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Ausgabe: | Juli/August/2024 |
Spalte: | 638-641 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Hölscher, Michael, Lau, Markus, u. Susanne Luther [Hgg] |
Titel/Untertitel: | Antike Fluchtafeln und das Neue Testament. Materialität – Ritualpraxis – Texte. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XII, 570 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 474. Lw. EUR 164,00. ISBN 9783161575921. |
Rezensent: | Jürgen K. Zangenberg |
Wer klassische Werke wie Gustav Adolf Deißmanns »Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neu entdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt« (1908) einmal in die Hand genommen hat, wird schnell erkennen, wie bedeutend das Studium antiker Fluchtexte (defixiones) für die Erforschung der neutestamentlichen Sprach- und Denkwelt gewesen ist. Während die Forschung am Corpus defixionum dank neuer Funde, Methoden und Fragestellungen in der Zwischenzeit durchaus weitergegangen ist, hat das Interesse innerhalb der ntl. Forschung jedoch vielerorts nachgelassen. Der vorliegende, auf eine Tagung in Mainz vom 5.–7.4.2018 zurückgehende Band bringt das Thema mit Verve wieder zurück auf die neutestamentliche Agenda und legt eine neue, sehr willkommene Basis für zukünftige fruchtbare interdisziplinäre Forschung.
Nach einer ausführlichen, allgemeinen Einleitung durch die Herausgeber (»Defixiones und das Neue Testament. Definitionen – Realien – Problemfelder«, 1–44) folgen drei Hauptabschnitte mit insgesamt zwanzig deutsch- und englischsprachigen Aufsätzen zu unterschiedlichen Aspekten antiken Fluchwesens. Die ersten fünf Studien stecken den thematischen Raum ab und behandeln »Antike Fluchtafeln und das Neue Testament. Übergreifende Aspekte«. In einem sehr ausführlichen Beitrag betont M. Frenschkowski gleich zu Beginn des Abschnitts die pragmatische Funktion antiker »Fluchkultur« (Bewältigung von Erfahrungen von Machtlosigkeit und Herstellung von Gerechtigkeit) und stellt die große formale Vielfalt ihrer Zeugnisse heraus. Die Übersicht über frühchristliche Rezeption antiker Fluchtafeln und Überlieferungen von mündlicher Fluchpraxis ist besonders hilfreich (»Fluchkultur. Mündliche Flüche, das Corpus defixionum und spätantike Sichtweisen performativer Sprache«; 47–91). Besonders wichtig für den rituellen und räumlichen Kontext antiker Fluchtafeln sind Heiligtümer, wie sie etwa durch archäologische Untersuchungen im römischen Britannien (Bath, Uley) zutage getreten sind, was die konzeptionelle Unterscheidung zwischen angeblich unstrukturierter Fluchpraxis und Orten »offizieller« Religion als fraglich erscheinen lässt. P. Foster diskutiert eine Auswahl von »British Curse Tablets and Their Implications for the Study of the New Testament and Early Christianity« (93–109) und zeigt – trotz inhaltlicher Unterschiede zwischen den Fluchtafeln und dem neutestamentlichen Umgang mit antiker Fluchkultur –, wie stark beiden Welten durch die gemeinsame Erwartung direkten göttlichen Eingreifens zugunsten Benachteiligter und die Verknüpfung von Recht und Religion miteinander verbunden waren. Auch im römischen Mainz wurden 1999 in einem Magna Mater/Isis-Heiligtum Zeugnisse antiker Fluchkultur gefunden. A. Cleverley sieht in »Cursing as Ritual Communication in the Mainz Tablets, and Thinking with the New Testament« antikes Fluchen als vielschichtigen Kommunikationsprozess und untersucht insbesondere den Zusammenhang zwischen den materiellen und literarischen Aspekten in den in Mainz gefundenen defixiones (111–133).
