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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1077–1079

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Emersleben, Lars

Titel/Untertitel:

Kirche und Praktische Theologie. Eine Studie über die Bedeutung des Kirchenbegriffes für die Praktische Theologie anhand der Konzeptionen von C. I. Nitzsch, A. G. v. Zezschwitz und Fr. Niebergall.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1999. XII, 422 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 99. Lw. DM 174.-. ISBN 3-11-016267-9.

Rezensent:

Henning Schröer

Diese Kieler Dissertation, betreut von Reiner Preul, vermindert das oft beklagte Defizit an gründlichen Studien zur Geschichte der Praktischen Theologie erheblich. Der Vf. untersucht drei Klassiker der Praktischen Theologie im Blick auf deren Verhältnisbestimmung von Kirche und Praktischer Theologie: zuerst C. I. Nitzsch, den Autor des ersten großen Lehrbuchs für die Disziplin (1847 ff.), sodann A. G. v. Zezschwitz mit seinem "System" des Fachs (1876/78) im Kontext Erlanger Theologie und Fr. Niebergall, den Vertreter "moderner" Praktischer Theologie als "Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage" (1918/19). Das ist eine lohnende Fragestellung, nicht zuletzt im Blick auf Feststellungen wie die von G. Otto, nach Schleiermacher sei eine Verengung der Praktischen Theologie durch die Konzentration auf die kirchliche Praxis des Christentums eingetreten, so dass die Problematik von Religion und Gesellschaft nicht mehr genügend zu Gunsten einer kritischen Theorie im Blickfeld gewesen sei.

Mit Ottos Kritik der Systemkonzeptionen im Sinne eines ",ecclesialen' Paradigmas" setzt denn auch sachgemäß die Studie in ihrer "Einleitung" (1-13) ein. Es ist das Ziel der Arbeit, demgegenüber die Notwendigkeit einer systemischen Kirchentheorie für die Konstitution Praktischer Theologie damals und heute zu erweisen. E. folgt dabei dem Ansatz seines Lehrers Preul, der Kirche als "System der Kommunikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses" auffasst und darin E. Herms nahesteht. Der Vf. unternimmt es nun, diesen kirchentheoretischen Ansatz an den drei genannten epochalen Konzeptionen zu erproben. Nitzsch stellt dafür die Basis dar, v. Zezschwitz und Niebergall modifizieren ihn, gerade durch - das ist die Hypothese - die jeweils andere Fassung und Funktion des jeweiligen Kirchenbegriffs. Methodisch vertretbar hat sich der Vf. auf diese drei Konzeptionen beschränkt. - Er klammert also auch Th. Harnack und E. Chr. Achelis aus, "weil sie sich - bezüglich der in dieser Studie gewählten Fragestellung - in den Bahnen von Zezschwitzs bewegen" (10). Ob das voll zutrifft, lasse ich mit leisem Zweifel hier offen.

Der Vf. strebt nicht eine die historische Entwicklung nachzeichnende Studie an, sondern analysiert funktional die Leistung des jeweiligen Kirchenbegriffs für die praktisch-theologische Systembildung. Er erhofft sich insgesamt einen Impuls für die gegenwärtige Darstellung der Prolegomena Praktischer Theologie, die im Rang einer "Hauptvorlesung" (13) eine Kirchentheorie benötige, die mehr sei als eine Theorie des Gemeindeaufbaus. - Auf die radikale Infragestellung Niebergalls durch die Dialektische Theologie geht die Untersuchung leider nicht mehr ein, eine historisch verständliche, aber für die aktuelle Zielsetzung doch bedenkliche Einschränkung auf die Zeit zwischen Schleiermacher und Barth.

Die Darstellung der Konzeption von Nitzsch (14-124) ergibt ein gründliches Bild der Intentionen von Nitzsch, das geeignet ist, ihn gegen die bekannten Vorwürfe, er habe Schleiermachers Weite durch kirchliche Einengung unkritisch weitergeführt, in Schutz nimmt. Es gelingt zu zeigen, dass Nitzsch methodisch durchaus eine kritische Funktion der Theoriebildung im Sinn hatte, wenn er Begriff und Tatsächlichkeit dialektisch im Blick auf Kunstregeln zum Handeln aufeinander bezog. Kirche wird bei Nitzsch praktisch-theologisch - das ist ein Fortschritt für die Forschung - von dessen Handlungs- und Bildungsverständnis als Handlungsermöglichung im Sinne einer Zieloption aufgefasst. Das ergibt eine eher auf spätere Konzeptionen wie von Troeltsch (109) hinweisende dynamische offene Theorie, die keinesfalls klerikal orientiert war, sondern von den Gemeinden her das vielzitierte aktuose Subjekt Kirche handlungswissenschaftlich zu fördern suchte. Es ist dem Vf. gelungen, Nitzschs Anliegen insbesondere im Blick auf Amtsverständnis, Handlungsbegriff, Bildungsinteresse und die Abgrenzung zur Ethik über die bisherigen Analysen hinauszuführen. Dass Nitzsch nicht voll rezipiert worden ist, zeigen die folgenden Kapitel.

Fraglich bleibt mir allerdings, ob Nitzschs ausgleichend angelegtes Konzept wirklich den Fragestellungen gewachsen ist, die sich in der Entwicklung von Religion, politischer Klassenbildung, eschatologischer Theologie und nachidealistischer Hermeneutik für das Verhältnis von Idee und Tatsächlichkeit ergaben.

