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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1054–1058

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Burdorf, Dieter, u. Reinold Schmücker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1998. 298 S. gr.8. Kart. DM 88,-. ISBN 3-506-77906-0.

Rezensent:

Hermann Fischer

Der anzuzeigende Sammelband stellt in sich ein Ereignis dar, insofern hier Schleiermachers Philosophie in der Breite ihrer Aspekte gewürdigt wird. In der deutschen Fachphilosophie führt Schl.s Werk ein Schattendasein, scheint kaum bekannt zu sein. Die Dialektik und die Philosophische Ethik, in denen Schleiermacher die wissens- und wissenschaftstheoretischen Grundlagen seines Systems entwickelt, werden, von wenigen Spezialforschern abgesehen, kaum diskutiert. Eine Ausnahme bildet die Hermeneutik, obwohl sie in Schl.s Organismus der Wissenschaften von untergeordneter Bedeutung ist. Seit der Wiederbelebung der hermeneutischen Fragestellung in der ersten Hälfte des 20. Jh.s (Heidegger, Gadamer) erfreut sich Schl.s Hermeneutik in Philosophie und Literaturwissenschaft besonderer Aufmerksamkeit. Er gilt inzwischen sogar als "Klassiker der Hermeneutik". Ähnlich verhält es sich mit seiner Bedeutung für die Erziehungslehre, die man aber nicht im strengen Sinne der Philosophie zuordnen kann. Schl. wird das Verdienst zugeschrieben, die wissenschaftliche Pädagogik (neben Herbart) eigentlich erst begründet zu haben. Allerdings hat auch die Pädagogik als "technische Disziplin" im Wissenschaftssystem Schl.s einen untergeordneten Status.

Vor dem Hintergrund dieser eigentümlich selektiven Wahrnehmung mag es überraschen, dass sich ein Kreis überwiegend jüngerer Forscher zusammengefunden hat, um Schl.s Philosophie in ihrer disziplinären Vielfalt zu untersuchen. Der Titel gibt dabei den leitenden Gesichtspunkt ab. "Dialogische Wissenschaft" will sagen, daß Schl. - in Anknüpfung an das von Platon ausgearbeitete methodische Vorgehen einer dialogischen Erkenntnisbemühung - das "dialogische Prinzip, den Streit über die richtige Ansicht einer Sache, als Movens aller wissenschaftlichen Erkenntnis in die Konstitution alles Wissens selbst" einholt (7). Dieser Gedanke wird von den beiden Herausgebern des Bandes in einem einleitenden Essay (Streitgespräche. Schleiermachers Konzept einer dialogischen Wissenschaft) an einigen werkgeschichtlichen Stationen in Umrissen verdeutlicht und in Abgrenzung gegen andere wissenschaftssystematische Ansätze (Kant, Hegel) profiliert.

Dieter Burdorf nimmt diesen Faden in seiner anschließenden Studie "Schleiermachers Schreibweisen" (19-52) auf und bietet am Beispiel einiger ausgewählter Schriften und Entwürfe ein genaueres Bild des Schl. vorschwebenden Konzeptes dialogischer Wissenschaft. Dabei hebt er hervor, dass - noch abgesehen "von Schleiermachers Verdiensten als Philosophiehistoriker, Philologe und Platon-Übersetzer" - seine "systematischen Überlegungen ... auf vielen Gebieten zu den originellsten philosophischen Entwürfen im Übergang vom Idealismus zum Historismus" gehören (22). Des Weiteren weist er darauf hin, dass Schl.s Theorie in hohem Maße "erfahrungsgesättigt ist und auch wieder in die Alltagspraxis hineinzuwirken versucht" (50). Schl.s Philosophie fällt, wie dies auch in anderen Beiträgen betont wird, durch die angestrebte Vermittlung von Spekulation und Empirie aus den Systemkonstruktionen des dt. Idealismus heraus und erweist sich dadurch in besonderer Weise als anschlussfähig an gegenwärtige Diskurse. Burdorf meint sogar, dem fragmentarischen Zustand vieler Werke Schl.s, der in aller Regel bedauert wird und auch das Verständnis erschwert, eine positive Note abgewinnen zu können, da gerade die desolate Überlieferungslage den prozessartigen Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis zu unterstreichen und solchermaßen die philosophische Reflexion zu stimulieren vermag (51).