Die stetige Betonung der Materialität religiöser Äußerungen, die uns oft nur durch Texte zugänglich geblieben sind, ist ein besonderes Verdienst des vorliegenden Konferenzbandes. Integrale Zusammenarbeit zwischen text- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen mit materieller Altertumskunde (Archäologie) wird so zu Recht als unersetzliche Prämisse religionshistorischer Forschung herausgestellt. G. B. Bazzana fragt nach der gesellschaftlichen Verankerung ritualisierter Fluchpraxis und sieht hierbei vor allem »freelance experts in the field of religion« am Werk, so wie sie uns auch in der frühen Christus-Bewegung entgegentreten (»Do Not Worry about How You Are to Defend Yourselves. Juridical Curses, Risk in Trials, and Early Christians as Freelance Religious Experts«; 135–153). M. Lau konzentriert sich auf »Gebete um Gerechtigkeit« innerhalb des Corpus defixionum, fragt nach ihrem Sitz im Leben und untersucht ihre Relevanz für das Verständnis neutestamentlicher Passagen wie Jak 1,20, sowie von Themen wie der Suche nach Gerechtigkeit oder dem Umgang mit Zorn (»Brückenschläge. Gebete um Gerechtigkeit und das Neue Testament. Eine Skizze«; 155–192).
Die Beiträge des zweiten Hauptteils nehmen konkreter »Fluch und Schadenzauber im Umfeld des Neuen Testaments: Vom Alten Orient bis in die frühchristliche Zeit« in den Blick. Ziel ist es dabei gerade nicht zu skizzieren, was sich alles um das NT herum so abspielte, sondern zu zeigen, wie sehr und in welcher Hinsicht das Neue Testament und frühe Christentum Teil ein und derselben materiellen und intellektuellen Welt waren.
In »Flüche und Schadenszauber im Alten Orient und im Alten Testament« gibt uns S. Grätz einen knappen, aber sehr erhellenden Überblick über die lange Vorgeschichte, aber auch Aktualität altorientalischer Fluchpraxis für die nachfolgenden Zeiten (195–206). Zeitlich und kulturell »näher« am Neuen Testament ist S. Paganinis Beitrag zu »Fluch (und Segen) in der Qumran-Literatur« (207–219). Die zahlreichen behandelten Texte zeigen, welche oft unterschiedlichen Akzente jüdische Autoren, anders als ihre neutestamentlichen Zeitgenossen, zum Thema »Fluch und Segen« aus der gemeinsamen Basis des Alten Testaments schöpfen konnten. Dabei zeichnen sich in Qumran insbesondere »sektarische« Texte durch das Postulat einer strikten Scheidung zwischen Fluch und Segen innerhalb Israels aus. Anhand einer detaillierten Untersuchung von sieben neu gefundenen oder publizierten defixiones plädiert P. Arzt-Grabner für deren sorgfältige philologische Analyse zur Eruierung ihres sozialhistorischen Hintergrundes und betont die große Freiheit, die Menschen qua Form und Inhalt bei der Anfertigung solcher Texte hatten. Vor starren Kategorisierungen sollte man sich daher in jedem Fall hüten (»Griechisch-römische Fluchtäfelchen als Zeugnisse antiker Magie. Befund und neue Funde«; 221–244). S. Chiarini führt diesen Gedanken weiter und wandelt im »kategorialen Jedermannsland«, das Fluchtexte mit christlichen Sprachelementen bietet. Kann man sie in der Tat als »christlich« bezeichnen? Chiarini ist deutlich: Weder muss die Nennung des Jesusnamens bedeuten, dass der Autor einer solchen defixio Christ war, noch zeichnete sich christliche Fluchpraxis notwendigerweise durch besonders intensiven Gebrauch spezifisch christlicher Sprachelemente aus. Das im Vergleich zu Sprachelementen jüdischer Provenienz (»Iao«) relativ geringe Vorkommen spezifisch christlicher Terminologie scheint jedenfalls nicht zu bedeuten, dass frühe Christen beim Gebrauch von defixiones zurückhaltender waren als andere (»Early Christianity and Cursing Rituals«; 245–274). Wie B. J. Lietaert Peerbolte nämlich im folgenden Aufsatz herausarbeitet, wurde nicht zuletzt Jesus selbst vor allem in den synoptischen Evangelien als Beherrscher von Dämonen propagiert, sodass spätere Generationen den Jesusnamen oder einschlägige Passagen aus der Jesustradition durchaus in Amuletten als Waffen zur Abwehr von Schaden(szauber) einsetzen konnten (»Der Name Jesu als magischer Angriff im frühen Christentum«; 275–295). Dass auf diesem Wege selbst ehrwürdige Gründerväter wie Petrus in gefährliche, weil ein eigenes Profil verwischende, Nähe zu konkurrierenden »Kraftmenschen« wie Simon geraten konnten, zeigen die populären Petrusakten. S. Witetschek sieht daher genauer hin und versucht eine Neukonturierung der beiden agonistischen Helden (»Absturz und Knochenbruch. Mentalitätsgeschichtliches zu den Petrusakten und antikem Schadenszauber«; 297–308).
