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Ausgabe: | Dezember/1998 |
Spalte: | 1254–1257 |
Kategorie: | Religionspädagogik, Katechetik |
Autor/Hrsg.: | Domsgen, Michael |
Titel/Untertitel: | Religionsunterricht in Ostdeutschland. Die Einführung des evangelischen Religionsunterrichts in Sachsen-Anhalt als religionspädagogisches Problem. |
Verlag: | Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1998. VII, 619 S. gr.8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 13. DM 150,-. ISBN 3-374-01671-5. |
Rezensent: | Helmut Hanisch |
Die vorliegende Untersuchung ist in der Reihe "Arbeiten zur Praktischen Theologie" erschienen, die von Karl-Heinrich Bieritz, Wilfried Engemann und Christian Grethlein herausgegeben wird - bisher bei de Gruyter, ab diesem Band bei der Evangelischen Verlagsanstalt. Es handelt sich dabei um die Dissertation von Michael Domsgen.
Der Autor hat sich - wie aus dem Vorwort hervorgeht - zum Ziel gesetzt, "die Diskussion um die Einführung des Religionsunterrichts zu analysieren, die dabei vorgebrachten Argumente zu systematisieren sowie weiterführende Linien zu ziehen, um bei der konzeptionellen Neugestaltung des Religionsunterrichts in Ostdeutschland voranzukommen" (1).
Um die Schwierigkeiten in den Blick zu bekommen, die sich der Einführung des Faches Religion in Sachsen-Anhalt in den Weg stellten, geht der Vf. zunächst ausführlich auf die Entwicklung der Volksbildung in der DDR ein. Dabei wird deutlich, daß die politisch Verantwortlichen bei der Profilierung des Volksbildungssystems nach dem Krieg von Anfang an darauf aus waren, eine klare Trennung von Staat und Kirche herbeizuführen. Konkret bedeutete das, daß der Religionsunterricht konsequent und zielstrebig aus der Schule verdrängt wurde. Um die angestrebte kommunistische Erziehung zu gewährleisten, wurden neben der allgemeinen marxistischen Ideologisierung des Bildungswesens das Fach "Staatsbürgerkunde" eingeführt und die Jungen Pioniere und die FDJ in das Schulleben integriert. Zugleich verstärkte sich der Kampf gegen die christlichen Kirchen und gegen Religion überhaupt. Dies drückte sich in einem militanten Atheismus aus. Entsprechend wurde die Entchristlichung und Entkirchlichung der Gesellschaft in allen Bereichen, vor allem aber in der Schule vorangetrieben. Darunter hatten neben den Repräsentanten der Kirchen die jungen Menschen zu leiden, die sich als Christen bekannten, die Christenlehre sowie den Konfirmandenunterricht besuchten und Mitglieder der Jungen Gemeinde waren. Dieser Druck verstärkte sich, als die Jugendweihe propagiert und das Fach Wehrerziehung an den Schulen eingerichtet wurde. Die Kirchen standen diesen Entwicklungen mehr oder weniger machtlos gegenüber. Sie bemühten sich weitgehend erfolglos, auf das in der Verfassung zugestandene Recht auf freie Religionsausübung zu pochen und die Gleichberechtigung christlicher Kinder und Jugendlicher einzuklagen.
Im Zusammenhang mit Liberalisierungen im Bildungssystem in der UdSSR schöpften die Kirchen in den achtziger Jahren Hoffnung, mit den Verantwortlichen der Volkserziehung in der DDR in einen Dialog zu treten, dessen Ziel es war, die Engführungen im erzieherischen Bereich aufzudecken und die Humanisierung des gesamten Erziehungssystems zu erreichen. Ausgehend von der Schulbuchanalyse und vom Konziliaren Prozeß wurden von den Kirchen Bildungsziele gesucht, die die globalen Probleme der Zeit aufnahmen und Vorschläge zu deren Überwindung enthielten. Ein weiterer Ansporn zu diesem Dialog mit dem SED-Regime war für die Kirchen dadurch gegeben, daß in der Deutschen Lehrerzeitung in Vorbereitung des IX. Pädagogischen Kongresses zu einer Leseraktion aufgerufen worden war, um zu einer "weiteren Qualifizierung der Bildungs- und Erziehungsarbeit" (105) zu gelangen. Die Kirchen sahen sich herausgefordert, dazu einen eigenständigen Beitrag zu leisten, bei dem es darum ging, die Dialogfähigkeit bezüglich verschiedener Lebensauffassungen, die Urteilsfähigkeit in ethischen Fragen, die Fähigkeit zum selbständigen geschichtlichen Denken und Verstehen, die Kommunikationsfähigkeit und die Fähigkeit zum kreativen Lernen (109 f.) als grundlegende Bildungsziele einzuklagen. Deutlich wird bei diesem Engagement, daß die Evangelischen Kirchen die Trennung von Staat und Kirche nicht als passives Gegenüber verstanden, sondern Verantwortung für die Gesellschaft und das Gemeinwesen übernahmen und sich als Anwalt aller Kinder und Jugendlichen verstanden. Für die staatlichen Instanzen bedeutete dieser Beitrag der Kirchen wie andere kirchliche Eingaben zu dem Pädagogischen Kongreß jedoch ein weiterer Versuch, das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche zu unterlaufen. Entsprechend blieben sie unbeantwortet. Die angekündigten Reformen blieben gänzlich aus. Die sozialistische Gesellschaft erwies sich als nicht reform- und verbesserungsfähig.
