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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1091–1095

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Nipkow, Karl Ernst

Titel/Untertitel:

Bildung in einer pluralen Welt. 1: Moralpädagogik im Pluralismus. 2: Religionspädagogik im Pluralismus.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1998. 329 S. u. 610 S. gr.8. Geb. DM 98,- u. 128,-. ISBN 3-579-00404-2 u. 3-579-00406-9.

Rezensent:

Klaus Goßmann

In dem vorliegenden Werk geht es dem Tübinger Religionspädagogen Karl Ernst Nipkow um die Gestaltung einer ethischen und religiösen Bildung, verstanden als reflexive (Selbst-) Bildung des Subjekts, unter den Bedingungen eines ethischen und weltanschaulich-religiösen Pluralismus. Dies ist für ihn nicht nur eine bildungstheoretische Frage. Sie ist zugleich bildungspolitisch für den Religionsunterricht höchst bedeutsam und lässt sich schulpädagogisch nur kooperativ lösen. Dabei geht es N. vor allem um die Kooperation mit dem Fach Ethik, das mittlerweile in allen Bundesländern, wenn auch unter verschiedenen Bezeichnungen, eingeführt worden ist. Doch wie pluralismusfähig sind diese beiden Fächer? Unter welchen Bedingungen können sie jeweils für sich und gemeinsam das Bildungsziel der Verständigung realisieren? Unter dieser Leitfrage entwirft N. in den beiden Teilbänden die Grundzüge einer Moralpädagogik bzw. einer Religionspädagogik.

Den Ausgangspunkt für den ersten Band, der der Moralpädagogik gilt, gewinnt N. durch die Analyse des gesellschaftlichen Bedingungsfeldes. Sie erfolgt mehrperspektivisch und ergibt ein ambivalentes Bild. N. macht dabei deutlich, dass die ethische Fragestellung nicht als Additum zu den analysierten Sachbereichen - sei es der gesellschaftspolitische Pluralismus, der ökonomische Konkurrenzpluralismus oder der psychosoziale Orientierungspluralismus - hinzutritt, sondern aus ihnen in zunehmender Dringlichkeit selbst erwächst. Auf der anderen Seite bieten die diese Sachbereiche bestimmenden und in ihnen gelebten Werke keinen zureichenden Anhalt für die ethische Bildung. Diese Situation wird dadurch verschärft, dass auch die Praktische Philosophie als Bezugswissenschaft des Faches Ethik durch einen Ethik- und Moralpluralismus bestimmt ist, der zwischen normativer Orientierung und pluralen Ethikentwürfen schwankt. Daraus ergibt sich eine doppelte Aufgabe. Die Moralpädagogik als "Theorie sittlicher oder ethischer Erziehung und Bildung" (I, 73) muss sich verstehend auf diese Pluralität - als Basis der Demokratie, als notwendig für ökonomische Zielsetzungen, als Gegebenheit religiöser und individueller Lebensformen - einlassen und somit dem Differenten gerecht werden. Sie muss zugleich der Notwendigkeit einer gemeinsamen pluralen Welt entsprechen und eine Überbrückung des Differenten anstreben. In diesem Sinn versteht N. Moralpädagogik "als eine verstehende (hermeneutische) rekonstruktive und kritisch-normative Disziplin" (I, 75).

Wie aber lässt sich dieser kritisch-normative Aspekt gewinnen? Dies ist die eine Leitfrage des moralpädagogischen Bandes. N. löst sie so, dass er fünf Grundmodelle ethischer Erziehung und Bildung diskutiert, indem er nach ihren bleibend-gültigen Aspekten fragt und zugleich das philosophie- und zeitgeschichtlich Differente herausarbeitet. Dabei hat er jeweils schon die andere Leitfrage dieses Bandes im Blick, die didaktische Realisierung ethischer Bildung.

