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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1089–1091

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Meyer, Karlo

Titel/Untertitel:

Zeugnisse fremder Religionen im Unterricht. "Weltreligionen" im deutschen und englischen Religionsunterricht.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1999. 351 S. m. 1 Abb. 8. Kart. DM 68.-. ISBN 3-7887-1762-9.

Rezensent:

Johannes Lähnemann

Sechs Jahre nach der Dissertation von Werner Haußmann ("Dialog mit pädagogischen Konsequenzen?" Hamburg: EB-Verlag 1993), die erstmals einen Vergleich der englischen und deutschen Religionspädagogik im Feld der Religionsbegegnung darbot, ist eine weitere Dissertation erschienen, die sich diesem Vergleich widmet. Karlo Meyer hat dazu nicht nur die neueren Entwicklungen aufgearbeitet, sondern das Feld in sehr eigenständiger Weise neu strukturiert. Dadurch ergeben sich über die wechselseitigen Anfragen und Anregungen zwischen der englischen und deutschen Religionspädagogik hinaus grundlegend weiterführende Perspektiven für den Unterricht in diesem zunehmend wichtigen Themenfeld. Die Inspiration hierzu hat M. während eines Studienaufenthaltes in Birmingham gewonnen, bei dem ihn das von M. Grimmit und J. Hull initiierte Projekt "A Gift to the Child" sowie das von R. Jackson und E. Nesbitt betreute "Warwick-Projekt" besonders beeindruckt hat. Kennzeichnend für Ersteres ist, dass in ihm religiöse "Zeug-nisse" (wie etwa der elefantenköpfige Gott Ganesha für den Hinduismus, der Ruf des Muezzin für den Islam) als exemplarische "Gegen-stände" (die Bindestriche werden von M. bewusst eingefügt) in den Unterricht eingebracht werden, von den Kindern entdeckt und beschrieben, in ihrer Faszination, Phantasieanregung und Fremdheit wahrgenommen und mit Eigenerfahrungen verknüpft bzw. kontrastiert werden. Dabei können Kinder der jeweiligen Religion, zu der das "Zeug-nis" gehört, als authentische Interpreten fungieren. Hinter dem Warwick-Projekt steht eine intensive empirische Arbeit mit Familien aus den verschiedenen Religionen im Bereich von Coventry, die zu Unterrichtshilfen aus wirklich gelebter Religiosität geführt hat.

Aus diesen Projekten gewinnt M. den Grundansatz, um den er die Weltreligionen-Didaktik bereichern will: "Am Ort der Schule sind Erfahrungen mit religiösen Zeugnissen möglich: (1) in ihrer sachlich darstellbaren Vorfindlichkeit, (2) in ihrem existentiellen Potential (als Abdruck des umfassenden Anspruchs und des Heiligen im Profanum) und (3) in ihrer Entzogenheit für die Schülerinnen und Schüler in der Schule. Mit diesen drei Erfahrungen kann der Religionsunterricht ... einen begrenzten ,Sinn' dafür anbahnen, was religiöse Zeugnisse ausmacht." Er präzisiert dann: "Einen ,Sinn für etwas' zu haben, schließt noch nicht die Ausübung ein und meint doch eine persönliche Auseinandersetzung und ein Bewußtsein für den Wert religiöser Zeugnisse." (28)

Während die kognitive und die existentielle Dimension in den maßgeblichen religionspädagogischen Konzepten schon bisher bedacht werden, ist der 3. Punkt, der die Fremdheit der "Zeug-nisse" fremder Religionen ernst nimmt, im Wesentlichen neu. Eine gewisse Problematik besteht darin, dass er nicht einfach zur Systematik der anderen Dimensionen passt und die soziale (und ethische) Dimension etwas an den Rand schiebt, die sonst häufig als 3. Dimension aufgeführt wird.

Mit seinem schon am Anfang genannten Gesamtanliegen hat M. gleichzeitig eine Perspektive gewonnen, unter der er die Geschichte der Weltreligionen-Didaktik in Deutschland und England und die aktuelle Diskussion darum darstellen und werten kann. Dabei liegt ihm mehr an der inhaltlichen Ausgestaltung als an der Grundsatzdebatte um konfessionsbezogenen oder konfessionsübergreifenden Unterricht, der in England seit langem die Norm ist. Er hält gerade auch den konfessionellen Religionsunterricht in Deutschland hinsichtlich der Religionenthematik für verbesserbar und möchte ihn befruchten.

