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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1052–1054

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dorhs, Michael

Titel/Untertitel:

Über den Tod hinaus. Grundzüge einer Individualeschatologie in der Theologie Rudolf Bultmanns.

Verlag:

Frankfurt/M.: Lang 1999. 397 S. 8 = Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII, 665. Kart. DM 98-. ISBN 3-631-34383-3.

Rezensent:

Matthias Heesch

Um Rudolf Bultmann, den einst ebenso repräsentativen wie umstrittenen Theologen des seinerzeitigen Gegenwartsprotestantismus, ist es still geworden. Gleichwohl wirkt sein Denken, und zwar gerade in systematisch-theologischer Hinsicht, weiter. Denn Bultmann ist neben Tillich derjenige theologische Autor, der am stärksten auf existentialistische Kategorien zurückgegriffen hat. Auf diese Weise hat Bultmann zu einer Synthese zwischen evangelischer Theologie auf der einen und dem Existentialismus als der über Jahrzehnte hin dominierenden Form philosophischen Denkens auf der anderen Seite einen wesentlichen Beitrag geliefert. Bultmann will den Sachgehalt des christlichen Offenbarungszeugnisses dadurch zur Geltung bringen, dass er eine Strukturanalyse der menschlichen Existenz als theonom verfasster vornimmt. Er geht davon aus, die wesentlichen Intentionen des Neuen Testaments herauszuarbeiten, so wie sie sich bei Paulus mittelbar, in den von Bultmann für echt gehaltenen Grundbeständen des vierten Evangeliums aber weitgehend direkt und unmittelbar manifestieren. Sowohl mit Blick auf Bultmann selbst wie auch auf seinen philosophischen Gewährsmann Heidegger wird dabei aber nun deutlich, dass die Frage der Bezogenheit von Existenz auf das Lebensende eine wesentliche Implikation eines solchen Existenzverständnisses darstellt. Die Thematik der Individualeschatologie ist so gesehen an Bultmann keineswegs herangetragen, sondern stellt sich als ein unverzichtbarer Beitrag zum Verständnis seiner Theologie dar, dem wegen B.s Bedeutung über die Fachwissenschaft hinaus auch allgemeines Interesse zukommen dürfte.

In der hier zu besprechenden Arbeit von M. Dorhs wird die skizzierte Aufgabe einer Interpretation von Bultmanns Eschatologie nun angegangen. Dabei kommt D. freilich zu methodischen Grundentscheidungen, die sich angesichts der Relevanz des Themas im Gesamten von Bultmanns Theologie zwar durchaus nahelegen, die gleichwohl problematische Aspekte haben: D. benutzt eine Reihe von, überwiegend bisher unpublizierten Traueransprachen Bultmanns, zu denen sich einige private Kondolenzschreiben gesellen, als hermeneutische Wegweiser, die die Richtung der Interpretation wissenschaftlicher Texte Bultmanns vorgeben (42-53, insb. 45 f., 55-78). Er analysiert ferner Kondolenzschreiben Bultmanns an verschiedene Adressaten (79-88) und greift sogar auf den, auf Anordnungen Bultmanns zurückgehenden, schlicht gehaltenen liturgischen Rahmen von dessen Begräbnis in Marburg zurück (86-88). Diesen Texten, deren z. T. nicht ausreichende theologische Signifikanz D. wohl erkennt (80), wird entnommen, dass das christliche Leben sich in einer Dialektik von Gegenwart und Zukunft entfaltet, die die theologische Frage nach der Ewigkeit sinnvoll erscheinen lässt (113 u. ö.). Die Explikation dieses Gedankens geschieht dann in einem interpretierenden Durchgang durch Bultmanns systematisch-theologische, vor allem aber auch exegetische Schriften. Dabei steht im Mittelpunkt die Frage, wie sich angesichts der Entmythologisierung, also der Umsetzung der an das alte Weltbild der neutestamentlichen Autoren gebundenen Aussagen in die Kategorien des Existenzverstehens unter den Bedingungen der geschichtlich denkenden Moderne, die neutestamentliche Eschatologie deuten lässt. D. stellt nun fest, dass Bultmann sich an bestimmten johanneischen Stellen (Joh 12,25 f.32; 13,36 f.; 14,1-4; 14,23; 17,24-26; hierzu 237-261) zwar auch auf Grund seiner systematischen Vorentscheidungen, vor allem aber angesichts des keiner kirchlichen Redaktion zuzuweisenden Textbefundes veranlasst sieht, eine Individualeschatologie anzunehmen, die aus exegetischen und systematischen Gründen in die Theologie des Existenzverständnisses übernommen werden muss. Mit anderen Worten: Die Individualeschatologie ist der Theologie von ihren biblischen Quellen her vorgegeben und zwar auch, wenn man das Programm der Entmythologisierung konsequent handhabt (261-266).

