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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1074–1076

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eisert-Bagemihl, Lars, u. Ulfrid Kleinert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mandat statt Mission. Soziale Arbeit in Kirchenkreisen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1999. 213 S. 8 = Akzente der Entwicklung sozialer Arbeit in Gesellschaft und Kirche, 5. Kart. DM 24,80. ISBN 3-374-01751-7.

Rezensent:

Ralf Evers

Das Vorhaben ist umfassend: Die Herausgeber wollen mit ihrem Band zur Kirchenkreissozialarbeit Anstöße und Beispiele zur Weiterarbeit in Praxis und Lehre und für die konzeptionelle und strukturelle Diskussion (7) liefern und dabei die Stimmen von Praktikerinnen und Praktikern durch theoretische Analysen und konzeptionelle Überlegungen ergänzen.

Von der Praxis der Kirchenkreissozialarbeit berichten sechs Beiträge aus Hamburg, Thüringen und Sachsen. Doch ist weder ersichtlich, wie es zu dieser Auswahl von Beiträgen kommt, noch inwiefern sie für das Gesamt der Kirchenkreissozialarbeit oder spezifische Problematiken kennzeichnend sind. Die deutliche regionale Beschränkung wird auch durch die vorangestellten konzeptionellen Erwägungen nicht aufgelöst; vorgestellt werden die Kirchenkreissozialarbeit im Kirchenkreis Hamburg-Harburg und in den evangelischen Landeskirchen Thüringen und Hannover. Doch eröffnen vor allem die Beiträge von Lars Eisert-Bagemihl und Ulrich Wesenick das Gespräch über Aktuelles und Grundsätzliches. Beide fußen auf dem aus der Diskussion der offenen Sozialarbeit der Kirchen bekannten Aufgabenteppich der Kirchenkreissozialarbeit der Hannoverschen Landeskirche. Während Wesenick beschreibt, wie dieser Ansatz in einem Rahmenkonzept aufgegriffen und in der Landeskirche umgesetzt wird, entwickelt E.-B. den Teppich zu einem Konzeptionsdreieck (138) weiter und stellt umfassende Erwägungen zur Konzeptionsentwicklung der Thüringer Kirchenkreissozialarbeit an.

Von E.-B. stammen drei der insgesamt fünfzehn Beiträge des Sammelbandes. Sie bilden dessen Rückgrat und führen von der Wahrnehmung der spätmodernen Wirklichkeit (Der gesellschaftliche und kirchliche Wandel als Herausforderung für die offene Sozialarbeit der Diakonie) über die angesprochenen konzeptionellen Erwägungen (Profile und Perspektiven der Thüringer Kirchenkreissozialarbeit) hin zur Vorstellung eines Fortbildungskonzepts (Zwischen Diakonischem Werk und Evangelischer Hochschule: Fortbildung in Thüringen als Beitrag zur Organisationsentwicklung). Die Konturen des tiefgreifenden Wandels in der Gesellschaft bestimmt E.-B. sehr umfassend unter Rückgriff auf Ulrich Becks Rede von der Reflexiven Modernisierung und v.a. Anthony Giddens Kritischer Theorie der Späten Moderne. Die Feststellung, dass gesellschaftliche Veränderung, Marktwerdung des Sozialstaats und kirchlicher Wandel die Offene Sozialarbeit der Diakonie betreffen, wird durch den Bezug auf die Gemeindewirklichkeit fokussiert. Über sozialpolitische Stellungnahmen hinaus sei es ihr Ziel, die Gemeindewirklichkeit im Sinne des Anspruchs Diakonischer Gemeinde unter der Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten im regionalen Umfeld zu verwirklichen (51).

In seinen konzeptionellen Überlegungen geht E.-B. von der Diagnose des allgemeinen Umbruchs aus. (Weitaus treffender werden diese Umbrüche in ostdeutscher Perspektive übrigens im gleichen Band von Harald Wagner vorgestellt und erörtert.) Dieser Diagnose stellt E.-B. ein Leitbild entgegen, das sich aus den Elementen Mensch, Gemeinde und Dienst zusammensetzt. Zur vermittelnden Größe werden Kreisdiakoniestellen, deren Aufgaben das o. g. Konzeptionsdreieck verdeutlicht. In diesem Dreieck werden die konzeptionellen Kernaufgaben Beratung, Mandat und Vernetzung mit Aufgabenschwerpunkten vermittelt, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter formulierten: dem diakonischen Gemeindeaufbau, der Arbeit mit Selbsthilfegruppen und der Projektentwicklung (vgl. 138 f.).

Durch diese Verknüpfung wird die Basis des Fortbildungsprogramms angedeutet; es geht um die Entwicklung einer Konzeption in einem für die thüringische Landeskirche traditionellen Handlungsfeld, um prozessorientierte Organisationsentwicklung, die durch eine Fortbildungsreihe realisiert werden sollte. Insgesamt überzeugen die Erwägungen E.-B.s durch den vorgestellten Spannungsbogen, der in vielen Details anregend und diskutierenswert ist.

