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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1072–1074

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Böckel, Holger

Titel/Untertitel:

Gemeindeaufbau im Kontext charismatischer Erneuerung. Theoretische und empirische Rekonstruktion eines kybernetischen Ansatzes unter Berücksichtigung wesentlicher Aspekte selbstorganisierender sozialer Systeme.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1999. 458 S. 8. Kart. DM 58.-. ISBN 3-374-01765-7.

Rezensent:

Wolfgang Reinhardt

Dem Buch liegt eine Dissertation von 1998 an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu Grunde. Böckel verfolgt ein doppeltes Ziel: er will (erstmals) das Gemeinde(aufbau)verständnis der (innerevangelischen) charismatischen Bewegung (CB) in Deutschland, besonders der Geistlichen Gemeindeerneuerung (GGE) darstellen. Zum anderen verfolgt er ein (doppeltes) praktisches Interesse: Die Rekonstruktion soll Kriterien liefern, um den Ansatz kontextuell zu korrigieren bzw. weiterzuentwickeln, und will den Dialog mit der GGE vor Ort und auf kirchenleitender Ebene fördern.

Erkenntnisleitender Kontext ist die Diskussion um den Gemeindeaufbau. In der Tradition der Typologisierungen von Gemeindeaufbaukonzeptionen entwickelt B. eine Matrix, um den polyzentrischen, konzentrischen und monozentrischen Gemeindeaufbau neu zuzuordnen. Dabei verwendet er die kybernetischen Kategorien von (materiell-)substantieller und (geistig-) sinnhafter Dimension des Organisierens. Sie sind der Selbstorganisationslehre sozialer Systeme nach Gilbert J. B. Probst entlehnt, die als kybernetische Rahmentheorie zu Grunde gelegt wird. Die Gemeindeaufbaukonzeption der charismatischen Erneuerung wird innerhalb der Matrix als ein "spezifisches konzentrisches Modell" beschrieben.

In den ersten der beiden folgenden geschichtlichen Kapitel wird (wie schon von anderen Autoren) die transkonfessionelle charismatische Bewegung als Entstehungszusammenhang der Geistlichen Erneuerung in den evangelischen Landeskirchen beschrieben. Angesichts der bis vor kurzem heftigen Diskussion um außergewöhnliche Phänomene (wie im sog. "Toronto-Segen") ist der Hinweis auf die Ambivalenz der dynamischen Komponente der Geistwirkung beachtenswert, die immer die potentielle Gefahr in sich berge, "in die einseitige Betonung ekstatischer Phänomene abzugleiten."

Wie andere sieht auch B. die theologischen Unterschiede der GGE zur transkonfessionellen CB vor allem in der theologisch unterschiedlichen Bewertung der Geist-Erneuerung (statt "Geisttaufe") und in der prinzipiellen Nicht-Vorordnung der außergewöhnlichen (nicht "übernatürlichen") Charismen wie Glossolalie, Prophetie und Heilungsgaben als gleichwertiger Dienstgaben für die Gemeinde. Das 3. Kap. stellt die Geschichte der GGE in drei Hauptphasen unter der Leitfrage der jeweils leitenden Gemeindeaufbauoption dar. Besonders die Bewertung der zweiten, der "konfessionell-charismatischen Hochphase", ist aufschlussreich und dürfte zu kontroversen Diskussionen Anlass geben. U. a. sei hier durch die Leitfigur der westdeutschen GGE eine überzogene Zielsetzung und illusorische Option einer charismatisch erneuerten Ortsgemeinde als ganzer wirksam geworden und "das Scheitern der Bewegung als Möglichkeit von vornherein mitgegeben und in gewisser Weise prädestiniert." Demgegenüber formuliert B. als Fazit des Überblicks, "daß man sich vom Leitbild einer erneuerten Gemeinde als einer charismatisch integrierten, relativ geschlossenen Lebenswelt distanziert und die indirekten Wirkungen der Arbeit als innovative Impulse für die ganze Parochie in den Blick bekommt."

Das zentrale 4. Kap. rekonstruiert eine "kybernetische Theorie charismatischer Erneuerung." Das besondere Profil gegenüber verwandten (etwa mission.) Gemeindeaufbaukonzeptionen liege im Widerfahrnischarakter der Erneuerung durch die "pneumatische Erfahrung der wirkmächtigen Gegenwart im Heiligen Geist." Die Spiritualität der Erneuerung zeige sich in acht mehr oder weniger obligatorischen Grunddimensionen, die als pragmatische Kennzeichen der GGE betrachtet werden können: Erneuerung der Gottesbeziehung, des Gebets, des Umgangs mit der Bibel, der Seelsorge, der Gottesdienste, Gemeinschaft in überschaubaren Gruppen, charismatischer Gemeindestruktur, Mission und Ökumene. Charakteristischer aber ist die kybernetische Grundstruktur, die sich in drei Schritten vollzieht.