Das erste Modell philosophischer Ethik, die klassische Tugendethik, wird darin positiv gewürdigt, dass in ihr "die Hinwendung zum Ethos und die Erneuerung einer Tugendethik" (I, 86) intendiert ist und in schulischen Ethikkonzepten, so z. B. in Bayern, realisiert wird. Allerdings wird dabei die Frage nach den gemeinsamen Grundwerten "im Sinne der ontologisch zu verstehenden Objektivität der Werte" beantwortet (I, 82). Dies aber lässt sich für N. mit dem Bildungsverständnis nicht vereinbaren. Zum einen verletzt ein solcher holistischer, d. h. universal geltend gemachter Anspruch von Tugenden und Werten den Aspekt der kulturellen Pluralität. Zum anderen vermag eine auf "Einweihung und Heimischwerden im Sittlichen" ausgerichtete Erziehung (I, 102) das Kriterium einer kritischen Reflexivität nicht angemessen zur Geltung zu bringen, da sie die Gesichtspunkte der Motive ethischen Handelns und des eigenverantwortlichen Umgangs mit Werten und Tugenden vernachlässigt.

Auch das zweite Modell, das N. im Rückgriff auf Kant und den Kantianer Otfried Höffe skizziert, ist in hohem Maß an dem normativen Aspekt orientiert, intendiert aber zugleich die sittliche Reflexion. Damit entsteht ein Spannungsmoment. N. nimmt es in der Weise auf, dass er nach nichtpluralisierbaren ethischen Verbindlichkeiten fragt und sie mit dem Hinweis auf die Grund- und Menschenrechte und die in ihnen inkorporierten Grundwerte beantwortet. Deren kulturspezifische und auch lebensformspezifische Auslegung bedingt zugleich ethische Urteilsfähigkeit. Die Lösung liegt für N. in der "Vermittlung der als universal geltend gemachten sittlichen Maßstäbe mit dem Ethos besonderer Lebensformen" (I, 133). Das Stichwort der Lebensform verweist dabei auf eine pädagogische Implikation. Ethische Bildung kann sich angesichts pluraler Lebensformen nicht allein kognitiv vollziehen und sich auf die Einübung in kritische Reflexivität und Diskursfähigkeit konzentrieren, sie muss auch die Lebenswelt und Erfahrungen der Lernenden selbst einbeziehen, bestimmte ethische Verhaltensweisen intendieren und dazu in verlässliche Beziehungen eingebettet sein. In diesem Sinn geht es N. nicht um "Einweisung", wohl aber um eine "Einübung in Ethos und Tugenden" (I, 139).

Ein generell neues Paradigma stellt für die ethische Bildung und Erziehung die von Hans Jonas und Alfred K. Treml entwickelte Verantwortungs- und Überlebensethik dar, weil sie sich nicht an den aus der Vergangenheit überkommenen Tugenden, sondern an den Folgen menschlichen Handelns für die Zukunft orientiert. Bei diesem dritten Modell steht wiederum der normative Aspekt im Vordergrund, sowohl durch die inhärente ontologische Begründung, "daß auch in Zukunft eine Menschheit sei", als auch durch seine Überlebens- bzw. Unterlasssungsmaximen.

Damit verbindet sich ein hoher pädagogischer Anspruch: "Ethisches Lernen soll sich verhaltensprägend und handlungsbezogen auswirken." (I, 163) Im ökologischen Paradigma verlagert sich die Frage der Lehr- und Lernbarkeit von Ethik auf die Ebene der Natur. Sie spricht den Menschen an, im Sinne der Bewahrung und des schonend-nachhaltigen Umgangs mit ihr, und beansprucht darin eine nichtpluralisierbare ethische Verbindlichkeit. Dies aber gerät in Spannung zu dem Bildungsverständnis, das ethische Reflexivität nicht nur im Umgang mit letztlich normativen Ansprüchen entfaltet, sondern dazu auch der menschlichen Sprache bedarf, um das hermeneutisch-rekonstruktive Moment ethischer Bildung zur Geltung zu bringen.

