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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

641–644

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Lüder, Andreas

Titel/Untertitel:

Historie und Dogmatik. Ein Beitrag zur Genese und Entfaltung von Johann Salomo Semlers Verständnis des Alten Testaments.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. X, 260 S. gr. 8o = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 233. Lw. DM 148,-. ISBN 3-11-014627-4.

Rezensent:

Graf Reventlow

Die Marburger Dissertation Lüders' (Doktorvater O. Kaiser) stellt die bisher gründlichste Untersuchung der Auffassung J. S. Semlers (1725-1791) vom AT dar. Der Gang durch die Veröffentlichungen S.s, angefangen bei den noch in der Auseinandersetzung mit seinem Lehrer S. J. Baumgarten (1706-1757) stehenden Frühwerken bis zu seinen Äußerungen letzter Hand, ermöglicht darüber hinaus einen umfassenden Einblick in S.s hermeneutische und dogmatische Auffassungen, die sich übrigens in über dreißig Jahren bemerkenswert wenig gewandelt haben. Sein Gesamtopus erweist sich als konsequente (wenn auch nicht immer zu Ende geführte) Durchführung eines Programms, wobei die Bedeutung S.s als einer der wichtigsten Theoretiker der historisch-kritischen Forschung erneut hervortritt. Das AT spielt dabei, im Zusammenhang der Frage des Kanons, eine Schlüsselrolle.

Nach einem Prolog über das geistige Umfeld S.s (1; 1-7) und einem Forschungsüberblick (2; 8-42) beschäftigt sich L. zunächst (3; 43-116) mit den Arbeiten von 1759/60, in denen S. eine eigene dogmatische und hermeneutische Position festlegte. Dabei handelt es sich zuerst um die der von S. posthum hg. "Evangelischen Glaubenslehre" Baumgartens (Bd.1-3; 1759-60) beigegebene "Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelehrsamkeit..." Ausgehend von der grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen Vernunft und Offenbarung, nimmt S. hier die Bibel (mit Baumgarten und Chr. Wolff) als ge-schichtliche Urkunde in den Blick. Da die Offenbarung sich jeweils dem Entwicklungsstand der Erkenntnisfähigkeit der Offenbarungsempfänger anpassen muß, ist die Bibel nicht auf einer Ebene zu sehen. Die darin liegende Kritik an dem orthodoxen Kanonbegriff begründet zugleich den historisch-theologischen Unterschied zwischen AT und NT. Außerdem weist S., in Modifikation der Auffassungen Baumgartens, der Dogmatik, Schriftauslegung und Erbauung jeweils eigene Aufgaben zu. An den orthodoxen dogmatischen Systemen kritisiert er insbesondere den s. E. überholten Kanon- und Inspirationsbegriff (57). Beachtlicherweise kann L. bereits hier den ersten Beleg für die Unterscheidung zwischen Schrift und Wort Gottes bei S. ausfindig machen (69 u. A. 63; vgl. auch 99f. u. A. 130). Damit verbunden ist die Warnung an die Dogmatik vor einem vorschnellen Bezug ihrer Lehrsätze auf das AT. Am ehesten konnte S. an die "liberale" Jenaer Schule anknüpfen (58). Hervorgehoben wird vor allem S.s apologetisches Interesse, aus dem heraus er "einen verbesserten Schriftbezug der Dogmatik auf der Grundlage einer angemesseneren Schriftauslegung forderte" (ebd.). Auch lehnte er die einem erbaulichen Schriftgebrauch dienende pietistische Unterscheidung zwischen einem natürlichen und übernatürlichen Sinn (sensus naturalis und supernaturalis) ebenso wie eine spezielle Hermeneutik für Wiedergeborene ab. Der Literalsinn der Bibel ist für jedermann verständlich. -Diesen Ansatz setzte S. in seiner "Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik..." (1760) fort. Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen Auslegung und Anwendung der Hl. Schrift. Für die Auslegung sind Kenntnis des Sprachgebrauchs und der historischen Umstände biblischer Rede entscheidend, die Menschen im heutigen Sprachgebrauch erläutert werden müssen (88). Textkritik ist dafür die Grundlage (auf die S. im 2. Bd. näher eingeht). Außerdem wendet sich S. gegen die universalisierende Allegorisierung des AT im christlichen Sinne, das vielmehr als Zeugnis der israelitisch-jüdischen Religion aufzufassen sei (außer wo ein allegorisches Verständnis bereits durch Jesus und die Apostel vermittelt sei, oder wo es der erbaulichen Anwendung diene). - Erstaunlich, daß S. nach dieser theoretischen Grundlegung kaum Auslegungen von Büchern des AT veröffentlicht hat (106; vgl. aber zur Hermeneutik der Psalmen, 107-116).