Fred Lönker zeichnet in seinem Aufsatz "Religiöses Erleben. Zu Schleiermachers zweiter Rede ,Über die Religion'" (53-68) Grundlinien des Schleiermacherschen Religionsverständnisses nach. Der Versuch, sachliche Beziehungen einiger Elemente der Religionstheorie Schl.s zu Hölderlin und Hegel aufzudecken (57 f.), bleibt aber recht allgemein, und ein enger "Zusammenhang zwischen der spinozistischen Metaphysik Schl.s und seiner Theorie des religiösen Bewußtseins" (64) lässt sich nur gegen einschlägige Äußerungen Schl.s ausmachen. Auch der Bogen, den der Vf. am Ende seines Aufsatzes von Schl. zu Musil schlägt (65-68), ist wohl eher durch dessen Musil-Forschungen als durch Besonderheiten des Religionsverständnisses Schl.s veranlasst.

Enno Rudolph setzt in seinem Artikel "Die ,selbstbewußte' Religion. Schleiermachers Antwort auf Kants Religionskritik und ihre Bedeutung für die Gegenwart" (69-79) mit Defiziten der gegenwärtigen Schleiermacherrezeption ein, die in der Theologie auf Karl Barth, in der Philosophie auf Hans-Georg Gadamer, vor allem auf dessen Deutung der Hermeneutik Schl.s, zurückgehen. Im Mittelteil des Aufsatzes wird "Schleiermachers Antwort auf Kant" (72-77) mehr als Anknüpfung denn als Gegensatz zu Kants Religionsverständnis gedeutet. Bei Kant entspreche, so der Autor, "der methodischen Nachordnung der Religion gegenüber der Moral eine sachliche Vorordnung" (73); und das sich darin aussprechende "Programm einer Versöhnung von Vernunft und (christlicher) Religion" werde von Schl. kritisch fortgeschrieben (75). Im Schlussteil ruft der Vf. die positive Bezugnahme Ernst Cassirers auf Schl.s "Reden" in Erinnerung (77-79), um deren Gegenwartsbedeutung zu veranschaulichen.

Außerordentlich kenntnisreich weiß Lutz Danneberg in seinem Beitrag "Schleiermachers Hermeneutik im historischen Kontext - mit einem Blick auf ihre Rezeption" (81-105) Schl.s Leistung in die bisherige Geschichte dieser Disziplin einzuordnen. Unter solchem Vorzeichen erörtert er besonders Probleme, die sich aus der Spannung zwischen allgemeiner Hermeneutik und ihrer Anwendung auf das Neue Testament ergeben (102-105). Wolfgang H. Pleger untersucht Schl.s Hermeneutik im Verhältnis zur Dialektik (125-136), während Ursula Frost das Verhältnis von Pädagogik und Hermeneutik erörtert (229-240). Diese Studien bekunden auf ihre Weise die weiterwirkende Vorzugsstellung der Hermeneutik Schl.s in der philosophischen Rezeption. Dabei bleibt allerdings hier und auch in anderen Problemzusammenhängen bewusst, dass - entgegen manchen neueren Bestreitungen (Eilert Herms) - die Dialektik für Schl. die philosophische Grunddisziplin darstellt (131, 159, 178).

Der Dialektik sind die Ausführungen von Harald Schnur über "Die Rationalität der Wissensbildung. Schleiermachers Dialektik als Verfahren der Moderation" gewidmet (137-146). Gegenüber der These von Andreas Arndt, Schl.s Dialektik zeichne sich trotz des ständigen Verweisens auf die Empirie durch "inhaltliche Entleerung" aus (vgl. 141), deutet Schnur diese "Entleerung" positiv, sofern sich darin zugleich eine Nähe zur Sache bekundet. "Die Modernität der Schleiermacherschen Dialektik liegt ... in dieser ,Inhaltsleere' und gleichzeitigen Nähe zur Sache, mit anderen Worten: in der Ausprägung ihres Verfahrenscharakters" (142). Worin allerdings der Erkenntnisfortschritt einer Beschreibung dieses Verfahrens als "Moderation" bestehen soll, ist nicht recht zu sehen.