Diesen Anspruch sieht N. in dem philosophisch-anthropologischen Ansatz von Emmanuel Lévinas gegeben, den er als viertes Modell heranzieht. Dessen Stärke liegt darin, dass sich in ihm der normative Anspruch in der "primären Sozietät", in der Begegnung mit dem Antlitz des Anderen im wahrsten Sinn des Wortes verkörpert, und dass der Andere zugleich durch seine Andersheit die Auseinandersetzung mit Pluralität bedingt. Damit erfährt N.s Bildungsbegriff seine eigentliche Füllung: in der individuellen Selbstreflexivität, die des Anderen zur ethischen Selbstbildung bedarf, und in der sozialen Dimension, dass vom Anderen her - sei es als der Fremde oder als der Feind- die Lösung der ethischen Probleme in dieser "zerrissenen und zugleich gemeinsamen pluralen Welt" (I, 202) zu suchen ist. Um darin den Einzelnen nicht zu überfordern, plädiert N. anhand seines fünften Modells, in dem der Gesichtspunkt der Evolution für ethisches Lernen fruchtbar gemacht wird, für einen Lernansatz, der ontogenetisch-lebensgeschichtlich die Entwicklung der Erkenntnisfähigkeit in Kindheit und Jugendzeit berücksichtigt und zugleich in Einbeziehung des menschheitsgeschichtlich phylogenetischen Aspekts die schrittweise Ausweitung ethischen Lernens von den persönlichen Beziehungs- und Erfahrungsfeldern zu den gesellschaftlichen und globalen Problemen bedenkt und vollzieht.

Der zweite leitende Aspekt, die pädagogische Realisierung, wird in einem abschließenden Kapitel anhand der Themen der Friedenserziehung und Gewaltproblematik behandelt. Dies geschieht auf der didaktischen Ebene anhand der drei Kriterien einer entwicklungsgerechten, diskursbezogenen und handlungsorientierten Didaktik und auf der schultheoretischen Ebene unter Einbeziehung der Schulkultur und der Gestaltung des Schullebens.

Bei der Frage der Pluralismusfähigkeit der Religionspädagogik, die den zweiten Band bestimmt, geht es um nichts Geringeres als um die Zukunftschancen des Religionsunterrichts. N. entfaltet die These: "Der Religionsunterricht hat Zukunft, wenn er seine Identität nicht preisgibt und der Pluralität standhält" (II, 182) unter Berücksichtigung eines vielschichtigen Bedingungsgefüges. Entscheidend ist dabei der bildungstheoretische Aspekt, die Konzeption religiöser Bildung mit der Zielperspektive der Förderung religiöser Mündigkeit und Selbständigkeit wie zugleich der Fähigkeit zur Verständigung angesichts vorgegebener Pluralität. Dies entfaltet N. in folgenden durchlaufenden Grundlinien.

1. Die Pluralität ist bereits in den unterschiedlichen Einstellungen Jugendlicher zur Religion gegeben. N. entwickelt deshalb eine pluralisierende Hermeneutik und fordert dementsprechend eine "Religionsdidaktik im Plural" (II, 258) ein. Bedeutsam ist, dass er in diesem Zusammenhang ein neues, empirisch belegtes Deutungsmuster zur gegenwärtigen Einstellung Jugendlicher vorlegt, ein "hypothetisch-schwebendes religiöses Einverständnis" (II, 252 ff.).

2. Im Blick auf die religiöse Identitätsentwicklung stellt sich die Frage einer konfessionell-homogenen bzw. einer pluralismusoffenen Gestaltung des Religionsunterrichts an der Grundschule. Für N. gehören "vertrautmachendes Lernen und reflexiv kritisch-prüfendes Lernen ... unauflöslich zusammen" (II, 478). Hier gilt es, die Komplementarität einer "Bildung als Prägung", die auf die Elemente von Kontinuität, Verläßlichkeit und Beheimatung verweist, und einer "Bildung als selbstreflexiver Erfahrungsprozeß", die durch Offenheit für Fremdes und durch die Begegnung mit Konfessionsfremden und Andersgläubigen angebahnt wird, altersstufengerecht zu realisieren.

3. Generell muss sich Pluralismusfähigkeit in der Auseinandersetzung mit der Pluralität theologischer und nichttheologischer Weltdeutungen erweisen. An der Schöpfungsfrage, dem Theodizee-Problem und an Theorien zum Ende der Welt zeigt N. auf, wie ein Denken in Komplementarität eine Verständigung zwischen unterschiedlichen fachspezifischen Denkansätzen und Deutungsmustern ermöglicht, ohne das Differente zu leugnen.

4. Die Pluralismusfähigkeit der Religionspädagogik muss sich speziell in der Frage des ökumenischen und interreligiösen Lernens bewähren. Hierzu entwickelt N. in Weiterführung bisherig vorliegender religionsdidaktischer Ansätze eine Hermeneutik der wechselseitigen Anerkennung in Wahrhaftigkeit mit dem Ziel, "das Maß der möglichen Anerkennung in pluralitätsbejahender und -respektierender Weise auszuloten" (II, 306).