Der folgende Abschnitt (4; 1 17-215) behandelt die Hauptschriften S.s aus den Jahren nach l770. Hier geht es vor allem um die (vierbändige) "Abhandlung von freier Untersuchung des Canon" (1771-75). Ein Treffen der bekanntesten neologischen Theologen in Magdeburg (1770) habe für die erneute Beschäftigung mit hermeneutischen Fragen den Anstoß gegeben (119-122). Als Hauptergebnis hebt L. die Betonung "des ebenso historischen wie theologischen Abstandes zwischen dem Alten Testament als der Urkunde der israelitisch-jüdischen Religion einerseits und dem Neuen Testament als dem Zeugnis der Anfänge der christlichen Religion anderereits" (118; vgl. 125) hervor. Für die Rezeption des AT sei "das Kriterium der inneren Verbindlichkeit" (135) im Sinne der in ihm enthaltenen universal gültigen moralischen Wahrheiten entscheidend. Dadurch wird einerseits das AT insgesamt als Zeugnis eines heilsgeschichtlichen Partikularismus von vornherein abgewertet; andererseits gilt dies insbesondere für seine historischen Bücher, in denen eine partikulare Geschichte erzählt und weitgehend keine allgemeinen Wahrheiten geboten werden. Der Vorschlag, für den christlichen Gebrauch einen Auszug aus dem AT herzustellen (vgl. 161 ff., 171), eine Zusammenstellung der in ihm enthaltenen "ewigen moralischen Grundsätze'' zu bieten (172), entspricht diesem Ansatz. Im Hintergrund steht auch S.s bekannte Unterscheidung zwischen einer öffentlichen und einer Privatreligion, wobei dem Individuum durch eine solche Auswahl Material zur eigenen Erbauung bereitgestellt werden soll.

Des weiteren bespricht L. das Handbuch der Exegese des AT ("Apparatus ad liberalem Veteris Testamenti interpretationem", 1773), in dem S. seine Grundsätze in Auseinandersetzung mit dem spätorthodoxen Werk von J. G. Carpzov ("Introductio ad libros canonicos bibliorum Veteris Testamenti omnes...", Bd. I-III 1714-1721; Bd. I, 17272) durchführt (4.2; 180-197). Hauptabsicht ist es, das Verständnis des AT von allegorischen und typologischen Ausdeutungen zu befreien und den Literalsinn als einzigen Sinn herauszustellen (185 f.) - u. a. durch ausführliche Behandlung der geschichtlichen Rolle der Propheten, die andererseits als Lehrer der für S. typischen Unterscheidung zwischen öffentlicher und Privatreligion in Anspruch genommen werden (!) (188). - Den dogmatischen Ertrag seiner Kanonkritik stellt S. anschließend vor allem in seinem "Versuch einer freien theologischen Lehrart..." (1777) dar (4.3; 198-215). Zentral sind hier u. a. die Unterscheidung zwischen "dem Worte Gottes" (= "der heilschaffende moralische Unterricht der Menschen durch Gott") einerseits, der jüdischen Nationalhistorie und Mythologie andererseits (200) - interessant ist S.s besonderes Interesse für die Psalmen als dem Idealbild von Religion (205 f.) - sowie zwischen Gehalt der Bibel und zeitgenössischer Einkleidung (210).

In den anschließenden Abschnitten 5 und 6 geht L. noch auf S.s Stellungnahme im Fragmentenstreit ("Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten...", 1779) und auf sein "Letztes Glaubensbekenntnis", posthum 1792) ein. Bezeichnend ist, wie S. sich gegen eine noch radikalere Kritik an AT und Judentum (durch H. S. Reimarus) abgrenzen zu müssen glaubt. Die (für manche überraschende) positive Stellungnahme S.s zum Wöllnerschen Religionsedikt ("Verteidigung des königl. Ediktes...", 1788) reiht sich für L. in eine von S. durchgehaltene Haltung ein, die einmal zwischen öffentlicher und Privatreligion unterscheidet, zum anderen zwischen Theologie und Religion. Da die Privatreligion von dem Edikt gar nicht berührt wird, konnte S. die Abwehr des Naturalismus in ihm durchaus begrüßen. Von ähnlichem Geist ist auch sein "Letztes Glaubensbekenntnis" getragen. - Ein Abschlußkapitel (7; 240-252) weist insbesondere auf F. D. E. Schleiermachers (1768-1834) Einstellung zum AT hin, die er durch dessen Studium in Halle (1787-89), vor allem unter S., geprägt sieht. Auf weiterreichende Spätfolgen wäre aufmerksam zu machen!