Die Geschichte der Weltreligionen-Didaktik in Deutschland und England hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, ihrer konzeptionellen Ansätze und neueren Ausprägungen liegt gegenwärtig in keiner anderen Arbeit so vielfältig und aktuell vor. Der Weg von den ersten noch missionstheologisch geprägten Ansätzen in Deutschland und von dem religionswissenschaftlich-phänomenologisch geprägten Zugang in England hin zu einer lebensweltlich geprägten und an authentischen Begegnungen orientierten unterrichtlichen Arbeit wird sehr komplex herausgearbeitet. Die systematische Gesamtanordnung ermöglicht dabei einen klaren Überblick: Für Deutschland werden nach einem allgemeinen Abriss die religionswissenschaftlich orientierte religionspädagogische Arbeit Udo Tworuschkas, meine eigene "theologische Didaktik" und die katholischen Entwürfe von Stephan Leimgruber und Hubertus Halbfas charakterisiert und kritisch gewürdigt. Dabei kommt es gelegentlich allerdings zu etwas zu schematischen Klassifizierungen (etwa hinsichtlich einer einseitig ethischen Ausrichtung meiner eigenen Konzeption). Auch fällt das Urteil über frühere Arbeiten m. E. teilweise zu kritisch aus, wenn man bedenkt, wie viel an Pionierarbeit in ihnen angesichts der jeweiligen Vorbedingungen steckt. Gleichwohl treten die Herausforderungen zu mehr existentiellen Begegnungen mit fremden religiösen Zeugnissen und zur Überwindung harmonisierender Betrachtungsweisen deutlich hervor.

Der ausführliche 2. Teil (97-263) ist dem englischen Religionsunterricht gewidmet. Ausgehend von den äußeren Bedingungen für den "nonconfessional approach" wird die innere Entwicklung mit je kurzen Gegenüberstellungen zur deutschen Situation dargestellt; zu fragen bleibt hier, ob die Defizite hinsichtlich theologischer und gesellschaftlicher Orientierung in England wirklich als so unabänderlich zu betrachten sind, wie M. es einschätzt (141 zu Nipkow); welchen Sinn soll internationaler religionspädagogischer Austausch haben, wenn hier die Lernprozesse nicht wechselseitig in Gang kommen?

Gut wird die lange beherrschende Zweigleisigkeit in der Behandlung der Religionen in England herausgearbeitet: der deskriptive Weg einerseits ("Learning about Religion"), der existentielle Grundansatz andererseits ("Learning from Religion"). Ein besonderes Gewicht erhält hier das Vermittlungsmodell von M. Grimmit, der zunächst über sogen. "depth themes" (Wer bin ich? Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Lebens?), später über "core values", die über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg allen Menschen zu eigen seien (wie der Wert von Ordnung, gerechter Gesellschaft, Recht auf individuelle Selbstverwirklichung, Verantwortungsbewußtsein, aber auch Geistigkeit und Spiritualität), Brücken zu bauen versucht.

Über das in England sehr praxiswirksame Westhill-Projekt (das etwa mit seinen "photopacks" Zugänge zu exemplarischen Lebenssituationen in den verschiedenen Religionen schafft) wird dann hingeführt zu den beiden anfangs schon erwähnten Projekten von Grimmit/Hull und Jackson/Nesbitt. Sie greifen Aufgabenstellungen auf, denen sich die Weltreligionen-Didaktik in England wie in Deutschland vertieft widmen muss: (1) die Religionen mit authentischen Zeugnissen in der Schule zur Sprache kommen zu lassen; (2) sich von den "Zeug-nissen" anreden, ansprechen, anregen zu lassen; (3) Menschen, die selbst in den Religionen leben, als Interpreten zu haben; (4) Fremdheit nicht zu überspringen, sondern wahrzunehmen und zu artikulieren, aber auch achtungsvoll stehen zu lassen.

Diesen Perspektiven geht M. im 3. Teil der Arbeit ("Grundlagen für einen Neuansatz") ausführlich nach, sowohl grundsätzlich (einschließlich hermeneutischer Überlegungen zu Fremdheit zwischen den Religionen und Kulturen und zur Fremdheit des Heiligen) als auch praktisch. Er zeigt, wie man den fremden religiösen "Gegen-ständen" in ihrer Individualität Raum geben muss, wie es ritueller Übergänge zur Begegnung mit dem Fremden braucht und wie wesentlich das weiterführende Gespräch ist, in dem die Schülerinnen und Schüler mit ihrer Sicht zur Geltung kommen. Er meint, dass gerade der evangelische Religionsunterricht, bestimmt von "christlicher Freiheit" (dem zentralen theologischen Motiv bei M.), die Offenheit haben kann und soll, Fremdreligiöses "zu Gast" zu haben.

M. geht dabei nicht unkritisch mit den von ihm favorisierten Modellen um. Er weiß, dass die in Birmingham im Unterricht erprobten "Gegenstände" keine systematische Auswahl darstellen und sehr auf den dortigen Kontext bezogen sind. Vertieft nachzudenken wäre darüber hinaus (in England wie in Deutschland) über die pädagogischen und theologischen Zusammenhänge, in die dieser Neuansatz einzubeziehen ist: Auch die wichtige individualbezogene und lebensweltliche Orientierung kommt ohne curriculare Überlegungen nicht aus. Es muss ein Gesamtzusammenhang aufbauenden Lernens im Feld der Religionen sichtbar werden, wenn der Religionsunterricht zukunftsbezogen sein Recht in der Schule legitimieren will. Und theologisch kommt die Religionsbegegnung in der Schule nicht ohne Grundlagenarbeit in den Religionen aus: Was bedeutet es etwa für das christliche Selbstverständnis, sich einem hinduistischen Götterbild auszusetzen - angesichts der biblischen Götzenkritik und des Bilderverbots?

Die Arbeit regt zu vielen Rückfragen und weiterführenden Fragen an. Darin besteht - neben allem Innovativen, das sie entwirft - ihr besonderer Wert.