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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1050–1052

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Benz, Hubert

Titel/Untertitel:

Individualität und Subjektivität. Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forschung und das Selbstverständnis des Nikolaus von Kues.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1999. XX, 470 S. gr. 8 = Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, 13. Kart. DM 88,-. ISBN 3-402-03164-7.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Der Vf. hat sich mit seiner Habilitationsschrift, die im Februar 1997 an der Universität Trier angenommen wurde, eine große Aufgabe gestellt. Er will einmal die Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forschung darstellen, was schon ein Thema für sich gewesen wäre, dann aber zusätzlich - und das macht den Hauptteil der Arbeit aus - das philosophische Selbstverständnis von Nikolaus von Kues (=NvK) darlegen (99-414).

Im 1. Teil geht er von der Behauptung aus, der "Denkart des Renaissance-Philosophen Nikolaus von Kues [komme] deshalb eine sie auszeichnende ,Modernität' zu, weil in ihr der Wert individuellen geistigen Subjektvollzugs erstmalig in der Philosophiegeschichte in herausragender Weise gewürdigt worden" sei. Von der ",epochalen Wertauszeichnung' der Individualität" wurde gesprochen und dass die Kategorie der Individualität ein charakteristischer Ausdruck seines Philosophierens sei; doch der Vf. ist davon überzeugt, dass "das neuzeitlichem Selbstverständnis entspringende Postulat eines autonomen Sich-Konstituierens der Individualität" seinem Denkansatz fremd war. (1, 3f.). Er stellt aber auch fest, dass über wesentliche Grundfragen seiner Ontologie und Gnoseologie unter den Cusanus-Forschern keine Einigkeit herrsche, es habe sich jedoch die Tendenz durchgesetzt, bei ihm "den am Beginn der Neuzeit stehenden, den autonomen Geist-Begriff im modernen Verständnis vorbereitenden Denker der Individualität und Subjektivität zu sehen". Der Vf. will darlegen, dass ein so einseitig pointierendes Auslegungsverfahren problematisch sei (19 f.). So geht er im 1.Teil, wie gesagt, den Interpretationstendenzen nach - und zwar bei Cassirer, Stadelmann, Heimsoeth, J. Ritter, de Gandillac, Seidlmayer, Apel, W. Schulz, Jasper, Jakobi, Rombach, Dangelmayr und Fräntzki. Es zeigt sich also, dass er nur die ältere, weithin nun wirklich überholte Cusanus-Forschung daraufhin untersucht, denn all die Genannten haben sich vor 1970 geäußert.

Im 2. Teil betont er - mit der neueren, aber nicht eigens dargestellten Cusanus-Forschung -, dass "eine Interpretation, die Cusanus vom Standpunkt der Neuzeit her beurteilt, ... in eine Sackgasse'" führt (Gawlick, Herold, 99). Mit Recht wird deutlich, dass man NvK von seiner Zeit - und d. h. eben vom spätmittelalterlichen Denken her - erst einmal zu verstehen bemüht sein und damit seine Autoritäten, auf die er sich ja vornehmlich beruft (Plato, Neuplatonismus), im Blick haben muss. NvK sieht "das individuell-unvollkommene, differente Bild-Sein hinsichtlich seines ursprunghaften Seins und seiner möglichen Vervollkommnung gänzlich auf seine urbildliche Wahrheit hingeordnet, und das so sehr, dass das Individuum als ein auf kontingente Weise ,bloßes Widerstrahlen' ... des göttlichen Lichts definiert werden kann ..." (121). Für das dargestellte Problem wichtig ist, dass NvK begrifflich differenziert zwischen einer absoluten und kontrakten Seinsweise und dass die Koinzidenz beider in der "gottgleichen Person des Sohnes" einzig und allein gegeben ist (188). Das wirkt sich so aus, wie C. Schönborn es ausdrückt: "Weil Christus die vollkommene Gestalt des Von-Gott-her-Seins ist, ist er die vollkommene Gestalt endlichen Seins" (",De docta ignorantia' als christologischer Entwurf"; in: K. Jakobi [Hrsg.]: Nikolaus von Kues. Einführung in sein philosophisches Denken, 1979, 153; der Nachweis des Zitats ist beim Vf. auf 228, Anm. 242, mühsam zu suchen).

