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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1079–1081

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fresacher, Bernhard

Titel/Untertitel:

Gedächtnis im Wandel. Zur Verarbeitung von Traditionsbrüchen in der Kirche.

Verlag:

Innsbruck-Wien: Tyrolia 1996. XIV, 510 S. gr.8 = Salzburger Theologische Studien, 2. Kart. öS 680.-. ISBN: 3-7022-3027-5.

Rezensent:

Beate Großklaus

Die Dissertation von Bernhard Fresacher, z. Zt. Leiter des Referates Ehe und Familie des Bistums Trier, untersucht das Selbstverständnis der katholischen Kirche. Er verwirft dabei die These, dass sie durch die Jahrhunderte hinweg ein und dieselbe war (Teil 1). Anhand des II. Vatikanischen Konzils (Vat II) skizziert F. den unterschiedlichen Umgang mit Tradition und damit das Ausgangsproblem der Studie: Einerseits wurde in der Folge die Kontinuität - andererseits der Traditionsbruch betont, den das Aggiornamento (ital. Wandel, Erneuerung) des Vat II auslöste. Verwurzelt in der katholischen Tradition sucht F. nach ihrer Tragfähigkeit und fragt, ob sie eher "Verheißungsvolles oder Bedrohliches in sich birgt" (XIV). Dementsprechend selbstkritisch führt er durch die unterschiedlichen Kurskorrekturen des Vat II, die zuweilen mit einem kleinen kirchengeschichtlichen Repetitorium verknüpft sind. "Tradition bleibt nicht immer gleich. Irrtum ist möglich, Revision notwendig" (6). Die Studie stellt sich daher der Aufgabe, den Begriff der Reue bzw. der Gedächtnisumkehr in Bezug auf Kirche zu entfalten. Das selbstkritische Potenzial ermöglichte Vat II durch die Neuorientierung der Tradition "am Evangelium Jesu Christi nach der Schrift" (34). Den Ort der Verarbeitung von Traditionsbrüchen sieht F. im "Gedächtnis der Kirche" (Kap. 1). Kap. 2 verortet die Arbeit als "Theologie im Dialog" in einem interdisziplinären Kontext. Konfessorisch versucht F. sein erkenntnisleitendes Interesse und die damit verbundene verantwortliche Traditionskritik transparent zu machen (41 f.).

Der 2. Teil schildert den gesellschaftlichen Kontext (Kap. 3) und das aktuelle Kirchenbild (Kap. 4). Die Frage, wie Kirche als ein Subjekt mit einem Gedächtnis zu verstehen ist, provoziert F. zu einer philosophiegeschichtlichen Skizze des Subjekt-Begriffs und zur innovativen Kombination der Ansätze von N. Luhmann, J. Habermas und E. Levinas in einem prozessualen und relationalen Subjekt-Verständnis: "Subjekt wird ein Mensch im Bezug auf soziale Systeme, im Horizont soziokultureller Lebenswelten (mit ihren eigenen kommunikativen Realitäten), herausgefordert durch systemunterbrechende, horizontverändernde Erfahrungen" (81). Im Anschluss an P. L. Berger und Th. Luckmann will F. Kirche daher nicht als Subjekt, sondern als soziale Ordnung verstehen, die Subjektwerdung vor Ort fördern oder behindern kann.

Leider orientiert sich F. allzu sehr an einem organisationsorientierten Kirchenbegriff, so dass nicht-organisierte Formen von Kirche kaum im Blick sind. Unter den verschiedenen Kirchenmodellen präferiert F. die Vorstellung von der Kirche als Volk Gottes, das auf dem Weg ist: Sie ist Zeugin Gottes, in ihr wird Gott transparent, aber in einer gebrochenen und immer korrekturbedürftigen Form - wie in einem zerbrochenen Spiegel zeigt sie jeweils nur fragmentarisch das Zeugnis von Jesus Christus (108). Kompetenz, dieses Zeugnis abzulegen, haben alle Getauften, was zur Pluralität der dargestellten Gotteserfahrungen führt, die auch außerhalb der organisierten Kirche zu finden sind. Eine Monopolisierung von Kompetenzen und Macht steigert deshalb die Inkompetenz der Kirche, weil es ihre Mission ist, "auf das Wirken des Geistes Gottes unter den Menschen aller Religionen" zu achten (114). Die Strukturen und Ordnungen der Kirche können nicht für alle Zeiten festgelegt werden, sondern unterliegen dem Wandel durch innovative Impulse Einzelner und sind vom kulturellen und gesellschaftlichen Kontext abhängig: "Eine soziale Ordnung ist am Ende, wenn sie sich nicht mehr verändert" (122). Kirche versteht F. als offenes Haus bzw. Spielraum des Geistes Gottes, das ständig neu aufgebaut wird. Diese Haus-Metapher bricht F. andererseits wieder auf, indem er das Entstehen von Kirche jederzeit in unterschiedlichen Kulturen und Kontexten auf unterschiedliche Weise postuliert, wo Menschen sich vom Geist Gottes herausfordern lassen. Das könnte zu fragileren Kirchen führen, die sich nicht in feste Mauern begeben, sondern viel eher auf der Suche nach tragbaren Zelten sind. Die Weg-Metapher für das Volk Gottes widerspricht m. E. auch einer Vorstellung von Kirche als einem offenen Haus.