Weiter erwähnenswert ist der Beitrag von Ulfrid Kleinert: Johann Hinrich Wicherns Gutachten zum Diakonat und die Kirchenkreissozialarbeit heute. Wicherns "Gutachten über die Diakonie und das Diakonat" von 1856 ist für K. "die Wegmarke in der Neuzeit", wenn es um die Aufgabenbestimmung von Kirchenkreissozialarbeit geht. Wicherns Eintreten für das Diakonat als selbständiges Amt kirchlicher Pflege der Armen basiert auf der Notwendigkeit, die Hauptformen der bürgerlichen, freien und kirchlichen Diakonie miteinander zu vermitteln. Alle drei basieren, Wichern zufolge, auf einer Urform der Diakonie und also auf deren Ursprung im Liebeshandeln Gottes. Eben diese Rückbindung wird, bedingt durch die zunehmende Säkularisierung, K. zufolge zunehmend schwieriger. Inzwischen müsse sich Diakonie zur sozialen Arbeit und deren politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen und ihrer Fachlichkeit in Beziehung setzen. Es seien nunmehr vier Hauptformen sozialer Arbeit zu unterscheiden: die der kommunalen Behörden, des freien Marktes, der durch Steuern und Versicherungen (mit-)finanzierten freien Träger und der Kirchen (91). Für die Kirchenkreissozialarbeit als "zentrale(r) Organisationsform kirchlicher Diakonie" (92) ergibt sich auf Grund der Nötigung zur Professionalität bei gleichzeitigem Geldmangel die Notwendigkeit der Einführung des Diakonats, das aber "in der Regel nicht in der Gemeinde selbst, sondern auf der Ebene des Kirchengemeindeverbandes bzw. des Kirchenbezirks oder des Kirchenkreises anzusiedeln" (99) ist. - Dass es sich bei der Kirchenkreissozialarbeit um "einen im Keim zukunftsweisenden Ansatz" handelt, entwickelt K. auch in einer Thesenreihe, die der Publikation unter dem Titel "Sozialarbeiterische Innovationen durch Kirchenkreis- und Gemeindediakonie" beigegeben ist.

Richard Münchmeiers Beitrag Zuständig für alles oder nichts? Ortsbestimmung für die allgemeine Sozialarbeit im Fortbildungsprozeß einer westdeutschen Landeskirche beschreibt schließlich die Selbstverständigung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Diakonischen Werks einer westdeutschen Landeskirche über die Grundfragen der kirchlichen allgemeinen Sozialarbeit. Den Ausgangspunkt bildet eine Bestandsaufnahme des aktuellen sozialen Wandels, der sich in der alltäglichen Lebensführung, in der Arbeitslosigkeit, in den Veränderungen familiärer Strukturen oder auch im Wandel der Sozialisationsweisen niederschlägt. Diese Beobachtungen nötigen einerseits zu einer Spezialisierung der Sozialarbeit und ihrer Dienste, verlangen andererseits aber eine Rückbesinnung auf die allgemeine Sozialarbeit, die "so etwas wie der sensible, lebensweltnahe Seismograph für die notwendigen Weiterentwicklungen der Sozialen Arbeit" (119) sein soll. Kritisch setzt Münchmeier sich mit den sich zwangsläufig ergebenden Handlungs- und Rollenproblemen einer solchen allgemeinen Sozialarbeit auseinander, Auswirkungen für die kirchliche allgemeine Sozialarbeit werden aber lediglich angedeutet.

Dem umfassenden Vorhaben seiner Herausgeber wird der Sammelband insofern gerecht, als er einige Anstöße und Beispiele zur konzeptionellen Diskussion um die Kirchenkreissozialarbeit bereithält. Die Beiträge fügen sich somit in den beginnenden Prozess der Verständigung um die Chancen, Grenzen und Ziele der allgemeinen Sozialarbeit der Kirchen ein; doch bringen sie ihn m. E. nicht weit voran. Nicht nur ließe sich auf eine Fülle von Beispielen praktischer Arbeit aus anderen Landeskirchen verweisen. Wünschenswert wären auch eine deutlichere Bezugnahme der theoretischen Arbeiten aufeinander oder wenigstens auf den gemeinsamen Gegenstand. Im Ergebnis werden nur Ansätze zu einem konzeptionellen Gespräch geboten, doch ist die theologische Diskussion um die implizite Diagnose der Gegenwart ebenso zu führen wie die Kirchenkreissozialarbeit selbst theologisch zu begründen ist. Die im Titel des Sammelbandes dafür programmatisch in Anspruch genommene Ersetzung von Mission durch Mandat ("Mandat statt Mission", vgl. 10-13) erweist sich dabei allerdings als wenig hilfreich, solange eine stumpfe Opposition der Begriffe den Blick auf ihre Verwobenheit verstellt. Genau hier, beim Ineinander von sozialarbeitswissenschaftlich verstandenem Mandat und theologisch reflektierter Mission, könnte die Auseinandersetzung beginnen.