In seiner Offenbarung kommt Gott in "mitleidvoller Rücksicht auf die Schwäche unserer eingeschränkten Erkenntniskraft" dem Menschen entgegen, wenn er sich sowohl in der Natur als auch in der menschlichen Person Jesu zu erkennen gibt (nach De docta ignorantia III, n. 211; 240). Der Mensch hat seine höchste Erkenntniserfahrung in der filiatio Dei; der menschliche Geist kann "mitnichten in einem voraussetzungslosen mystischen Sprung ... die für den menschlichen Geist schlechthin unbegreifliche göttliche Wahrheit" erreichen (246).

Auf die Frage nach Ansätzen zu einer Subjektivitätsphilosophie im Denken des NvK weist der Vf. hin auf das "Erkennen als ,assimilatio' durch geistigliebendes Einswerden mit Erkanntem" (317 ff.). "Die ,mens humana' steht als ,prima et simplicissima imago sive similitudo dei' zwischen Gott als ihrem Urbild und den ,Dingen' als den von der göttlichen ,complicatio omnium' hervorgebrachten ,explicationes'" (323). Der Vf. kommt zu dem Schluss, dass "subjektivitätsphilosophisch geprägte Cusanus-Auslegungen ... nicht nur gegen den Grundzug assimilativen Erkennens" verstoßen, sondern "sie behaupten vielfach vor allem auch eine in sich isolierte, unendliche Kreativität und eine damit einhergehende Entsubstantialisierung des Geistes sowie eine umfassende ,Bindung Gottes an die menschliche Subjektivität'" (345 f.). Wichtig ist dem Vf. die "durchgängige Abhängigkeit des Menschen von seinem Schöpfer als eine für Cusanus' Denkweise grundlegende Intention" (374). Dies hat der Vf. zu Recht herausgestellt. Darum: "Der Mensch mitsamt seinen Erkenntnis- und Leistungsfähigkeiten ist ... letztlich ein lebendiger Ausdruck der Einheit und sozusagen eine Antwort auf die zahl- und maßhafte göttliche Schöpfung in ,proportio' und ,harmonia'" (407).

So sieht der Vf. als Ergebnis seiner Untersuchung, dass "in Cusanus' Denken die Abkünftigkeit alles Seins und Erkennens vom personalen Einen, die strenge Hinordnung von Mensch und Welt auf Jesus Christus ... sowie auf das allbegründende und- bestimmende Absolute durchgängig von prinzipientheoretischer Relevanz ist". Der Wert der jeweiligen Individualität misst sich deshalb am Grad der Teilhabe am Individualitätsgrund. Wenn aber einseitig die Subjektivitätskategorie als vermeintlicher Schlüssel zum Verständnis cusanischen Denkens herangezogen wird, so wird - nach Ansicht des Vf.s, womit er sicher recht hat- eine mögliche Einsicht in das für seine Geisttheorie Entscheidende gerade verstellt. Es geht ihm nicht darum, menschliche "Individualität und Subjektivität in ihrer (quasi unendlichen) Endlichkeit" darzustellen, "sondern um ein stets zu vertiefendes Innewerden der Zentriertheit alles Seins, aller Erkennbarkeit und Erkenntnisfähigkeit in Gott" (411, 413f.).

Einige Einzelheiten: Die an sich schon schwere Lesbarkeit des Buches wird noch dadurch verstärkt, dass der Vf. etwa 70 % seines Textes in die Anmerkungen gesetzt hat. Stichproben ergeben, dass Zitate nicht immer eindeutig nachgewiesen sind. So muss der Leser fast kriminalistisch suchen. Den Ausdruck "deus est singularissimus" kann man auf S. 8, Anm. 21 nicht finden; er steht in De ven.sap., cap. XII, n. 65, Z. 17 f. Den Nachweis für den Ausdruck "esse hoc vel illud" (205) hat der Rez. gar nicht gefunden; er steht De doct.ign. III, n. 195. Die für das Verständnis des Denkens von NvK so wichtigen Predigten finden erst relativ spät in der Untersuchung Berücksichtigung.

Mit seiner Monographie hat der Vf. eine Arbeit vorgelegt, die für die Einordnung des cusanischen Denkens sehr wichtige Aspekte hervorhebt. Sein philosophisches Denken ist ohne sein theologisches Denken nicht zu verstehen.