Der dritte und letzte Hauptteil wendet sich schließlich spezifischen »Fluchtraditionen und Bindeformeln in den Texten des Neuen Testaments« zu und bietet zahlenmäßig die meisten Artikel. B. Heininger vergleicht die Logik des die antike Fluchkultur bestimmenden Gegenseitigkeitsprinzips (»Wenn Du mir im Bad meine Sandalen stiehlst, zahle ich Dir das mit einem Fluch heim«) mit dem lukanischen Prinzip der »Feindesliebe« und des Verzichts auf Restitution gestohlenen Besitzes. (»Die Bitte um Gerechtigkeit und die Kritik der Gegenseitigkeit. ›Feindesliebe‹ [Lk 6,27–35] im Kontext antiker Fluchtafeln«; 311–332). In »Curses, Exorcisms, and Monetary Improprieties. Reassessing ›Magic‹ in the Acts of the Apostles« plädiert J. E. Sanzo dafür, den inzwischen sehr abgeschliffenen Begriff »Magie« durch vorsichtigere Alternativen zu ersetzen, vor allem wenn es um die Interpretation von Figuren in der Apostelgeschichte geht, die durch ihre divergenten Praktiken mit frühchristlichen Autoritäten um den Zugang zu göttlichen Mächten konkurrieren (333–352). Obwohl Act nach S. Schreiber nirgendwo Fluchtafeln direkt erwähnt, gibt es doch genügend Passagen, die deutliche sprachliche und inhaltliche Parallelen dazu aufweisen (z. B. Act 8,9–25; 13; 16,16–21; 19,13–17; 23,12–22). Ihrer Untersuchung widmet sich »Von Zauberprofis und Bindungen. Antike Fluchtafeln und ihre Spiegelungen in der Apostelgeschichte« (353–380). Neben Act bietet freilich auch die paulinische Literatur genügend Anknüpfungspotential für das Studium antiker Fluchtexte. Laut T. Schumacher sind Paulus und seine Adressaten mit antiker Fluchpraxis sehr wohl vertraut, in Röm 12,14–21 plädiert Paulus aber nicht für deren Übernahme oder Überbietung, sondern eine Art Gegenkultur (»counter-cultural behavior«), die Konflikte im Sinne christuskonformer Ethik bearbeitet (»Feurige Kohlen und die Macht der Feindesliebe. Überlegungen zum Fluchmotiv in Röm 12,14–21«; 381–408). J. S. Kloppenborg (»Cursing in the Corinthian Christ Assembly«; 409–424), P. Busch (»Christlich korrekt verfluchen in Korinth. 1Kor 5 und die ›Gebete um Gerechtigkeit‹«; 425–443) und S. Luther (»Neutestamentliche ›Bindeformeln‹? Eine Spurensuche in der paulinischen Korintherbriefkorrespondenz«; 445–464) widmen sich mit unterschiedlicher Zielstellung den beiden paulinischen Korintherbriefen. Kloppenborg versteht 1Kor 5,5 als Hinweis darauf, dass es Paulus bei der »Übergabe« des Missetäters an Satan um die Rettung der Reinheit der Gemeinde geht und nicht um die des Missetäters. Busch stimmt dem zu, fragt aber konkreter nach der spezifischen Handlung, die die Korinther dabei ausführen sollen. Ein Vergleich mit defixiones lege nahe, dass hier ein Ritual zugrunde liegen könnte, das die Wiederherstellung von Gerechtigkeit zum Ziel hat. Kloppenborg und Busch sind sich auch darin einig, dass Paulus bei