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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

820 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Feist, Udo

Titel/Untertitel:

Ezechiel. Das literarische Problem des Buches forschungsgeschichtlich betrachtet.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohl-hammer 1995. gr. 8o = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 138. Kart. DM 89,-. ISBN 3-17-013696-8.

Rezensent:

Thomas Krüger

F. erkennt in der neueren Forschung fünf verschiedene "Lektüremodelle" für das Ezechielbuch (12 ff.): (1) Es dokumentiert im wesentlichen das (politische) Wirken des Propheten Ezechiel (B. Lang). (2) Es ist Resultat der "Fortschreibung" relativ umfangreicher ezechielischer Textvorlagen durch eine "Schule", die mit ihren "Ergänzungen und Nachinterpretationen... der vom Propheten selber bezeichneten Grundlinie" folgte (W. Zimmerli). (3) Das Buch ist "das Ergebnis sukzessiver Fortschreibungen" eines relativ schmalen ezechielischen Grundbestandes durch "unterschiedlich motivierte literarische Gestaltungskräfte" über eine relativ lange Zeitspanne hinweg (K.-F. Pohlmann, vgl. J. Garscha). (4) Es ist ein literarisch einheitliches Pseudepigraph aus späterer Zeit (J. Becker). (5) Es ist das (einheitliche) literarische Werk des als Schriftsteller verstandenen "historischen Ezechiel" (M. Greenberg, E. F. Davis).

Mit dieser von einem Konsens weit entfernten Diskussionslage befindet sich die Forschung nach F. "an einem Nullpunkt" (12). In dieser Situation möchte er mit seiner 1994 in Bochum bei H. Graf Reventlow abgeschlossenen Dissertation "mittels der Verbindung von Forschungsgeschichte und -kritik sowie Begriffsgeschichte die aus (s)einer Sicht brüchigen Voraussetzungen gängiger Bilder Ezechiels und... des Ezechielbuches aufzeig(en)". Dadurch soll "eine exegetische Lösung ins Auge gefaßt und eine Richtung skizziert (werden), in der diese liegen müßte". Hierzu erscheinen ihm eine "stärkere Betonung eigentlich literaturwissenschaftlicher Betrachtungskriterien und die Hinterfragung der Gültigkeit gängiger Prophetenbilder... unum-gänglich" (Vorwort, 7).

Nach einer (etwas änigmatisch formulierten) "Einführung" (9 f.) skizziert F. zunächst die "Voraussetzungen, Methoden und Ziele" seinerArbeit (Kap. I., 11 ff.). Darauf zeichnet er begriffs-geschichtlich die Veränderungen nach, die die Begriffe "Schriftsteller" und "Prophet" in den letzten Jahrhunderten durchlaufen haben (Kap. II., 24 ff.). Damit wird ein zentraler Aspekt der Forschungsgeschichte zum Ezechielbuch besser verständlich, die F. in den folgenden Kap. III. bis VII. (51 ff.) von Herder bis Pohlmann referiert und diskutiert. Dabei geht er allerdings nur kurz und selektiv auf das 20. Jh. ein (Kap. VII., 151 ff.).

Im 19. Jh. bestand ein weitgehender Konsens über die literarische Einheitlichkeit des Buches und seine Herkunft von Ezechiel. Diskutiert wurde v. a. darüber, ob das Buch (noch) als Dokument des Wirkens eines "echten" Propheten zu lesen sei oder (schon) als literarisches Werk eines "Schriftstellers" (nach Art der späteren "apokalyptischen" Literatur). Die Herkunft des Buches vom "historischen Propheten Ezechiel" stellten v. a. L. Zunz und L. Seinecke in Frage, die es als (apokalyptisches) Pseudepigraph betrachteten. Mit der Annahme der literarischen Uneinheitlichkeit des Buches (J. Herrmann) und deren Erklärung durch größtenteils nachezechielische Redaktionen (G. Hölscher) entwickelte sich dann im 20. Jh. das eingangs skizzierte Spektrum von "Lektüremodellen". Dabei wird die Gegenüberstellung von "Prophet" und "Schriftsteller" insbesondere durch die redaktionsgeschicht-lichen Erklärungsmodelle stark relativiert; diesem Sachverhalt legt F. m. E. zu wenig Gewicht bei.

Nach seinem Durchgang durch die Forschungsgeschichte skizziert F. im Schlußkapitel seiner Arbeit ("Der Schriftsteller und das Buch - eine alte Frage neu verhandelt": Kap. VIII., 198 ff.) seine eigene Deutung des Ezechielbuchs als apokalyptisches Pseudepigraph und "schrifstellerisches Werk" (in weitgehender Übereinstimmung mit J. Becker).

F. macht aufmerksam auf die kulturgeschichtliche Bedingtheit exegetischer Erklärungsmodelle. Mit Recht fordert er eine sorgfältige literarische Analyse des vorliegenden Buches als Ausgangspunkt der Interpretation. Die Suche nach der "großen Gestalt" des Propheten und seiner "ipsissima vox" kann sachgemäß (wenn überhaupt) erst danach in Angriff genommen werden (199 ff.). F. deutet weiter an, daß und wie das Ezechielbuch auf dem Hintergrund apokalyptischer Literatur gelesen werden könnte (217 ff.). Er kann aber nicht wirklich plausibel machen, daß es auch vor diesem Hintergrund (als einheitliches Werk) verfaßt worden ist. Dazu bedürfte es eigenständiger exegetischer Analysen (die nach dem Vorwort "letztlich einem Kommentar als Desiderat vorbehalten" bleiben müssen: S. 7), aber auch einer präziseren literaturwissenschaftlichen Klärung des Verhältnisses von "synchroner" und "diachroner" Lektüre sowie des Konzepts (synchron oder diachron zu erklärender) "literarischer (Un-)Einheitlichkeit". So besteht der Wert dieser Studie m. E. weniger in den von ihr eröffneten Perspektiven für die weitere Ezechielforschung als in der Erinnerung an nach wie vor beachtenswerte Forschungsbeiträge aus dem 19. Jh.