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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1058–1060

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kodalle, Klaus-M., u. Martin Ohst [Hrsg.] in Zusammenarb. mit Ch. Danz, C. Dierksmeier u. Ch. Seysen

Titel/Untertitel:

Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. 226 S. 8 = Kritisches Jahrbuch der Philosophie, 4. Kart. DM 48,-. ISBN 3-8260-1849-4.

Rezensent:

Max Josef Suda

Johann Gottlieb Fichte war einer der großen systematischen Philosophen. Als erster Vertreter des später so genannten "Deutschen Idealismus" zog er die Konsequenzen aus Kants Einsichten und brachte die Kantische Transzendentalphilosophie in ein eigenes System. Dieses heißt bei Fichte "Wissenschaftslehre" und bleibt trotz verschiedener Fassungen zwischen 1794 und 1813 in Ansatz und Absicht im wesentlichen dasselbe.

Nun hatte bereits Kants Philosophie neben der grundsätzlichen Kritik alles vorherigen theoretischen und praktischen Denkens auch eine umfangreiche Religionskritik mit eingeschlossen. Auch hierin folgt Fichte seinem Vorbild. Seine Philosophie ist in dem doppelten Sinne religionskritisch, dass sie die religiösen Inhalte dem urteilenden Subjekt Mensch zur Begutachtung vorlegt, dabei aber zugleich die Grenzen des Beurteilenden am außersubjektiven Sein aufzeigt, sodass alles Urteilen stets auch ein Zurückgehen des Urteils in sich darstellt. Ohne Aufnahme von negativer und positiver Religionskritik, die in Fichte eine richtungsweisende Gestalt angenommen hat, können sich Religionen und Konfessionen in der Gegenwart weder bewähren noch weiterentwickeln. Sie müssen eine hilflose Flucht in den Fundamentalismus antreten. - Fichtes Religionskritik, aber auch seine positive Religionsphilosophie ist in der Schrift "Die Anweisung zum seligen Leben" von 1806 enthalten.

Es ist verblüffend zu sehen, dass Fichtes Religionskritik bisweilen von einigen Rezipienten als Atheismus interpretiert wurde. Ein dementsprechender Vorwurf führte zum "Atheismusstreit" von 1798/99 und zu Fichtes Entlassung aus seiner Professur in Jena. Diesen Vorgang beleuchten in der vorliegenden Publikation zwölf Autoren aus historischer, rechtlicher, theologischer und philosophischer Sicht.

Um Fichtes Entlassung rankte sich freilich eine Art Satyrspiel: Nicht seine eigenen Schriften wurden beanstandet; vielmehr richtete sich ein (milder) Verweis des akademischen Senats dagegen, dass Fichte einen angeblich atheistischen Aufsatz von C. F. Forberg 1798 im Philosophischen Journal publiziert hatte, ein Aufsatz, den Dierksmeier (81-100) in den Diskussionszusammenhang einordnet. Fichte wollte den Vorwurf einer Befürwortung des Atheismus nicht auf sich sitzen lassen und reichte ein bedingtes Entlassungsgesuch ein. Dieses nahm man bereitwilligst an: "Und den Professor mit dem unangenehm hohen Selbstbewußtsein war man ... los." (Ohst, 13) Fichte verteidigte sich noch im Jahre 1799 in der Schrift "Appellation an das Publikum"; diese "Einsetzung der Öffentlichkeit als Richter in einer Disziplinarsache ... ist ein Schritt ohne Vorbild." (Landau, 29)

Nun müssen wir freilich die Probleme auch auf Seiten Fichtes, nicht nur auf Seiten seiner Gegner sehen. Wo liegen sie?- Sie sind dort zu suchen, wo die Selbstreflexion des mit Fichte religionskritisch urteilenden Subjekts nicht über das Feld der moralisch-ethischen Praxis hinauskommt: "So läßt sich die Fichtesche These auf die Behauptung zuspitzen, daß das religiöse Bewußtsein im moralischen Bewußtsein enthalten ist ..." (Stolzenberg, 49) - Das gilt zwar für das Fichtesche System zur Zeit des Atheismusstreits, jedoch nur zu dieser Zeit. Die spätere Wissenschaftslehre Fichtes (ca. ab 1804) schließt die Erkenntnis ein, dass die menschliche "Wissensstruktur sich selbst noch als vom Absoluten eingeholt weiß" (Dierken, 134). Fichte hat zwar Zeit seines Lebens Religion wesenhaft auf Seiten der Praxis angesiedelt und als Hingabe an Gott und die Mitmenschen verstanden, zur Zeit des Atheismusstreits jedoch ausschließlich als moralische Religion verstanden. Deshalb konnte er im Streit den Vorwurf des Atheismus sogar auf seine Kontrahenten zurückwenden: "Fichte wirft seinen Gegnern Atheismus vor, weil ihre Religion unmittelbare Darstellung eines falschen, weil ... unmoralischen Verständnisses von Individualität ist." (Wittekind, 73)

Ist mit Fichtes Religionskritik letztlich nicht aber doch ein substantieller und personaler Gottesbegriff und damit der Theismus aufgegeben, wie sein Zeitgenosse F. H. Jacobi beobachtet (U. Barth, 101-123)? Oder sind nicht vielmehr alle Gottesprädikate auf den moralischen Menschen, den Philosophen, ja auf Fichte selber übergegangen, was der eben genannte Jacobi unter dem Titel "Messias der spekulativen Vernunft" karikierend kritisiert und zu Ende denkt? (Jaeschke, 143-157)

Die Fragen um Bedeutung und Bedeutungslosigkeit des Menschen als Gattung sind allerdings bis heute noch nicht zu Ende gedacht. Kehrte Fichte die moralische Autonomie und damit die Freiheit des Menschen in und durch die Religion hervor, so bringt F. W. J. Schelling, auf derselben Kantischen Basis wie Fichte argumentierend, die religionsphilosophische Bedeutung der Kategorie Notwendigkeit in die Debatte ein: "Damit stellt Schellings Gottesgedanke vor die gedanklich schwer zu bewältigende Aufgabe, Freiheit und Notwendigkeit zu vereinigen." (Danz, 163) Neben Schelling werden auch zwei andere Vertreter des Deutschen Idealismus, nämlich F. Schleiermacher (Seysen, 175-190) und G. W. F. Hegel (Vieweg, 191-203) ins philosophische Gespräch mit einbezogen.

Schließlich betrachtet K.-M. Kodalle die Exklusivität der philosophischen Position Fichtes im Lichte seiner persönlichen Unnachgiebigkeit und umgekehrt. Welche Gefahren birgt Fichtes System für das Selbstverständnis und die Religion des Menschen in sich? "Nicht wird die sinnlich-endliche Bedürftigkeit des Menschen geläutert, sondern Bedürftigkeit als solche überwunden." (Kodalle, 213) Der Denker Fichte wird hier angesichts der Schranken jenes Menschseins betrachtet, über die er selbst philosophiert hat.

Die vorliegende Publikation von Kodalle und Ohst bringt nicht nur die seinerzeitige Auseinandersetzung um die Entlassung eines selbstbewussten Philosophen in Erinnerung, sondern bahnt gleichzeitig Zugänge zu Fichtes Denken im Allgemeinen und zu seiner Religionsphilosophie im Besonderen. Darüber hinaus nimmt sie jene Religionskritik, welche die Neuzeit seit ihren Anfängen begleitet, auf höchstem kritischen Niveau ernst und beim Wort, auf dem Niveau Johann Gottlieb Fichtes.