Dabei geht es um die Verschränkung zweier Ebenen: Wahrheit wird in dem Verständigungsprozess über das Moment subjektiver Wahrheitserfahrung, der Wahrhaftigkeit der Gesprächspartner, zugänglich. Das bedeutet, dass sich diese dem Differenten aussetzen, es aushalten und es austragen, wobei ihnen eine von ihnen persönlich vertretene Pluralität der theologischen Auslegung zuzugestehen ist. Wahrheit erweist sich zugleich - theologisch gesehen - im Offenbarungshandeln Gottes und somit im Offenbarwerden der Sache selbst. Diesem Anspruch der Wahrheit kann man nur begegnen, wenn man bis zu den Konstitutionsbedingungen einer Konfession oder Religion vorstößt. Daraus ergibt sich die Konsequenz, den Ansatz ökumenischen bzw. interreligiösen Lernens jeweils in spezifischer Weise im Blick auf den Katholizismus, das Judentum und den Islam zu entwerfen. Dies erfolgt in drei theologisch wie pädagogisch fundierten Kapiteln. N. entfaltet in ihnen das Konzept eines "christlichen Religionsunterrichts in interreligiöser Perspektive" auf der Basis der Hermeneutik gegenseitiger Anerkennung. Diese wird dem Moment der Pluralität, das hier in Form des fundamentaltheologisch Differenten begegnet, gerecht, und sie realisiert zugleich das Moment des Verbindenden, indem sie sich auf einen offenen Prozess der Verständigung einlässt, die Andersheit des Anderen geschichtlich zu verstehen sich bemüht, dem Anderen mit Vertrauen begegnet und nach verbindenden theologischen Deutungsmustern fragt.

Dieses bildungstheoretisch fundierte Konzept bewährt sich auch bildungspolitisch. Für die Zukunft des Religonsunterrichts steht zum einen die Frage an, ob die in der Verfassung vorgegebene Konfessionalität dieses Faches angesichts der Bestrebungen um das Fach "Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde" und um einen multireligiösen Religionsunterricht Bestand haben kann. Hier läuft die Argumentation N.s darauf hinaus, dass letztlich das Wesen einer Religion und einer religiösen Bildung verfehlt wird, wenn das Moment "der wechselseitigen Anerkennung in Wahrhaftigkeit und Treue zur jeweils eigenen Glaubenstradition und -gemeinschaft" hermeneutisch nicht mehr zum Tragen kommt bzw. einer neutral-vergleichenden Interpretation geopfert wird. Zum anderen muss sich die Zukunftsfähigkeit des Religionsunterrichts in seiner Dialogfähigkeit mit den anderen Schulfächern, in erster Linie dem Fach Ethik, bewähren. Wieweit gilt die Hermeneutik wechselseitiger Anerkennung auch für den Dialog und die Kooperation dieser beiden Fächer? Verbindend für sie ist die gemeinsame Vernunft, die auch die Glaubenssicht einer kritisch-rationalen Erörterung öffnet, zugleich aber der metaethische Umstand, "daß beide Fächer es gemeinsam mit solchen dem Handeln vorgelagerten, es einbettenden Hinsichten auf Mensch, Leben, Geschichte und Kosmos zu tun haben" (II, 507).

Der Doppelband von N. besticht durch seinen klaren Aufbau wie durch seine breite argumentative Entfaltung. Ihm kommt eine dreifache Bedeutung zu: Er liefert - wie dies auch für seine beiden anderen Hauptwerke "Grundfragen der Religionspädagogik" (1975 und 1982) und "Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung" (1990) gilt - einen entscheidenden Beitrag zur religionspädagogischen Theoriebildung, indem er den gegenwärtigen Diskussionsstand umfassend aufarbeitet und weiterführende Perspektiven vorgibt. - Er entfaltet und konkretisiert die 1994 von der EKD in ihrer Denkschrift "Identität und Verständigung" vorgelegte Position zum Religionsunterricht und stärkt damit die bildungspolitische Argumentationsfähigkeit des Protestantismus.

N. wird durch seinen interdisziplinären Ansatz den Anforderungen einer theologieübergreifenden Theoriebildung gerecht, wie sie künftig für die Religionspädagogik bzw. für die Praktische Theologie insgesamt gelten dürften.