Nach der Problemanalyse und der Vorgabe bietet nun F. seinen theoretischen Entwurf (Teil 3) zur Bedeutung des Gedächtnisses als Ort der Erinnerung und des Vergessens: zunächst aus kultur- und gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive (Kap. 5), dann in Bezug auf die jüdisch-christliche Tradition (Kap. 6). Ausführlich vergleicht F. die Modelle des mnemischen, kollektiven, historischen und kulturellen Gedächtnisses, um schließlich seine Präferenz für das kulturelle Gedächtnis (A. u. J. Assmann; 238) offenzulegen. Die Verarbeitung von Traditionsbrüchen kann daher reformativ, adaptiv, retrospektiv oder prospektiv sein. Die gesellschaftlichen und kulturellen Gedächtnisstrukturen sind laut F. auch auf das Gedächtnis von Kirche und Christentum übertragbar, das allerdings mit eigenen Sinnkriterien arbeitet. Das 6. Kapitel versucht also unter dem Titel "Gedächtnis - Wirksamkeit des Geistes Gottes" die theologische Sinngebung zu kristallisieren. In Verbindung mit den jüdischen Wurzeln des Gedenkens (Zakor) und einer Theologie nach Auschwitz zeigt F. die liturgische Prägung des Gedächtnisses. Der Titel "Christentum" verweist dann auf die neutestamentliche Aufnahme der Erinnerung. Leider konzentriert sich F. hier einseitig auf die Ordnung stabilisierende lukanische Tradition. Seine thesenhafte Argumentation (Jesus als der Verbindende und der Trennende, der Stifter des Christentums) wird dem komplexen selbstkritischen Potenzial des NT nicht gerecht. Gerade das Einklagen der Konzentration auf die Schrift (330) hätte F. zu einer differenzierteren Wahrnehmung provozieren können. Kennzeichen der anamnetischen Struktur von Liturgie ist die "Feier der Anerkennung des Gottes Jesu Christi als Macht und Maßstab allen Lebens" (286). Sie ist angewiesen auf die verschiedenen Erfahrungen und Kompetenzen der an ihr beteiligten Menschen und fordert eine Vielfalt im symbolischen Ausdruck. Daher bevorzugt F. auch ein kontextuelles Traditionsmodell (R. Schreiter) vor einem transzendentalen (S. Wiedenhofer) und versteht Tradition als den bewohnten Teil des Gedächtnisses, wo mehr gespeichert ist, als gerade gebraucht wird. Ihre Bedingungen sind Stabilität, Transformierbarkeit und Bewährung mit dem Ziel, Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, aus eigener Erfahrung zu glauben. Die Bindung an die ersten Zeugnisse ist zentral für die Tradition und eine Quelle der Selbstkritik und kreativen Reform des Christentums.

Im 4. Teil versucht F. seine theoretischen Reflexionen an der Praxis zu überprüfen und beschreibt den Bruch mit antijüdischen Traditionen in einem Tiroler Dorf. Die Wende im Verhältnis zum Judentum durch Vat II forderte eine Kritik und Transformation der gelebten "Volksreligiosität". Wissenschaftliche Theologie hat für ihn dabei die Rolle der kritischen Vermittlerin zwischen gelehrtem und gelebtem Glauben (379; Kap. 7). Hier könnte m. E. eine Auseinandersetzung fruchtbar sein, die Theologie als kritische Reflexion des gelebten Glaubens versteht (Schleiermacher). Die Ambivalenz, alle Getauften in der pluralen Darstellung ihrer Gotteserfahrung als kompetente Zeuginnen und Zeugen zu achten, zeigt sich im 8. Kapitel. Auf Grund einer antijudaistischen Ritualmordlegende wird ein Kind, "Anderl von Rinn", in Judenstein bei Innsbruck z. T. noch bis heute als Märtyrer verehrt. F. skizziert den noch immer anhaltenden Prozess, mit diesem Kult zu brechen, die Schwierigkeit, im Gedächtnis einen Wandel zu motivieren und das Veränderte als neue Tradition zu stabilisieren. Die Rede vom Gedächtnis - sowohl als kulturelles als auch als kirchliches - offenbart hier ihre diffuse und nur schwer greifbare Seite: Denn wer hat den Zugang zum Gedächtnis und wer kann es verändern? Ein Dialog mit gegenwärtigen Selbstverständniskonzeptionen (im Anschluss an Bultmann), deren Semiotik F. nicht ganz fremd ist, hätten m. E. fruchtbar sein können, aber vielleicht ist es von beiden Seiten noch ein langer Weg, bis wir nach einem interdisziplinären zu einem interkonfessionellen Selbstverständnis in der wissenschaftlichen Theologie gelangen.

F. schließt mit einer Basistheorie zum Gedächtnis im Wandel (5. Teil: Kap. 9), die als Fragment und als Bekenntnis zur Kontingenz christlicher Suchprozesse eine konstruktivistische Pointe eröffnet: "Das Evangelium Gottes bewährt sich im Detail durchaus unterschiedlich, ja gegensätzlich" (453). Eine gewagte These, denn so könnte alles zum Evangelium werden ... und wo wäre dann die gute Botschaft? Ich empfehle dieses Buch als einen kritischen Gesprächspartner auch im Hinblick auf eine protestantische Ekklesiologie. Diese selbstkritische katholische Position kann eher Anknüpfungspunkt für eine konstruktive ekklesiologische Auseinandersetzung sein als die symbiotische Sehnsucht nach Anerkennung durch die ältere Schwester.