1. Geisterneuerung als dynamische Christuserfahrung: B.s abgewogene Urteile sollten vor einer simplifizierenden Darstellung der GGE warnen: die mit der Geisterneuerung verbundenen dynamischen enthusiastischen Aspekte forderten zwar den Intellektualismus der Theologie und die Überbewertung des Institutionellen in der Kirche heraus, seien aber prinzipiell der Schrift und dem christologischen Dogma unterzuordnen. Das erfahrbare Geistgeschehen müsse in der notwendigen Verbindung von drittem und erstem Glaubensartikel gesehen werden, um einer vorschnellen Identifizierung von besonderer religiöser Erfahrung mit dem Heiligen Geist vorzubeugen und den vorläufigen Zeichencharakter aller Charismen zu wahren. Der 2. Bereich ist die charismatisch-gottesdienstliche Sammlung als paradigmatisches Zentrum des Gemeindeaufbaus in der GGE. Der charismatische Gottesdienst als dritter Typ neben dem herkömmlich agendarischen und dem Gottesdienst in neuer Form setze die immer neue Bereitschaft einer hinreichenden Anzahl von Gottesdienstbesuchern voraus, sich mit ihren Gaben einbringen zu wollen. Manche der kirchlich ungewöhnlicheren Elemente werden in ihrer Sinnhaftigkeit für Außenstehende verständlicher, so wenn etwa die Glossolalie als zweckfreies liturgisches Symbol des Heiligen gedeutet wird, oder prophetische Äußerungen als (immer von der Persönlichkeit des Redenden mitbeeinflusste) Formen symbolischer Kommunikation, die mehr als rein begrifflich verstandesmäßige Äußerungen vermitteln könnten. Der 3. Schritt ist die Erneuerung der Charismen als Form des Gemeindeaufbaus und als Funktion der Sendung der Gemeinde. Charismen werden schöpfungsanalog verstanden, d. h. dass auch die ungewöhnlicheren Gaben in ihren paranormalen Anteilen prinzipiell eine kreatürliche Grundlage haben, aber auf ein geistlich inspiriertes Geschehen verweisen, eine Transzendierung des Alltäglichen (aber nicht des "Natürlichen"). Wichtiger sei ihre funktionale diakonische Zuweisung zur Gemeinde. Um die Relation zwischen göttlichem Geist und menschlichem Charisma zu erfassen, greift B. den inzwischen in vielen Zusammenhängen angewandten Begriff der "theonomen Reziprozität" auf - hier kybernetisch verstanden im Prozess charismatisch pneumatischer Selbstorganisation.

Die theoretische Rekonstruktion wird durch empirische Daten zur kybernetischen Praxis charismatischer Erneuerung (im 5. Kap.) untermauert. Zunächst werden die allgemeinen Strukturen der GGE-Arbeit und die quantitative Durchdringung der Pfarrerschaft mitgeteilt. Dann werden die Ergebnisse einer qualitativ explorativen Untersuchung in fünf sehr unterschiedlichen Gemeinden vorgelegt. Die folgende Reflexion bringt ergänzende neue Überlegungen, z. B. über energetische und intuitive Aspekte der Geisterfahrung, "Lobpreis und Popkultur", vor allem über "Charisma und Kybernetik".

Das funktionale Leitungsamt wird dabei als ein Charisma unter anderen gesehen. Es könne sich nur gemeindeaufbaufördernd auswirken, wenn es die partizipativen, selbstorganisierenden Effekte der charismatischen Gemeinde nicht gefährde oder gar unterdrücke

Hier wird die Fruchtbarkeit der vier soziologischen Kategorien selbstorganisierender Systeme sichtbar: 1. Komplexität bzw. Erhöhung der Varietät und Flexibilität (die vermeintliche Konzeptionslosigkeit der GGE verweise gerade auf ihre Stärke. Im Gegensatz zu mechanistischen planbaren Entwürfen werde sie im Hören auf die Führung Gottes mehr der ungeheuren Komplexität zweckrationaler Systeme gerecht). 2. Das Kriterium der Selbstreferenz zeige sich vor allem in der Partizipation und Wechselseitigkeit der Charismen im geistlichen Gestaltungsprozess. 3. Die Redundanz erweise sich in einem bewussten Überschuss an Impulsen, von symbolischen Eindrücken (innerer Bilder) und Deutungen als Quelle für innovatives Verhalten und eine kreative Erweiterung von Wahrnehmungsperspektiven. 4. Relative Autonomie als (relative) Identität und Abgrenzung von der Umwelt durch gemeinsame Ziele und eine gemeinsame Lebenswelt im kybernetisch vernetzten Teilsystem, das aber das Gesamtsystem Kirche und Gemeinde beeinflusst: Wie verschieden groß die Autonomie bzw. Vernetzung der Subsysteme charismatischer Erneuerung mit dem Gesamtsystem sein kann, wird an drei Grundmodellen (mit Schaubildern) gezeigt.

Nicht erst das Fazit am Schluss drängt den Eindruck auf, dass das Buch mitunter zu viele Wiederholungen enthält und dann ermüdend wirkt. Im Interesse des gemeinsamen Anliegens von geistlichem Gemeindeaufbau wünschte man sich bei aller Wahrung der "Kernkompetenz" der jeweiligen Richtung aber eine stärkere Beachtung der Ergänzungsfähigkeit mit verwandten Konzeptionen und Modellen. So kommt etwa in dem an sich instruktiven Schaubild der Gemeindeaufbaukonzeptionen und im Literaturverzeichnis der weit verbreitete Ansatz der verheißungsorientierten Gemeindeentwicklung nach Burkhard Krause nicht vor; das Verhältnis von sinnhafter und substantieller Ebene in einigen konzentrisch missionarischen Modellen ist angemessener darzustellen.

Insgesamt ist es ein Grundlagenwerk, das jeder, der sich um ein Verstehen der charismatischen Bewegung bemüht, beachten sollte. Darüber hinaus enthält es eine Fülle von wichtigen Einsichten für alle, die an Gemeindeaufbau und Erneuerung in der Volkskirche interessiert sind.