als Ergebnis der "Göttinger" und der "finnischen" Arbeiten festzuhalten sein - von dieser Geltung des Textes aus.

Daß die Annahme, der Übersetzer habe sich bei der Übersetzung von Gen 1 f. von Platons Timaios leiten lassen, bzw. die Hypothese, es habe in der Zeit und Umwelt dieses Übersetzers überhaupt eine entsprechende Platonrezeption stattgefunden, mit Schwierigkeiten verbunden ist (83), weiß R., doch beweist dies natürlich nicht ihre Unmöglichkeit. Allerdings wären die von R. genannten Parallelen zwischen platonischem Weltentstehungsbericht und Gen 1 u. 2 (Zusammenfassung, 81) z. T. auch anders (traditionsgeschichtlich) interpretierbar und überzeugen nicht immer. Übrigens trifft es nicht zu, daß beide Berichte "mit der Erschaffung der Tiere und der Frau" (81) schließen. Von einer separaten Erschaffung der Frau ist weder im MT noch in der ganz treu übersetzenden LXX die Rede (und - das sei nur in Klammern beigefügt - auch nicht von einem "Fluch", wie R. auf S. 95 schreibt). Das Problem des Nacheinander des Gleichartigen (Verwandtschaftsformel!) in Gen 2 ist in 1,27 bereits im P-Text einer systematischen Lösung zugeführt worden, die in LXX erhalten bleibt; doch auch der älteste Grundtext ("J") läßt die Frau aus der Rippe "aufgebaut" und gerade nicht separat geschaffen bzw. auch nicht "gebildet" werden.

Dem großen Hauptteil "II. Gen 1-11 in der Version der Septuaginta" (25-227) folgt ein systematischer Teil "III. Hauptlinien der Übersetzungsweise der Genesis-Septuaginta" (228-260). Auch hier möchte man gerne (z. B. zu nomos und dikaiosyn) in die Einzeldiskussion eintreten, die aber hier nicht ausgeführt werden kann. Nach R. zeigt sich, "daß dem Übersetzer... eher an der Verdeutlichung des inhaltlich Gemeinten als an einer durchgängig wörtlichen Übersetzung gelegen war, welche die Standard-Äquivalente benutzt" (235 f.). Die Rezn. möchte daraus schließen, daß die LXX zu Gen gar nicht ohne Bezug zum hebr. Urtext gelesen wurde. Vielleicht mußte erst, wo dieser selbst verlorenzugehen drohte - unter Verwendung von auf den Erstübersetzer zurückgehenden Standardaequivalenten -, möglichst konkordant übersetzt bzw. hebraisierend rezensiert werden.

Der Erstübersetzer verwendete geprägte hellenistische Be-griffe (242 ff.), so etwa ptolemäische Titel und Berufsbezeichnungen (243) und aktualisierte Textbezüge in der Übersetzung. So ist die Gen-LXX "ein eigenständiges Prokdukt jüdisch-hellenistischen Denkens" (247), dem R. Sprachkompetenz attestiert (249) und die "Aufnahme der platonischen Schöpfungsvorstellungen" (251) zutraut. Dabei rechnet er sogar mit einem ursprünglich eigenständigen LXX-Schöpfungsbericht Gen 1+2 als Keimzelle der ganzen Gen-Übersetzung. "Ein Interesse eigener Art zeigt sich bei den bisher unerklärten chronologischen Angaben der Genesis-LXX in den Kapiteln 5 und 11", die im Jahr 5000 der Welt das erste Jahr des zweiten Tempels in Jerusalem ansetzen und erkennen lassen, "daß sich der Übersetzer... in einem Gespräch mit den Gebildeten Alexandriens befunden haben muß" (252). Bemerkenswert ist dann, daß er "sehr selten die Anthropomorphismen bei Aussagen über Gott korrigiert hat" (253).

Weder gottesdienstliche Bedürfnisse noch der Zweck eines für staatliche Stellen zu erarbeitenden Gesetzbuches motivieren nach R. die Übersetzung. Alle Beobachtungen "weisen... auf ein geistiges Klima, das es im Alexandrien des dritten vorchristlichen Jh.s vor allem im Umkreis der Einrichtungen von Museion und Bibliothek gegeben hat" (257). Dort sollte "die heilige Schrift in der aktuell gesprochenen Sprache verfügbar" gemacht werden (259). Dabei "ist auch griechisches Gedankenbut in die Bibel des alexandrinischen Judentums eingeflossen." Auch wer dieses Gedankengut in der Gen-LXX zurückhaltender identifizieren möchte als R., wird dieses Buch dankbar benutzen. Es verdient nicht nur Beachtung, sondern weiterführende Diskussion. Das Interesse ist in vielfältiger Weise geweckt, ein Anfang ist gemacht. Auf Weiteres wird man gespannt sein dürfen.