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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

795–797

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kalimi, Isaac

Titel/Untertitel:

Zur Geschichtsschreibung des Chronisten. Literarisch-historiographische Abweichungen der Chronik von ihren Paralleltexten in den Samuel- und Königsbüchern.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. IX, 400 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 226. Lw. DM 188,-. ISBN 3-11-014237-6.

Rezensent:

Thomas Willi

Mit Interesse und Dank wird man die - auch sprachlich vorzügliche - deutsche Fassung dieser Untersuchung begrüßen. Sie hat 1985 als Dissertation bei Israel Ef'al unter dem Titel To'afot schäl-schinnu'im sifrotijim-historiografijim ba-tekstim ha-maqbilim ben Sefär Dibre ha-Jamim le-Sifre Schmu'el-Melachim dem Senat der Hebräischen Universität in Jerusalem vorgelegen. Die deutsche Neuausgabe profitiert von verschiedenen in der Zwischenzeit erschienen Arbeiten des Vf.s im entsprechenden Forschungsbereich, so unter anderem von The Books of Chronicles - A Classified Bibliography (Jerusalem 1990) und dem Aufsatz über Die Abfassungszeit der Chr (ZAW 105, 1993, 223-233). An der Datierung des Chronisten in das "ausgehende 5./frühe 4. Jahrhundert" (8) hält er fest.

"Nahezu die Hälfte des Textmaterials der Chr (hat) Parallelen in den Samuel- und Königsbüchern" (2). Von diesen Paralleltexten geht der Vf. aus. Die Definition der Chr als "Auslegung", durch die sich das biblische Werk als "am Ende des Prozesses der Kanonisierung der... ersten beiden Drittel des hebräischen Ka-nons erweist" (T. Willi, Die Chr als Auslegung, 1972, 176), hält er dabei für zu eng. Der "literarisch-historiographischen Neugestaltung der Paralleltexte" gilt das Interesse der Untersuchung (10, vgl. 7), gerade auch weil ihr Vf. die Behandlung der dabei angewandten Techniken in dem umfassend angelegten Werk von S. Japhet (The Ideology of the Book of Chronicles and Its Place in Biblical Thought, hebr. 1977, engl. 1989) vermißt. Der Chronist erscheint weniger als Interpret einer älteren Geschichtsdokumentation denn als "schöpferischer Schriftsteller" (7), der "den ihm vorliegenden Stoff auch auffrischt, neu schreibt und literarisch gestaltet" (322). Folgende literarische Gestaltungstechniken treten dabei hervor:

- Indem er eine "literarische als chronologische Folge" (I: 18-34) auffaßt, macht "der Chronist... deutlich,... was der dtr Historiograph seinen Lesern indirekt, zwischen den Zeilen, zu vermitteln versucht" (33).

- Durch "historiographische Korrekturen" (II: 35-56) werden Widersprüche innerhalb der früheren Überlieferung entweder aufgehoben, vermieden oder ausgeglichen. Wenn etwa nach 1Chr 10,12 (die Stellenangabe fehlt 48 f.) die 1Sam 31,12 f. bezeugte Verbrennung der Leichen Sauls und seiner Söhne fehlt, dann weil eine solche Praxis im Widerspruch zur Tradition von Tora und Propheten steht, die Verbrennung nur im Falle schwerwiegender Verbrechen kennt.

- Könnten diese beiden Kategorien den Chronisten nun doch als Ausleger erscheinen lassen, so tritt bei den "Ergänzungen" (III: 57-79) das schriftstellerische Schaffen stärker in den Vordergrund. Allerdings ergänzt der Chronist "den Wortlaut von Samuel-Könige" mit Vorliebe "nach einer anderen Stelle in diesen Büchern selbst oder anderswo im biblischen Schrifttum" (57). Interessant sind Fälle wie 2Chr 2,9, wo Salomo nach dem Muster des Berichts über den Bau des zweiten Tempels Esr 3,7 auch für Lieferungen zum ersten mit "Wein" bezahlt, was in 1Kön 5,24 f. nicht steht.

- Die "Auslassungen" (IV: 80-91) in Chr sind sehr unterschiedlich motiviert. So gleicht der Chronist oft Zahlenangaben aus oder läßt sie weg, während er dagegen Passagen, "die ur-sprünglich kein Zahlengerüst hatten, mit einem solchen versieht" (91). - Wäre somit seine Geschichtserzählung nicht nur als Neubearbeitung der dtr, sondern in gewisser Hinsicht auch als Alternative und Ergänzung dazu zu verstehen? In diese Richtung scheint die "Ersetzung gegebener und gleichwertiger Namen" (V: 92-99) zu deuten.

