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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1084–1087

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Morgenthaler, Christoph

Titel/Untertitel:

Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 1999. 303 S. m. Abb. gr.8. Kart. DM 35,-. ISBN 3-17-015760-4.

Rezensent:

Christian Albrecht

Systemische Therapie und Beratung ist eine Sammelbezeichnung für neuere, aus der klassischen Familientherapie der 1950er Jahre entstandene und insbesondere in den 1980er Jahren sich feindifferenzierende Theoriekonzeptionen und Schulbildungen, die seelische Konflikte insbesondere durch die Aufhellung von konfliktgenerierenden Mustern, Zusammenhängen und Dynamiken bearbeitet, die in den verschiedenen und wechselnden interpersonalen Beziehungen des Einzelnen sich ausbilden und zum Vorschein kommen. Systemische Beratung und Therapie ist dabei weniger an den Gründen als vielmehr an der Wirkung psychischer Probleme interessiert; sie fragt weniger nach Ursprüngen und Ursachen als vielmehr nach Funktionen und Folgen seelischer Konflikte; sie zielt weniger auf systematische Erklärung des Leidens als auf praktische Effizienz der Leidensverminderung. Ihre Beratungsformen gestalten sich darum aus pragmatischen Gründen programmatisch orthodoxie- und orthopraxieabstinent. Als Hauptkennzeichen der Therapiepraxis können die Interventionsformen des Hypothetisierens gelten, bei der der Therapeut begründete Annahmen über die Wirkung und Funktion der problemgenerierenden Kommunikationsform oder Verhaltensweise auf der Ebene der Beziehung im System zur Diskussion stellt; und die Technik des zirkulären Fragens, bei der die Analysanden nach der Funktion eigener oder fremder Verhaltensweisen für die Beziehungsdynamik gefragt werden. Systemische Therapie und Beratung ist, einer nicht erschöpfenden, aber pointierten und immerhin halb ernst gemeinten Selbstbezeichnung zufolge, "Tratschen über Anwesende".

Es war zu erwarten und ist zu begrüßen, dass das Konzept systemischer Therapie und Beratung von der gegenwärtigen Seelsorgelehre rezipiert wird und Eingang findet in ihr Theorie- und Methodenarsenal, ja: dass das Programm einer "Systemischen Seelsorge" nicht lange auf sich warten lässt. Der in Bern lehrende Praktische Theologe Christoph Morgenthaler legt nun ein Lehr- und Arbeitsbuch unter diesem Titel vor und verfolgt darin das Ziel, Aspekte und Dimensionen der systemischen Therapie in die Theorie und Praxis der kirchlichen Seelsorge zu integrieren.

Das Buch gliedert sich in zwei Hauptabschnitte. Ein erster Teil beschreibt theoretische Grundlagen einer Systemischen Seelsorge: Das Konzept systemischer Therapie und Beratung wird vorgestellt, es wird auf seine Beziehungen zum systemischen Denken und zu familiensoziologischen Fragestellungen hin dargestellt, es wird auf seine Wahrnehmungsfähigkeit für religiöse Phänomene hin befragt, es wird in seiner Erschließungskraft für die Selbstwahrnehmung der Seelsorger und Seelsorgerinnen hervorgehoben, und es wird auf seine Kompatibilität mit biblisch-theologischen Sichtweisen auf menschliche Sozialität hin vorgestellt. Ein zweiter Teil entwirft praktische Arbeitsmodelle systemischer Seelsorge. Hier gilt die Aufmerksamkeit den Operationalisierungsmöglichkeiten beziehungskonstellativer Sichtweisen und Interventionsformen insbesondere in der klassischen Krisenseelsorge, aber auch in der Kasualseelsorge und in der kommunikativen Selbsterneuerung der Gemeinde. Durchgängig erkennbar ist das Bemühen M.s, das systemische Paradigma nicht als Ablösung, sondern als Ergänzung traditioneller Seelsorgeparadigmen zu begreifen - etwa hinsichtlich der Anschlussfähigkeit an psychoanalytische Seelsorgeformen und hinsichtlich des Blickes für das Individuum im System. (Allerdings müsste man ergänzen, dass auch schon die systemische Therapietheorie selbst solche Integrationstendenzen gerade hinsichtlich der genannten Punkte kennt - man mag etwa an Mara Selvini Palazzolis Wiederentdeckung des Individuums in den späten 80er Jahren und an Eckard Sperlings methoden-undogmatische psychoanalytische Familientherapie denken.)

