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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1044–1046

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Reeken, Dietmar von

Titel/Untertitel:

Kirchen im Umbruch zur Moderne. Milieubildungsprozesse im nordwestdeutschen Protestantismus 1849-1914.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1999. 456 S. gr.8 = Religiöse Kulturen der Moderne, 9. Geb. DM 98,-. ISBN 3-579-02608-9.

Rezensent:

Hans Otte

Seit einiger Zeit gilt die Religion in der Sozialgeschichte nicht mehr als quantité négligeable bei der Beschreibung der Dynamik der deutschen Gesellschaft im 19. und 20. Jh. Dennoch bleibt strittig, welche Bedeutung dabei dem Protestantismus zukommt, da er anscheinend kein klar umgrenztes Milieu mit einer solchen Bindekraft entwickeln konnte, wie es das festgefügte katholische Milieu und negativ das sozialistische Milieu waren. Erst seit kurzem, vor allem seit der Rezeption mentalitätsgeschichtlicher Fragestellungen, wird die These kritisiert, dass der Protestantismus keine langfristige Prägekraft entwickelt habe; schließlich konnte die evangelische Kirche ihren Mitgliederbestand und ihre Einrichtungen fast unbeschädigt erhalten, als 1918 das landesherrliche Kirchenregiment zusammenbrach und dann im nationalsozialistischen Deutschland weite Teile der evangelischen Kirche durch die Nähe zum Nationalsozialismus desavouiert wurden. Die vorliegende Arbeit, eine Oldenburger geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift, fragt nach den Gründen für diese Stabilität, die offensichtlich schon früher, in der Zeit der allmählichen Industrialisierung und Modernisierung, ausgebildet wurde. Zur Erklärung nutzt sie das Konzept der sozialmoralischen Milieus, wie es von Rainer M. Lepsius entwickelt und dann in der Wahlforschung verfeinert wurde. Dazu operationalisiert der Vf. vier für sozialmoralische Milieus konstitutive Elemente: ein gemeinsames Norm- und Wertesystem, gemeinsame Milieuorganisationen, gemeinsame Sozialisationsformen und die Abgrenzung gegen andere Milieus. Mit ihrer Hilfe beschreibt er das protestantische Milieu in der Hansestadt Bremen, im (ehemaligen) Königreich Hannover und im Großherzogtum Oldenburg. Durch ihre jeweilige Tradition und ihre ganz verschiedene politische Einbindung unterschieden sich die jeweiligen Landeskirchen, folglich vollzog sich auch die Modernisierung des Protestantismus und die Formierung des jeweiligen Milieus in unterschiedlichen Schritten.

Die Arbeit hat zwei Hauptteile, im ersten wird die innere Formierung des Milieus beschrieben, im zweiten geht es um die äußere Segregierung, also um die Abgrenzung gegenüber dem Staat und konkurrierenden Milieus sowie um die Ausstrahlung in die umgebende Gesellschaft, für die der Sozialprotestantismus mit seinen Einrichtungen charakteristisch wurde. Der erste Hauptteil sei etwas ausführlicher vorgestellt: Zunächst fragt der Vf. nach der Bedeutung der kirchlichen Organisation für die protestantische Milieubildung; er skizziert die allmähliche Ablösung der kirchlichen von den staatlichen Institutionen und beschreibt die Versuche, aus den traditionellen Parochien wirkliche Gemeinden und Gemeinschaften zu machen. Dabei waren die Landeskirchen (und in abgeleiteter Form die Kirchengemeinden) wohl die Kristallisationskerne des protestantischen Milieus, streckenweise formierte sich das jeweilige Milieu aber auch ohne und gegen die kirchlichen Institutionen. In diesem Zusammenhang schildert der Vf. die Entwicklung des Verbandsprotestantismus und versucht, dessen gesellschaftliche Reichweite einzuschätzen. So wurden in Bremen viel früher als in Oldenburg oder Hannover zahlreiche kirchliche Vereine und Verbände gegründet, da eine verbindliche landeskirchliche Organisation nicht zu Stande kam, weil sich in der Hansestadt Liberale und Orthodoxe innerkirchlich blockierten und der Senat auf seine Kirchenhoheit nicht verzichten wollte. Der traditionelle Indepentismus der Bremer Gemeinden wirkte insofern modernisierend. Dagegen blieben die in Hannover tonangebenden Konfessionellen zunächst skeptisch, engagierten sich aber nach 1880 besonders eifrig, weil die traditionellen Kirchengemeinden kaum die Basis für die Verbreitung eines intensiveren Christentums waren.