Schl.s Psychologie, in der bisherigen Forschung eher vernachlässigt, wird in den letzten Jahren erneut diskutiert. Neben einzelwissenschaftlichen Einsichten geht es dabei besonders um den wissenschaftssystematischen Status dieser Disziplin, den Schl. in einer eigentümlichen Schwebe gelassen hat. Während E. Herms die Psychologie als Fundament der Systemkonzeption Schl.s gedeutet und sie der Dialektik übergeordnet hat, setzt Andreas Arndt in seinem Aufsatz ",Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip.' Friedrich Schleiermachers Psychologie" (147-161) umgekehrt an und sieht in Schl.s Psychologie mit guten Gründen "das von der Empirie ausgehende Komplement zur Dialektik" (159). Gegenüber seiner Folgerung, damit erweitere sich die durch Dialektik, Ethik und Physik konstituierte Dreigliedrigkeit des Wissenchaftsorganismus zu einer Viergliedrigkeit, wird man allerdings skeptisch bleiben müssen, da Schl. diese Konsequenz in seinen Texten nirgends zieht.

"Praktische Vernunft und Individualität. Schleiermachers Ethik als Theorie konventioneller Moralität" (163-185) ist der Titel des interessanten Artikels von Tobias Berben. Er interpretiert Schl.s philosophische Ethik als Umdeutung des Moralverständnisses Kants "zu einer Form konventioneller Moralität ..., bei der Gesetz und Sitte sich insofern als versöhnt erweisen, als die immer schon praktizierte Gesetzmäßigkeit moralischen Handelns in den Haltungen der Individuen auf ein höchstes Gut ausgerichtet erscheint, das selbst die ideale Form dieser Gesetzmäßigkeit symbolisiert" (177). Dabei hebt er hervor, dass Schl. sich der "prinzipiell falliblen Grundlagen" seiner Konzeption von Dialektik und Ethik bewusst gewesen sei, ohne doch einem wissenschaftlichen Relativismus zu verfallen (179). "Die Wirklichkeit des höchsten Gutes kann vom Erkenntnisstandpunkt endlicher Individuen aus zwar theoretisch plausibel gemacht, aber nicht letztgültig bewiesen werden" (182).

Stefan Jordan arbeitet in seiner Untersuchung "Schleiermachers Geschichtsbegriff und seine Bedeutung für die Geschichtswissenschaft" (187-205) die spezifisch modernen Züge der geschichtsmethodologischen Einsichten Schl.s am Beispiel vor allem des selten erörterten Jugendmanuskripts "Über den Geschichtsunterricht", aber auch der "Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" und der philosophischen Ethik heraus. Historische Erkenntnis ist für Schl. im Unterschied zu Hegel stets subjektive Erkenntnis (192), "subjektive Konstruktion eines (relativen) organischen Ganzen" (200). Er bleibt damit seinem Programm einer Vermittlung von Spekulation und Empirie treu; apriorisches und aposteriorisches Wissen müssen sich durchdringen. Mit der empirischen Verortung geschichtlicher Erkenntnis leistet Schl. einen Beitrag zur modernen Geschichtsmethodologie, ohne dem Relativismus zu verfallen (202).

