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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1082–1084

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gräb, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Lebensgeschichten - Lebensentwürfe - Sinndeutungen. Eine Praktische Theologie gelebter Religion.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1998. 338 S. gr.8. Kart. DM 78,-. ISBN 3-579-00399-2.

Rezensent:

Christian Albrecht

Als ein äußerliches, aber relativ sicheres Indiz für das Funktionieren der Praktischen Theologie kann es gelten, wenn es ihr gelingt, der Versuchung zu zwei naheliegenden Koalitionen zu widerstehen: Der Koalition mit der kirchlichen Realität gegen die theologische Theorie ebenso wie der Koalition mit der theologischen Theorie gegen die kirchliche Realität. Die Praktische Theologie erfüllt den konstruktiven Vermittlungszweck, dem sie ihr Dasein verdankt, indem sie in zwei Richtungen gleichzeitig kritisch ist: Kritisch gegenüber eingeschliffenen Selbstverständlichkeiten kirchlicher Praxis ebenso wie gegenüber der communis opinio dogmatisch-theologischer und ethisch-theologischer Ekklesiologie.

Von dem neuen Buch des früheren Bochumer, jetzigen Berliner Praktischen Theologen Wilhelm Gräb wird man sagen können, dass es jenen Versuchungen erfolgreich widersteht. Er legt eine Skizze der Praktischen Theologie vor, deren Untertitel bereits den Gedankengang signalisiert: Die gelebte Religion wird als eigenständige Größe kritisch in Anschlag gebracht gegen trivialmoralische kirchliche Phraseologik ebenso wie gegen wirklichkeitsblinde theologische Rabulistik. Die Kirche habe sich, so die Ausgangsthese G.s, bei der Wahrnehmung ihrer seelsorgerlichen Aufgaben entschlossen einzustellen auf die konkreten Lebenslagen der Menschen, auf ihre Sinnvergewisserungsbedürfnisse und auf die Plausibilitätshorizonte gegenwärtigen Bewusstseins. Und der konstruktive Beitrag des vorgelegten Buches hierzu besteht darin, dass der Zuschnitt einer kultur- und religionshermeneutische Kompetenzen vermittelnden Praktischen Theologie präsentiert wird, die die faktisch gelebte Religion in anderen Formen als den unmittelbar kirchlichen wahrzunehmen bzw. in dieselben hinein zu kommunizieren anleitet.

Das Buch stellt, seinem literarischen Genus nach, dabei zwar weniger als ein förmliches Lehrbuch dar, indessen doch auch mehr als eine bloße Programmschrift. Es handelt sich um einen alle klassischen Felder der Praktischen Theologie abdeckenden Gesamtentwurf. Auch wenn einige Kapitel auf bereits publizierte Aufsätze aus den Jahren 1992-1997 zurückgehen, sind diese doch in der Regel so stark überarbeitet und kontextualisiert, dass das nun entstandene Buch für sich beanspruchen kann, aus einem Guss zu stammen.