Die ebenfalls profunde Darstellung der Konzeption von Zetschwitzs (125-186) arbeitet erhebliche Unterschiede zu Nitzsch, ungeachtet des analogen Interesses, die Kirche als aktuoses Subjekt praktisch-theologisch zu würdigen, heraus. Während Nitzsch über Handlungs- und Bildungsbegriff in einer offenen funktionalen Theorie zur Kirche vorstoße, setze v. Zezschwitz mit der Kirche als Subjekt heilsgeschichtlich ontologisch ein. Damit ergebe sich sowohl Historisierung wie futurische Eschatologisierung, ohne wie bei Nitzsch dem gegenwärtigen Zustand in seiner Tatsächlichkeit wesentliche Bedeutung zuzumessen. Damit falle Zezschwitz hinter das bei Nitzsch Erreichte zurück.

Mir scheint aber, dass gewürdigt werden müsste, dass Zezschwitz immerhin stärker einer deutlich apostolisch-biblisch orientierten Praktischen Theologie entspricht und gerade auch mit dem von Paul Kleinert übernommenen seinerzeitigen Vorwurf der Liturgisierung des Geschehens von Kirche gerade ein Wahrheitsmoment für die aktuelle Bedeutung von Ritual- und Symbolästhetik für sich hat.

Niebergall schließlich erfährt eine ausführliche Würdigung (187-326), die den Rückgriff auf Nitzschs Interesse an gegenwärtiger Tatsächlichkeit mit den Mitteln damals neu aufkommender "Religionswissenschaft" empirisch methodisch aktualisierte. Die Konzentration auf die konkrete Ortsgemeinde als Hauptgegenstand wird auch in ihrem Verhältnis zur Gesamtkirche sachkundig aufgearbeitet, wobei V. Sandbergers und H. Luthers Arbeiten sinnvoll genutzt werden. Dass jedoch auch Niebergall gegenüber Nitzschs Intentionen zurückbleibt, zeigt Emersleben deutlich.

So bringt das letzte Kapitel "Ergebnisse und Konsequenzen" (327-349) 16 Thesen, die Nitzsch als Basis auch für heutige Theoriebildung reklamieren.

Kernstück ist die Forderung in These 10: "Zusammenfassend ist die Praktische Theologie also in Form einer kybernetischen Bildungstheorie über ihre Zielfunktion als dialektisch-kritische Theorie kirchlichen Handelns zu konstituieren" ( 345). Dem entspricht These 11: "Für das Gelingen einer so betimmten Praktischen Theologie ist eine Kirchentheorie fundamental bedeutsam. Wie schon Nitzsch ausführte, bezieht die Kirchentheorie die Idee kirchlichen Handelns auf den vorfindlichen kirchlichen Zustand zum Zwecke eines kritischen Urteils und einer Verbesserung kirchlichen Handelns" (346).

Der Vf. meint auch die Brücke zur Reformation tragfest geschlagen zu haben, wie die These 16 zeigt: "Der Kirchenbegriff konstituiert die Einheit der Praktischen Theologie, er konstituiert sie durch seine reformatorische Fassung" (349).

Während der Vf. systemhistorisch eine beachtliche Leistung erbracht hat, wird man seine Thesen für die gegenwärtige Theoriebildung erheblichen Anfragen aussetzen müssen.

Die Kritik der Dialektischen Theologie an der Entwicklung von Nitzsch bis Niebergall bleibt systematisch unberücksichtigt. Damit sind auch die Konsequenzen der mit der Barmer Theologischen Erklärung vollzogenen kritischen Weiterführung des Kirchenbegriffs nach CA VII nicht im Blick. Ebenso müsste nun der aktuelle Streit zwischen System- und Handlungstheorie theologisch ausgetragen werden. Der Vf. hält an dem alten idealistischen Schema von Idee bzw. Ideal und Tatsächlichkeit fest. Insbesondere bleibt dabei das zentrale Problem der Sprache in ihrer möglichen Theologizität unerörtert, obwohl dem Vf. an der Berücksichtigung der Medienwirklichkeit liegt. Auch das Verhältnis von Handeln und Leben(swelt) bedürfte schon historisch einer Aufarbeitung, denn alle drei Klassiker greifen auf den Begriff des Lebens zurück. "Die Einheit ist das Leben" (Nitzsch, PTh.I.4). Schließlich kann man vermissen, dass der Begriff der Religion in seinem Verhältnis zum christlichen Glauben keine wesentliche Rolle spielt. So wird man auch überlegen müssen, ob der Rekurs des Vf.s auf das Rechtfertigungsgeschehen das Thema Heiligung abblendet.

Es ist nichts gegen eine historisch informierte Kirchentheorie im Zentrum praktisch-theologischer Prolegomena einzuwenden, die sich nicht der Dogmatik entlehnt, sondern selbständig interdisziplinär entwickelt wird. Aber sie wird die Verlegenheiten der Geschichte stärker aufspüren und sich fragen müssen, ob die Entwürfe von Nitzsch bis Niebergall nur durch oberflächliche Rezeption so wenig wirksam für eine Zeit danach waren und sind oder ob nicht doch auch praktisch-theologische Theoriebildung im Blick auf Kirche als creatura verbi (vom Vf. oft zitiert) härteren Herausforderungen ausgesetzt ist als sie sich Nitzsch und Niebergall träumen ließen, die gewiss für ihre Zeit Erhebliches vollbracht haben und durchaus vor Fehlurteilen zu schützen sind. Zu Letzterem leistet die Studie präzise und gründliche Arbeit. Viele, denen die Quellen nur schwer zugänglich sind, haben nun die Chance der soliden Kenntnisnahme samt Warnung vor Simplifikation der eben auch keineswegs einfachen Geschichte der Praktischen Theologie.

Die Arbeit ist sehr sorgfältig abgefasst. Ich entdeckte nur zwei kleine Druckfehler: "scientia ad praxeos" (22) statt "scientia praxeos" und "F. (statt A.) Schweizers" (154).