Das Buch verdankt sich seiner Genese, seiner Argumentationsstrategie und seiner Rhetorik nach weitgehend dem Impuls einer Rechenschaftsgabe des Vf.s über seinen Weg zur systemischen Seelsorge - mit allen Vorzügen und allen Nachteilen dieses personalisierten Verfahrens. Positionen, Problemstellungen und Optionen werden weitgehend unter dem Aspekt vorgestellt, in welcher Weise sie dem Vf. in seiner pastoralen Praxis zustatten kamen. Die Theoriegeschichte gerät hier bisweilen in mehr oder weniger bewusst entobjektivierende Schieflagen, die mitunter von großer Erschließungskraft sind, mitunter aber auch zur Verunklarung beitragen. Das Buch hat auf diese Weise zugleich etwas Offenes wie etwas Hermetisches. Der Vf. bekennt, er habe die Praxis systemischer Seelsorge überwiegend durch Nachahmung gelernt (142), und er lädt uns als seine Leserinnen und Leser ausdrücklich ein, es ihm gleichzutun und dabei persönliche Erfahrungen und Geschichten in die Lektüre zu weben (13).

Grundsätzlich wird man sagen müssen, dass die kenntnisgesättigte und praxisorientierte Integration humanwissenschaftlicher Therapiekonzeptionen in die Seelsorge, wie M. sie vorführt, einen wissenschaftgeschichtlich planmäßigen, dem Charakter der neuzeitlichen Seelsorgelehre angemessenen Vorgang darstellt: Die Seelsorgelehre entleiht sich die zur Erfüllung des Zweckes der Seelsorge erforderlichen Kenntnisse und Kunstregeln aus den Humanwissenschaften. Voraussetzung ist dabei also zunächst eine präzise, auf analytischem Wege gewonnene konzeptionelle Vorstellung von den je gegenwärtigen Anforderungen an die Seelsorge, die sodann in einem zweiten Schritt die funktionale Begründung für die Inanspruchnahme dieser oder jener humanwissenschaftlichen Methode abgibt. Kurz gesagt, die Auffassung vom Sinn der Seelsorge liefert die Kriterien für die Integration der humanwissenschaftlichen Methode. Auffälligerweise verläuft die Argumentaion bei M. aber andersherum. Er setzt ein mit einer Beschreibung der faszinierenden Leistungen systemischer Therapie- und Beratungsformen, die er dieser Leistungen halber auch für die Seelsorge fruchtbar gemacht wissen will. Das im Hintergrund stehende, leitende Grundverständnis der Seelsorge erschließt sich dem Leser dagegen erst peu á peu, und es erschließt sich als ein ausgesprochen herkömmliches, um nicht zu sagen: modernedistanziertes Grundverständnis. Denn "in der Seelsorge [lassen wir uns] von der Geschichte eines Gottes inspirieren, der nach dem Zeugnis biblischer Schriften gegen menschliche Wirklichkeit an Beziehungsgerechtigkeit festhält" (139). Warum gegen menschliche Wirklichkeit? Regiert hier faktisch ein viel stärker gegenwartsdistanziertes, kulturabstinentes und sonderweltliches Grundverständis der Seelsorge, als deren Einkleidung in das moderne systemische Gewand vermuten lassen sollte?

M.s Auffassung zufolge hat die Seelsorge eher explizit religiöse Themen zum Gegenstand als etwa Probleme der lebensgeschichtlichen Sinnvergewisserung; ihr zufolge dient die Seelsorge - faktisch - eher der Stabilisierung des Kommunikations- und Sozialgefüges in der traditionellen Kernfamilie und in der Gemeinde als etwa in den wechselnden Beziehungskonstellationen, denen die modernen bricolage-Biographien ausgesetzt sind; ihr zufolge vertraut die Praxis der seelsorgerlichen Gesprächsführung wieder unbefangener auf die unmittelbare Selbsterschließungskraft biblischer Exempla, als das in früheren Zeiten der Fall gewesen ist.