der Gemeindeversammlung als durch den Geist anwesend gedacht wird. Luthers Artikel ist breiter angelegt und ordnet verschiedene paulinische Stellen in ihren situativen Kontext ein (eigentlich hätte er besser als Einleitung oder Schlussstück vor/nach Kloppenborg, Busch und Huber gepasst). Paulus’ Haltung zum spontanen oder ritualisierten Fluchen zeigt sich als durchaus vielschichtig: weder verurteilt er Fluchen generell, noch plädiert er dafür, Fluchen einfach positiv durch Segnen zu ersetzen. Nach Luther beschreitet Paulus vielmehr einen neuen Weg und fügt »dem christlichen Sprachrepertoire eine weitere Form der effektiven deklarativen Rede (hinzu), eine positive Bindeformel, kyrios Iesous« (461). K. Huber widmet sich dem wohl polemischsten Paulusbrief, dem Galaterbrief. Allein schon wegen der zugespitzten Konfliktsituation mit den Galatern biete sich ein Vergleich mit relevanten Passagen aus dem Corpus defixionum an, der nach Huber auch zahlreiche neue Einsichten in einzelne Textaussagen liefert und damit die Gesamtinterpretation insgesamt fördert (»Verhext – verflucht – am Leib gezeichnet. Aspekte von Magie im Galaterbrief?«; 465–488). Das Binden des Bösen spielt nicht zuletzt auch in Apk 20 eine Rolle. M. Hölscher, »›Und er band ihn für tausend Jahre‹. defixiones und die Charakterisierung des Satans in Offb 20« (489–512) geht in seinem Beitrag nicht nur auf einzelne Textanklänge ein, sondern auch auf die Adressaten und den Autor des Buches sowie die generelle Rolle, die »Magie« für die Entstehung und Entwicklung der Apokalyptik gespielt hat.
Ein »Verzeichnis der Beitragenden und Abstracts der Beiträge« rundet den Band ab (513–518). Durch ausführliche Stellen- (519–544) und Sach- (545–563), sowie altsprachliche Begriffs- (564–568) und Personenregister (569–570) wird der Band hervorragend erschlossen.
Dank der klug durchdachten Auswahl der Beiträge setzt der sorgfältig redigierte Band neue Maßstäbe für die Behandlung des Corpus defixionum. Sicher ist er nicht in allem für Neutestamentlerinnen und Neutestamentler von großer Bedeutung. Grundsätzliche Fragen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder der Ritualität und Materialität von Religion werden darin ebenso behandelt wie zum Teil sehr detaillierte Fragestellungen zu bestimmten Passagen der frühchristlichen Literatur. Jenseits der längst obsoleten Alternative zwischen »Magie« und »Glaube« konturieren die Beiträge wichtige Elemente frühchristlicher religiöser Praxis neu und zeigen, dass die Religiosität der frühen Christusbewegung trotz eigener Akzente stets Teil der Welt(en) blieb, in der sich ihre unterschiedlichen Spielarten entwickelten. Dem Herausgeberteam gebührt Dank, dass es den Leserinnen und Lesern alte und neue Wege durch das Corpus defixionum erschlossen hat, die zur Weiterarbeit über Disziplingrenzen hinaus ermutigen!