Drei Hauptabschnitte umfasst der Band. Ein erster Teil entfaltet eine Theorie der Religion als lebensgeschichtlicher Sinndeutung. Eben in dieser Zuspitzung erkennt G. die im gegenwärtigen Alltagsbewusstsein der Religion hauptsächlich zugeschriebene Funktion: Religion wird insbesondere für die Sinnvergewisserung menschlicher Lebensgeschichten und Lebensentwürfe in Anspruch genommen. Ein zweiter Teil entfaltet die dem entsprechende praktisch-theologische Ekklesiologie einer Kirche für die Religion der Menschen. Hier umreißt G. das Selbstverständnis einer Kirche, die sich als Erfahrungs- und Reflexionsort lebensgeschichtlichen Sinnbedürfnisses versteht und zur Geltung bringt. Die lebenskundliche Deutungskompetenz der Kirche erweist sich darin, dass sie mit ihren Überlieferungsbeständen in Schrift und Bekenntnis keine absoluten Wahrheitsansprüche verbindet, sondern unter ihrer Zuhilfenahme dem Aufbau einer in der Subjektivität der einzelnen Person wachsenden Gewissheit dient. Voraussetzung dafür bildet einerseits die professionelle Ästhetik der Kommunikation, andererseits aber auch die (gemessen an ihrer Bedeutung für das Gesamtkonzept an etwas zu versteckter Stelle vorgetragene) Theorie einer Entsubstantialisierung herkömmlicher theologischer bzw. biblischer Kernbegriffe wie Verkündigung, Gesetz, Sünde, Evangelium, Gnade usw. "Entsubstantialisierung meint, dass der Bedeutungsgehalt dieser theologischen Begriffe strikt auf die Funktion hin verstanden wird, den sie im Vollzug der religiösen Selbstdeutung humaner Subjekte für dieselben zu erfüllen vermögen." (214) Ein dritter Teil führt in Konkretionen der materialen praktisch-theologischen Felder vor, wie des Näheren die Vollzüge einer kirchlichen Praxis, die sich selbst als lebensgeschichtliche Sinndeutungsarbeit begreift, aussehen könnten: Konzeptionelle Fragen der Homiletik werden insbesondere im Anschluss an Ernst Lange verhandelt, die Konturen einer psychoanalytisch geschulten Seelsorge in der überraschenden relecture Eduard Thurneysens gewonnen. Mit Friedrich Schleiermacher werden religionstheoretische Implikationen in der modernen Pädagogik herauspräpariert und für die Religionspädagogik fruchtbar gemacht; mit Johann Joachim Spalding, Ludwig Hüffel und Christian Palmer wird die kulturelle Bedeutung des Pfarrberufes herausgestellt, die in der Selbstbindung exemplarischer religiöser Subjektivität besteht.

Schon an dem Verhältnis zwischen den konzeptionellen Argumenten der einleitenden Teile und den in Anspruch genommenen Referenzpositionen des materialen Teiles wird eine Eigenschaft sichtbar, die die Lektüre des Bandes so bestechend macht. Es ist die von G. subtil durchgeführte Verknüpfung von Traditionsverweigerung und Traditionsanknüpfung, die das Programm insgesamt als anschlussfähig erweist - als anschlussfähig an die Gesamtlage gegenwärtiger religiös-kirchlicher Wirklichkeit ebenso wie an Überlieferungsgestalten der (Praktischen) Theologie, die sich der Notwendigkeit einer ständigen Ausdifferenzierung des Christentums bewusst waren.