Bis hier leuchtet die Systematik der eruierten Verfahrenstechniken ein. Weniger präzise sind die drei Kategorien "Behandlung schwieriger Texte", "Harmonisierung" und "Gestaltung von Personen" (VI-VIII: 113-164), während dann wieder einleuchtend sind "Maß für Maß", "Anspielung" , "Chiasmus" bzw. "Parallelen-Chiasmus" sowie "Wiederaufnahme, anaphorischer Neueinsatz" (IX-XIII: 165-248).

Auf einer etwas anderen Ebene stehen die Rubriken "Literarischer Rahmen", "Antithese" und "Vergleich" (XIV-XVI: 249-299), die sich nicht notwendig auf die Parallelpassagen beziehen. Das Stilelement des "Leitworts" wird zu Recht nur ganz knapp behandelt (XVIII: 300-304), denn es ist "nicht auf die Chr be-schränkt" (300); genannt werden 2Chr 18; 25,17; 28,16. Wieder anders gelagert sind schließlich die "Zahlenschemata" (XVIII: 305-310) und die Kategorie "Ober- und Unterbegriff" (XIX: 311-318).

Der Überblick zeigt, daß eine immense Durchforstung chronistischer Stoffgestaltung vorliegt. Einzelexegeten wie Kommentatoren werden die Untersuchung, vor allem anhand der beigegebenen Register, mit Gewinn zu Rate ziehen. Schwieriger ist es, über die teilweise auf recht unterschiedlichen Ebenen liegenden Ru-briken zu einem Gesamteindruck über Person und Werk des Chronisten und seiner geistesgeschichtlichen Einordnung zu gelangen. Die Stärke der Untersuchung liegt in der Präsentation
des Befundes in Chr und dem Vergleich mit ähnlich gelagerten Phänomenen in der außer- und nachbiblischen Geschichtsverarbeitung. Ob und inwieweit die "literarische Gestaltung der Paralleltexte in der Chr... in typologischer Hinsicht an manchen Punkten vergleichbar" mit der Ausformung der parallelen Episoden in den assyrischen Königsinschriften ist (325), ist angesichts der Datierung der Chr fraglich; von der Zeit her läge ein Vergleich mit der griechischen Historiographie näher.

An Ergebnissen seien hier nachdrücklich festgehalten: 1. Die prämasoretische Tradition "ging mit dem Bibeltext" zwar gewiß "frei" um (320), blieb aber, gerade auch im auktoriellen Bereich, stets auf diesen bezogen. 2. Die in der ganzen Chr einheitlich festzustellende Verfahrenstechniken legen den Schluß nahe, daß "die Chr aus einem Guß" ist (321 f.) - daß Esr-Neh ein von Chr unabhängige Werk ist, steht für den Vf. außer Frage (vgl. 322). 3. Die Chr stellt ein im Vergleich zu den früheren historischen Schriften "neues Werk" (323 f.) dar. Die Motive und die durch sie bedingte Gesamtform dieses spätisraelitisch-frühjüdischen Werks, der "eine Guß", bleibt freilich noch zu bestimmen. Der seinerzeit mehr heuristisch gewählte Begriff der "Auslegung" mit seinem Korrelat einer kanonischen bzw. prophetisch inspirierten "Schrift" erscheint durch diese gründliche Untersuchung jedenfalls so weit nicht falsifiziert, als er die Voraussetzungen des schriftstellerischen Schaffens des Chronisten zu umreißen sucht; eher spornen ihre Ergebnisse dazu an, das hermeneutische Gefälle zwischen Vorlage und Chronik zu verfeinern und zu differenzieren. Dem Argument, die Samuel- und Königsbücher gölten dem Chronisten deshalb nicht als kanonisch, weil er sie gerade nicht als abgeschlossene, unveränderliche Schriften behandle, ist entgegenzuhalten, daß die Chr offenbar einer Zeit und Geistigkeit entstammt, die keine Fortschreibung des dtr Geschichtswerks mehr erlaubte und die daher den Geschichtserzähler zwang, zu jenem eigenständigen Schriftsteller zu werden, als der er in dieser wegweisenden Untersuchung erscheint.