Dabei muss nun aber jeder naiv-objektivierende Beiklang, wie er insbesondere durch die etwa bei Paulus begegnenden apokalyptischen Motive nahezuliegen scheint (19 f. u. ö.), ausgeschlossen bleiben. Es bleibt also dabei, Individualeschatologie zu verstehen als Implikation eines theonomen Existenzverständnisses, nicht aber als verdinglichte Lehre vom Endgeschehen. Aus der Gottesbeziehung, die D. bei Bultmann in den Kategorien der Rechtfertigungslehre dargestellt sieht, folgt aber nun die Hoffnung auf Vollendung (184-309). Diese bleibt trotz des Objektivierungsverbots gleichwohl konstitutive Implikation des christlichen Existenzverständnisses. Dabei stellt sich die erkenntnistheoretische Frage nach der angemessenen Sprache. D. stellt fest, dass Bultmann zwar in Ansätzen Konzepte eines die Existenz selbstreflexiv darstellenden (351-354) bzw. "analogischen" (344-351) Redens bietet, dass diese aber mit wesentlichen Unklarheiten behaftet sind (346, 354 u. ö.). Die aufgewiesenen Mängel kritisiert D. unter Rückgriff auf elaboriertere Theorien einer ihren Gegenstand indirekt intendierenden Sprache, etwa bei P. Ricur (353 f. u. ö.).

Wie ist der hier vorgelegte Interpretationsversuch nun zu beurteilen? Zunächst ist auf die subtilen, aber dennoch eine überzeugende Gesamtsystematik erreichenden, Einzelinterpretationen hinzuweisen, insbesondere zu Bultmanns Verständnis des paulinischen und johanneischen Schrifttums. Ein großes Problem ist aber das Ansetzen bei Kasualansprachen und erst recht bei Kondolenzschreiben. Dergleichen Texte können, schon qua Genus, ihrerseits den Weg zur wissenschaftlichen Interpretation wissenschaftlicher Texte, um die es sich bei Bultmanns Hauptwerken ja handelt, nicht weisen. Tatsächlich ist es ja auch so, dass das wesentliche Ergebnis von D.s Interpretation- die Unverzichtbarkeit individualeschatologischer Implikationen im Rahmen einer theonomen Existenzauslegung - aus der soliden Bearbeitung von Bultmanns wissenschaftlichem Werk folgt. Doch um diese Einsicht zu gewinnen, muss man mindestens bis S. 89 kommen, wo D. mit der Analyse von Bultmanns Predigten (im Unterschied zu den Kasualansprachen) beginnt, besser aber bis S. 159, wo der Nachweis der Verankerung von Bultmanns Individualeschatologie in dessen Theologie des NT dann endlich anfängt. Richtig wäre es demgegenüber gewesen, Bultmann als einen wissenschaftlichen Theologen aus seinem wissenschaftlichen Werk zu verstehen und anschließend zu fragen, ob sich die entsprechenden Interpretationsergebnisse auch in homiletischen Texten wiederfinden. Dass sich - naturgemäß - in Traueransprachen eine gewisse Dichte individualeschatologischer Motive findet, kann nicht, wie D. das versucht (50 u. ö.), als Begründung für eine hermeneutische Vorrangstellung derartiger Texte für die Gesamtwürdigung der individualeschatologischen Überzeugungen eines wissenschaftlichen Theologen herangezogen werden.

So bleibt also der Hinweis auf ein in weiten Teilen lesenswertes Buch, das einerseits Bultmann als einen der bedeutendsten Theologen unseres Jahrhunderts in z. T. sehr guten Interpretationen würdigt. Andererseits aber bringt eine verfehlte Gliederung erhebliche Schwächen im argumentativen Gesamtduktus mit sich. Das ist umso mehr zu bedauern, als den Interpretationsergebnissen, die D. vorlegt, zuzustimmen ist. So soll am Ende der Vorschlag stehen, bestimmte Passagen aus D.s Werk erst nach Kenntnisnahme der Auseinandersetzung D.s mit der wissenschaftlichen Theologie Bultmanns zu lesen. Das wird dadurch erleichtert, dass die entsprechenden Ausführungen (insbesondere 159-266) aus sich heraus gut zu verstehen sind. Man sollte dieses Buch vielleicht nicht so lesen, wie es geschrieben wurde. Aber lesen sollte man es doch.