Ausführlich arbeitet der Autor heraus, wie sich die Situation unter dem Druck der politischen Ereignisse im Herbst 1989 schlagartig änderte. Die Kirchen wurden von der damaligen Regierung als Gesprächspartner im Hinblick auf die Neugestaltung der Volksbildung gesucht. Anliegen der Kirchen war es, daß ihre eingebrachten Vorschläge endlich realisiert würden. Zugleich ging es den Kirchen und vielen Christen darum, einen alternativen Sozialismus anzustreben, "nicht aber eine Alternative zum Sozialismus" überhaupt (132). Keinesfalls wollte man eine Vereinnahmung der DDR durch die BRD. Ziel war es, mehr Gerechtigkeit in der DDR zu ermöglichen. Dabei wollte man auf jeden Fall "den Eindruck vermeiden, als wolle die Kirche nun wieder die Macht übernehmen bzw. sich auf die Seite der Mächtigen schlagen" (134).
Diese Aussagen sind wichtige Indizien für das Verständnis der Schwierigkeiten, die sich kirchlicherseits bei der Einführung des Faches Religion in Sachsen-Anhalt ergaben. Prinzipiell gingen die Kirchen davon aus, daß "Religionsunterricht an der Schule nicht anzustreben sei" (140). Dennoch sollte auf christliche Inhalte im Bildungsprozeß nicht verzichtet werden. Dabei war die Überlegung leitend, daß "christlicher Glaube nicht ein Sektor des Lebens darstellt, sondern eine Art Lebenshorizont, der alle Sektoren des Lebens durchwaltet" (152). Die Frage war nun, wie dieses Anliegen schulisch umgesetzt werden könnte, ohne die Schülerinnen und Schüler erneut zu indoktrinieren. Zugleich regten sich Anzeichen, daß durch die Integration christlicher Inhalte in das schulische Bildungswesen die gemeindliche Bildungsarbeit leiden könnte.
Akribisch zeichnet der Vf. aus der Sicht der politisch Verantwortlichen und der Kirchen die Diskussion zu dem Zeitpunkt nach, als sich die Wiedervereinigung abzeichnete. Nun stand der Artikel 7,3 GG zur Debatte. Während die Regierung des Landes Sachsen-Anhalt auf die Einführung des Religionsunterrichts drängte, regten sich besonders in der Kirche der Provinz Sachsen u. a. folgende Befürchtungen:
- Man sah durch die Einführung des Faches Religion den Grundsatz der prinzipiellen Trennung von Staat und Kirche in Frage gestellt.
- Ekklesiologisch war unklar, wie das neue Verhältnis von Staat und Kirche zu bestimmen sei.
- Man hatte Sorge, daß die Einführung des neuen Faches zu einer Aushöhlung der gemeindlichen Unterweisung führen könnte, was nicht zuletzt bei Katechetinnen und Katecheten Existenzängste auslöste.
- Man meinte annehmen zu müssen, daß die Kinder, die am schulischen Religionsunterricht teilnehmen würden, ähnlichen Stigmatisierungsprozessen wie im DDR-Schulsystem ausgesetzt sein würden.
- Das Problem einer "christlichen Ideologisierung" der Schule stand erneut zur Debatte. Auf keinen Fall wollte man den Eindruck der Privilegierung der großen Konfessionen erwecken.
- Es wurde geltend gemacht, daß die Einführung des Religionsunterrichts aufgrund der entkirchlichten gesellschaftlichen Voraussetzungen in Sachsen-Anhalt - wie in den neuen Bundesländern überhaupt - unsinnig sei.
- Prinzipiell wurde angefragt, ob der Religionsunterricht zu den genuinen Aufgaben der Kirche gehöre.
Anhand reichhaltigen Materials dokumentiert der Vf. sowohl die parteipolitischen als auch die kirchlichen Auseinandersetzungen um die Einführung des Religionsunterrichtes. Deutlich wird dabei, daß die Kirchen unter Handlungsdruck gerieten. Ohne grundsätzliche Bedenken ausräumen zu können (vgl. 326ff.), mußten die Weichen für die entsprechenden Formulierungen zum Religionsunterricht in der Landesverfassung und im Schulgesetz gestellt werden.