Man wird nicht ohne Anerkennung dieses sorgfältige, auch die Sekundärliteratur umfassend berücksichtigende Buch aus der Hand legen. Für die künftige Beschäftigung mit S. wird es unentbehrlich sein. U. E. enthält es allerdings einen schwerwiegenden Irrtum, der die Semler-Forschung bereits über mehr als ein Jahrhundert begleitet (vgl. 16 ff.; außerdem zur Auffassung des Rezensenten 240 f.): In S.s Position eine Verbindung zu Luther zu suchen (auch wenn sich S. gelegentlich auf diesen berief, vgl. 128, A. 43; 147, A. 85; eine Anspielung auch bei L., 237, A. 48) ist bei deren gegensätzlichem theologischen Ansatz abwegig (trotz der Bemerkung 131 oben). Hier trennt sie in Wirklichkeit ein Abgrund. S.s. eigene Ideologie tritt in der Darstellung L.s deutlich genug hervor, vgl. etwa das Zitat aus S. 84, A. 84: "Die heil. Schrift hat zum Hauptzweck die moralische Besserung der Menschen", und auch L. betont, daß "Semlers Schriftverständnis wesentlich von moralischen Kategorien ge-prägt" war (200) und verweist auf seine von Melanchthon und G. Calixt (1586-1656) übernommene Hochschätzung der antiken Moral (154, A. 114), wozu auch das "pelagianisierende () Sündenverständnis" (159, A. 126) gehört. Der Gedanke der moralischen Erziehung des Menschen, durch Lessings Erziehungsschrift berühmt geworden, ist typisch humanistisch-aufklärerisch und nicht reformatorisch. Wie L. demgegenüber davon sprechen kann, S. habe sein Lehrstück von der Hl. Schrift "an der soteriologischen Abzweckung der Heiligen Schrift gemessen" (215; vgl. 153. 179), ist wenig einsichtig, und auch, daß er "den christlichen Glauben evangelisch-lutherischer Prägung" "durch einen verbesserten Schriftbezug" verteidigt habe (227), ist, genau wie der orthodoxe Begriff "medium salutis" für die Bibel (149) im Zusammenhang mit S. (127), inhaltlich nicht zu rechtfertigen.

Eine andere Frage ist die nach der formalen Aufnahme der Systematik und Begrifflichkeit der altprotestantischen Dogmatik. Diese war S. vorgegeben; daß er (über Baumgarten) strukturell an sie anknüpfte, hat L. gezeigt (vgl. 148-153) und ist ohnehin naheliegend. Daß er zu ihr formal keinen radikalen Bruch vollzog (153), kann den um so deutlicheren inhaltlichen Bruch in seiner Theologie nicht verdecken. Freilich war auch die aufklärerische Morallehre der Neologen religiös geprägt; daß der Mensch "in der Verantwortung vor Gott" zu handeln habe (138, A. 67; vgl. auch 77, A. 74) trifft durchaus S.s Haltung. Wenn er sich gegen den radikalen Naturalismus eines Reimarus wenden mußte, war dies deshalb nur konsequent. Subjektiv hat er sich gewiß als lutherischer Theologe gefühlt, und so wollte er an der Bibel als Buch der Offenbarung eindeutig festhalten. Die apologetische Tendenz seiner Bemühungen ist durchaus richtig gesehen. Andererseits sollte man die Differenz seiner Auffassungen zur reformatorischen Botschaft klar herausstellen. Ein solches Unterscheidungsvermögen ist gerade in der heutigen Situation besonders wichtig. Die Paradoxie, daß eine historisch-kritische Sicht bei S. ausgerechnet von einem zeitlosen Wertesystem her begründet wurde, kommt hinzu. Gerade angesichts der heute begegnenden teilweisen Infragestellung des historisch-kritischen Ansatzes sind hier Probleme verborgen, die noch auf eine Antwort harren.