Die Pädagogik Schl.s ist Gegenstand der beiden Beiträge von Michael Winkler (207-227) und Ursula Frost (229-240). Winkler interpretiert Schl.s Erziehungslehre als Versuch einer Antwort auf die grundlegende Aporie der Pädagogik, die auf das Subjekt wirken und doch gleichzeitig die Freiheit des Subjekts wahren will. Daher erklärt sich die Unschärfe in Schl.s Bildungsbegriff (212, 225), die auch U. Frost hervorhebt (238). Schnörkellos erklärt Schl.: Dem "Leben selbst haben wir dann zu überlassen, was in jedem Augenblick getan werden solle" (vgl. 238). Schl. weiß um die Ambivalenzen, unter denen sich Bildung vollzieht. Deshalb lässt sie sich nur als "bestimmtes Unbestimmtes" begreifen (222). Gegen die Utopie von einem "starken Subjekt", das sich, wie etwa bei Hegel oder Marx, selbst zu konstituieren vermag (226 f.), liegt dem Entwurf Schl.s die Theorie einer "schwachen Subjektivität" zugrunde, "die auf die Naturgegebenheiten und sozialen Bedingungen, die sie vorfindet, antwortet, sich auf sie einläßt, um die in ihr selbst liegenden Möglichkeiten zu erkunden ... Die Identität eines so sich konstituierenden Subjekts ist notwendig labil, weil es sich immer wieder selbst destabilisieren muß. Aber das sind die Bedingungen, unter denen Bildung in der Moderne gedacht werden muß" (227). Winklers anregende Studie, die sich in wesentlichen Einsichten mit der von U. Frost berührt, verfehlt allerdings darin die Pointe Schl.s, dass sie das "Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit", das sich auf das Unbedingte bezieht, auf natur- und gesellschaftsbedingte Phänomene ausgerichtet sein lässt (224). Gerade das trifft nicht zu, hier waltet vielmehr die Dialektik von relativem Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl.

Reinold Schmücker, der andere Herausgeber des Bandes, beschließt die Sammlung mit einer eindrücklichen und gelehrten Abhandlung über "Schleiermachers Grundlegung der Kunstphilosophie" (241-265). Dabei kommt die - auch abgelegene - Literatur des 19. Jh.s ausführlich zu Wort. Schmücker zufolge richtet sich Schl.s ästhetischer Entwurf, der die künstlerische Produktivität in den Mittelpunkt rückt, sowohl gegen Kants Theorie des ästhetischen Urteils als auch gegen Hegels um den Begriff des Schönen zentrierte Ästhetik und vor allem gegen die spekulative Kunstphilosophie Schellings. Die Vorzüge der Produktionsästhetik Schl.s werden lucide entfaltet (255-259). Allerdings merkt der Vf. kritisch an, dass die Konzentration auf die künstlerische Subjektivität Schl. daran gehindert hat, zu einer "plausiblen Kunstontologie" vorzudringen -, dies mit der Folge, dass "dieser modernste kunstphilosophische Entwurf, den der deutsche Idealismus hervorgebracht hat, bis heute nicht die Beachtung gefunden hat, die er verdient" (263). - Eine detaillierte Übersicht über "Wichtige Schriften und Vorlesungen Schleiermachers in chronologischer Folge" beschließt das Sammelwerk (267-289). Schade, dass man auf ein ebenfalls hilfreiches Personenverzeichnis verzichtet hat.

Der vorliegende Band ist vorzüglich geeignet, in die Philosophie Schl.s einzuführen und mit den prinzipientheoretischen Einsichten und Urteilen Schl.s vertraut zu machen. Das gilt selbst dann, wenn man den Aufstellungen im einzelnen nicht zu folgen vermag, auch darüber verwundert ist, dass manche Autoren veraltete Ausgaben verwenden.

M. Winkler bezieht sich für die philosophische Ethik neben der kritischen Edition von Otto Braun auf die alte Ausgabe im Rahmen der "Sämmtlichen Werke" (= SW) von Alexander Schweizer (SW III/5), nicht auf die wesentlich zuverlässigere von August Twesten von 1841. U. Frost benutzt für die Hermeneutik ebenfalls die alte Ausgabe (SW I/7) in einem Wiederabdruck, der zudem nur eine Auswahl bietet, nicht hingegen die kritische Edition von Heinz Kimmerle. Aber das fällt nicht ernsthaft ins Gewicht angesichts einer in Materialdarbietung und Diskussion gelungenen Orientierung über eine philosophische Konzeption, deren Reichtum immer noch nicht ausgeschöpft ist.