Das Interesse der Kirchen war es, vorschnelle Festlegungen zu vermeiden und unterschiedliche Optionen offen zu halten. Schließlich einigte man sich trotz großer Zurückhaltung und innerer Widerstände aus unterschiedlichen Gründen innerkirchlich darauf, den Religionsunterricht in der Schule einzuführen. Diese Entscheidung wurde u. a. mit folgenden Hinweisen flankiert, um möglichen Mißverständnissen in der Öffentlichkeit der Kirchen wie der Gesellschaft zu begegnen: Trotz Religionsunterricht bleibt die gemeindliche Bildungsarbeit unverzichtbar; die Einführung geschieht im Interesse des Landes und nicht der Kirche; der Religionsunterricht ist als paralleles Angebot zum Ethikunterricht zu sehen und rangiert in den Gesetzestexten hinter dem Ethikunterricht; die Teilnahme am Fach Religion ist freiwillig; der Religionsunterricht ist grundsätzlich für alle jungen Menschen offen; das Fach Religion wird als Beitrag der Kirchen zur Erneuerung der Schule verstanden.
Innerhalb der Kirchen auf dem Gebiet des Landes Sachsen-Anhalt gab es kein einheitliches Meinungsbild zur Einführung des Religionsunterrichts. Der Vf. arbeitet die unterschiedlichen Auffassungen deutlich heraus: Während in den Verlautbarungen der Evangelischen Kirche der Provinz Sachsen eine zögerliche Haltung zum Religionsunterricht erkennbar ist und darauf gedrungen wird, die neue Aufgabe behutsam anzugehen, wird dem Fach Religion in der Landeskirche Anhalts große Wertschätzung entgegen gebracht. Es wird hier keineswegs als "Bedrohung oder unliebsame Konkurrenz zur gemeindlichen Christenlehre gesehen, sondern als Chance und Verpflichtung zugleich, Kindern und Jugendlichen christliche Glaubensinhalte zu vermitteln und im Raum der Schule Wertorientierungen und Überzeugungen des Christentums ins Gespräch zu bringen" (299).
Die Haltung der Kirche der Provinz Sachsen macht verständlich, daß ein überhasteter Beginn des Religionsunterrichts vermieden werden sollte. Nachdem die entsprechenden rechtlichen, institutionellen und konzeptionellen Voraussetzungen geschaffen worden waren, begann der Religionsunterricht zum Schuljahr 1993/94. Viele Wünsche, die in der anfänglichen Diskussion um die Einführung des Faches eine wichtige Rolle spielten, konnten nicht realisiert werden. Dazu gehört vor allem neben einer Orientierung an dem Brandenburger Modell das Bemühen um einen "christlichen" Religionsunterricht, der ökumenisch erteilt werden sollte. Dabei sollte an die in den Gemeinden gewachsene Ökumene angeknüpft werden.
Im Schlußkapitel zieht der Vf. das Resümee seiner Arbeit. Deutlich wird dabei daß - obwohl die formalen Voraussetzungen für die Erteilung des Religionsunterrichts in Sachsen-Anhalt geschaffen sind - nach wie vor viele Probleme die konsequente Einführung des Faches belasten. Stichwortartig seien u.a. erwähnt: die "Altlasten" einer sozialistischen Schule, die sich in einer antireligiösen Einstellung zeigen; der große Mangel an staatlichen Lehrkräften, die in der Lage wären, das Fach zu unterrichten; das weitgehend ungeklärte Verhältnis von Christenlehre und Religionsunterricht; das Fehlen einer ostdeutschen Religionsdidaktik, die den spezifischen Gegebenheiten in den neuen Bundesländern Rechnung trägt.
Michael Domsgen hat mit seiner Untersuchung zur Einführung des Religionsunterrichts in Sachsen-Anhalt in systematisch hervorragender Weise den Zusammenhang von Kirche, Staat und Gesellschaft im Hinblick auf das Fach Religion ins Auge gefaßt und die spezifischen Probleme und Schwierigkeiten aufgedeckt, die sich aus den politischen Änderungen nach 1989 ergaben. Mit großer Akribie hat er die für seine Arbeit notwendigen Dokumente zusammengetragen und Zeitzeugen zu Wort kommen lassen. Dabei ist es ihm gelungen zu verdeutlichen, wie neben prinzipiellen Überlegungen vor allem auch persönliche Überzeugungen und Interessen die Entwicklungen mitbestimmten. Zu wünschen ist diesem umfangreichen Werk, daß es viele Leserinnen und Leser finden möge, die sich mit Engagement und Sachverstand um eine Weiterentwicklung der vom Vf. erhofften "ostdeutschen Religionsdidaktik" bemühen.