Drei Beispiele müssen genügen. So wird die Tendenz zur Reetablierung explizit religiöser Themen exemplarisch sichtbar etwa in der Umformung der Gender-Fragen aus dem Lehrbuch von V. Schlippe/Schweitzer1 zu Gender-Fragen in systemischer Seelsorge (130): Es werden die dort gestellten, das lebensgeschichtliche Selbsterleben betreffenden Gender-Fragen in Bezug auf die Herkunftsfamilie, die Gegenwart und die Zukunft hier nun durchweg umgestaltet zu Gender-Fragen nach der Prägung des Glaubens, des Gottesbildes und des Verständnisses biblischer Geschichten in der Herkunftsfamilie, in der Gegenwart und in der Zukunft. Weiter: der faktisch herrschende Focus auf die traditionelle Kernfamilie und Gemeinde bleibt rätselhaft angesichts der S. 48-51 ausführlich referierten Untersuchungen zum Plausibilitätsverlust kirchlicher und explizit religiöser Leitvorstellungen für die individualisierten, religiösen Sinnstiftungscodes in modernen Lebensformen. Und schließlich: Die Einsicht, dass biblische Mythen raum- und zeitübergreifende menschliche Ursituationen widerspiegeln, wird zwar als Entdeckung mitgeteilt (122), es wird aber nicht mitgeteilt, dass diese Beobachtung nun erstens theologiegeschichtlich so neu auch wieder nicht ist, wie sie gern wäre; und dass sie zweitens den Seelsorger kaum von der Notwendigkeit einer rekonstruktiven Freilegung der symbolischen Gehalte biblischer Geschichten im Seelsorgegespräch entlastet (120).

Nun sollen die Inhalte dieses Seelsorgeverständisses hier nicht zur Debatte stehen. Mir geht es nur um eines: Dieses Seelsorgekonzept enthält keine schlüssige Begründung für die Integration systemischer Therapieelemente in die Seelsorge. Es reicht nicht aus, deren Integration ex post damit zu erklären, dass sie beziehungskonstellative Konfliktpotentiale transparent machen. Vielmehr müsste sich aus einer vorgängigen Erläuterung von Zweck und Aufgabe der Seelsorge die Notwendigkeit ableiten lassen, solche beziehungsdynamisch verursachten Auslösemomente seelischer Konflikte in den Blick zu nehmen. Die Begründung für die Inanspruchnahme systemischer Therapieelemente muss sich aus dem Verständnis der Seelsorge heraus ergeben, denn nur so lassen sich Formen, Funktionen und Grenze ihrer Eingliederung in die Seelsorge bestimmen. Die Beleihung der Humanwissenschaften durch die Seelsorgelehre hat ihren Grund im Zweck der Seelsorge, nicht allein schon in den Leistungen der Humanwissenschaften.

Eine solche Begründung für die Integration systemischer Therapieelemente ließe sich m. E. unschwer finden in der Analyse einer Gegenwartslage, in der die Seelsorge in den komplexer werdenden sozialen Konstellationen und Kommunikationssituationen ihrer Klientel zugleich komplexer werdenden Ansprüchen an seelsorgerliche Deutekraft gegenübersteht, die lebensgeschichtliche Sinnerschließung und lebensführungsbezogene Orientierung leisten soll. Es ließe sich dabei auch zeigen, dass Argumente für eine solchermaßen entschlossene Einstellung der Seelsorge auf die jeweilige gesellschaftskulturelle Gegenwartslage durchaus zu den Theoriebeständen der Geschichte der Seelsorgelehre gehören.

M.s Verzicht auf solche gegenwartsanalytischen, historisch unterfütterten Ableitungen der Notwendigkeit systemischer Therapieelemente in der Seelsorge aus einem offen gelegten Grundverständnis der Seelsorge heraus legt dagegen den Verdacht nahe, es bilde die Integration systemischer Therapiepraxen unter der Hand die Legitimationsbasis für eine relativ traditionelle Grundauffassung der Seelsorge, es diene diese Integration der sedativen Neueinkleidung eines relativ alten Konzepts der Seelsorge. Das wäre ein bedauerliches Missverständnis der potentiellen Leistungsfähigkeit systemischer Therapieelemente in der modernen Seelsorge. Freilich: Die Reflexionen auf diese Leistungsfähigkeit nachdrücklich befördert, vertieft und differenziert zu haben, bleibt das ungeschmälerte Verdienst dieses Buches.

Fussnoten:

1) Arist von Schlippe/Jochen Schweitzer: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen-Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, 61999, 265.