Man kann diese Verknüpfung von Traditionsabbruch und Traditionsfortschreibung auf verschiedenen Ebenen feststellen. Sie zeigt sich etwa darin, dass G. einerseits entschlossen auf dem Funktionswandel der kirchlich-theologischen Überlieferung besteht, indem er die unmittelbare Reproduktion überlieferter Wahrheitsansprüche perhorresziert und auf der Neuerschließung ihrer symbolischen Deutepotentiale besteht - und zugleich die exemplarische Einlösung dieser Forderung liefert, indem er die ihm vorschwebenden Formen der Sinnrekonstruktion als Transformation des ursprünglichen Gehaltes der Rechtfertigungslehre vorträgt. Die Verknüpfung zeigt sich sodann auch etwa in der Gliederungseigentümlichkeit, dass der Gesamtentwurf dieser Praktischen Theologie gelebter Religion (nach dem Muster einer um ein Zentrum gruppierten Ringkomposition) mit der Problembeschreibung der unsicher gewordenen Identität des neuzeitlich-modernen Menschen einsetzt und mit der Problembeschreibung der unsicher gewordenen subjektiv-religiösen Identität des Pfarrers endet - diese individualitätstheoretischen Fragestellungen jedoch als Rahmungen eines Programmes vorträgt, das seine Mitte in der Erwägung der angemessenen Funktion von Gottesdienst und Predigt hat, die also das Wahrzeichen des evangelischen Christentums auch in dieser Praktischen Theologie gelebter Religion bleiben. Man kann diese Verknüpfung darüber hinaus auch etwa am rhetorischen Gestus ablesen: Bei aller phänomenologischen Sensibilität mangelt es doch nicht an optativischen, ja: präskriptiven Sätzen über das, was die Kirche tun sollte und sein müsste. Und vielleicht am eindrücklichsten zeigt sich diese zur Anschlussfähigkeit führende Verknüpfung schließlich auf heuristischer Ebene: in der Durchführung des Gedankens, dass die Praktische Theologie Religions- und Kulturhermeneutik werden muss, wenn sie Lehre von dem Handeln der Kirche bleiben will. Das weist bereits auf die eigentliche, mir wesentlich erscheinende Pointe des Entwurfes hin. Sie besteht darin, dass G. die hermeneutische Fragestellung in einer - jedenfalls im Blick auf ihre Konsequenzen - selten gehörten Entschlossenheit für die praktisch-theologische Reflexion des kirchlichen Lebens und Handelns fruchtbar macht. Denn ringt sich die Kirche zu einer Verstärkung ihrer lebenskundlichen Deutungskompetenz durch in dem Sinne, dass sie stärker als bisher die existentiell-religiösen Sinnerwartungen, die Menschen im Kontext ihrer Lebens- und Alltagswelt selbst immer schon entworfen haben, aufnimmt und im Auslegungszusammenhang des Evangeliums verarbeitet, dann hat das Rückwirkungen auf die Auslegung der überlieferten Symbolbestände des Christentums. Es würde für die Kirche heißen müssen, "gerade nicht die Anpassung zu verlangen an das, was die Bibel oder die Lehrtradition der Kirche zu glauben und zu leben vorgeben. Es würde heißen, nicht an den durch das sogenannte Urchristentum oder die Reformatoren des 16. Jh.s fixierten Sinngehalt der christlichen Religion sich gebunden wissen zu müssen. Die Erlebnis- und Reflexionssubjektivität der Menschen auch im Blick auf ihre Religion anzuerkennen und aufzusuchen, würde vielmehr heißen, die historisch und dogmatisch verfestigten Symbolbestände des Christentums zu verflüssigen, sie freizugeben in die vielgestaltigen Möglichkeiten ihrer subjektiv plausiblen Auslegung und Aneignung." (92)

Gerade in diesen Überlegungen zeigt sich die doppelte Frontstellung, die die alte Frage nach der gelebten Religion gewinnt, wenn sie im Blick auf ihre hermeneutischen Konsequenzen gestellt wird. Die gelebte Religion wird von G. als Größe ins Spiel gebracht gegen die zur Gewohnheit gewordenen Ausschließlichkeitsansprüche binnenkirchlich-kerngemeindlicher Frömmigkeitsstile ebenso wie gegen die zur Gewohnheit gewordenen Präskriptionstendenzen innertheologischer Kirchenkonzepte. Gelebte Religion als Ausdruck des Bedürfnisses nach lebensgeschichtlicher Sinnvergewisserung wird ins Feld geführt als Korrektiv restringierter Kommunikationscodes in den traditionellen kirchlichen und theologischen Sondergruppenmilieus. Gelebte Religion als alltäglich massenhaft ersehnte und praktizierte Aneignung von sinnerschließenden Deutemöglichkeiten des eigenen Lebens wird als kirchlicherseits und theologischerseits unzureichend wahrgenommenes, schlimmstenfalls sogar ausgegrenztes Strukturanalogon des ursprünglichen Gehaltes christlicher Glaubenspraxis analysiert.

Die Kritik von zwei Seiten liegt auf der Hand. Der kirchliche Vorwurf, G. missachte den Beglückungswert von Milieustabilitäten, ist ebenso sicher zu erwarten wie der theologische Vorwurf des zeitgeistverliebten Ausverkaufes der Bekenntnisbindung. Freilich wäre diese Kritik von zwei Seiten in bestimmter Hinsicht ein Beweis dafür, dass das Buch treffend ist: Weil in ihm die Praktische Theologie ihre kritische Aufgabe nach allen Seiten konstruktiv wahrgenommen hat.