Im folgenden Abschnitt untersucht der Vf. die soziale Zusammensetzung der Milieus: Er beschreibt zunächst die Pfarrer als Milieumanager, stellt dann die (anderen) sozialen Trägergruppen des Milieus vor - hier analysiert er die soziale Zusammensetzung der Synoden und kirchlichen Vereine, soweit die sehr unterschiedliche Überlieferung dazu Aussagen zulässt - und behandelt abschließend die Geschlechterfrage, also das Frauenbild der Trägergruppen und der rasante Aufstieg der Frauenarbeit. Das bürgerliche Frauenbild blieb prägend, dennoch eroberten Frauen im Sozialprotestantismus eigenständige Handlungsspielräume und erhielten in einigen bremischen Kirchengemeinden sogar das Wahlrecht.

Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit dem Norm- und Wertsystem; hier analysiert der Vf. den Gegensatz zwischen den kirchlich Liberalen und den Orthodoxen. In Bremen prallten auf engem Raum die Gegensätze scharf aufeinander, dennoch nahm zum Ende des Untersuchungszeitraums die gegenseitige Toleranz zu: Das Aufkommen der Monisten und der Freidenkerbewegung führte zur Auflockerung der innerkirchlichen Gegensätze. Das gilt auch für Hannover und Oldenburg, wo der Gegensatz allerdings nie so tiefgreifend war. Ein ähnliches Bild ergibt sich aus dem folgenden Abschnitt, der sich mit den Sozialisations- und Proliferationsformen beschäftigt, mit dem Streit um die christliche Schule, mit der Kinder- und Jugendarbeit sowie mit der christlichen Prägung ("Ritualisierung") des Alltags und der Lebenszyklen. Hier kann der Vf. zwischen den Protestanten der drei Kirchengebiete grundsätzliche Gemeinsamkeiten konstatieren: Wo kirchliche Angebote im jahreszeitlichen Zyklus (Weihnachten, Sylvester) und bei biographischen Einschnitten (Konfirmation, Beerdigung) verankert waren, wurden sie in hohem Maße angenommen, weit über die Gruppe der entschiedenen Protestanten hinaus. Leider verzichtet der Vf. hier auf eine Diskussion der Grenzen des protestantischen Milieus - gehört jeder, der Kirchensteuern zahlt und die Kasualien akzeptiert, schon zum protestantischen Milieu?

Insgesamt bietet die Studie erstmals eine sozialgeschichtliche Beschreibung des nordwestdeutschen Protestantismus mit klar definierten Kategorien.

Die Orientierung am Milieu, das zunächst kleinräumig definiert ist, hat allerdings zur Folge, dass die Arbeit dort, wo sie kleinräumige Verhältnisse (Bremen, Oldenburg) beschreibt, am dichtesten ist. Dennoch ist die Arbeit auch für die großräumige Betrachtung ertragreich: Über das Verhältnis des kirchlichen zum gesellschaftlichen Wandel im Zeitalter der Industrialisierung liegt eine Unmenge von Daten vor; für den nordwestdeutschen Protestantismus werden hier erstmals Schneisen durch das Dickicht dieser Daten und Interpretationen geschlagen. Dafür ist die Wahl der regionalen Ebene und die Unterscheidung zwischen dem bremischen, dem oldenburgischen und dem hannoverschen Kirchengebiet ausgesprochen sinnvoll, auch wenn sich der Rez. wünschte, dass der Vf. im Bereich der großen hannoverschen Landeskirche die Binnenunterschiede, etwa zwischen Ostfriesland und dem Harzgebiet oder zwischen den Industriegürteln der Großstädte und den kleinen Verwaltungszentren, stärker beachtet hätte.

Mit ihren Ergebnissen weist die Arbeit über die Regionalgeschichte hinaus, z. B. bei den Beobachtungen zum Verhältnis der Liberalen zu den Orthodoxen: In Untersuchungen für andere protestantische Gebiete war behauptet worden, die Differenz zwischen diesen Kirchenparteien wäre so groß, dass sie sich als selbständige Milieus mit "Ekelschranken" ausgebildeten hätten. Das ist in Nordwestdeutschland nicht der Fall, die Gruppen und Parteien verstanden sich als Teile eines gemeinsamen Milieus, das durch die Abgrenzung gegenüber Katholiken und Sozialdemokraten geeint wurde. Eindrücklich ist auch die Überlegung des Vf.s, warum die Modernisierung des Protestantismus erfolgreich war: Der Protestantismus bewältigte die Krisen in der ersten Hälfte des 20. Jh.s so gut, weil alle Kirchenparteien die vom Verbandsprotestantismus betriebene Modernisierung der kirchlichen Arbeit - etwa in der Publizistik - begrüßten und weil der Sozialprotestantismus ein Konzept des Christentums repräsentierte, das nicht in der traditionellen Kirchlichkeit aufging.

Ein Personenregister beschließt das Buch, das eindrücklich die Leistungsfähigkeit sozialgeschichtlicher Fragestellungen für die Kirchengeschichte demonstriert.