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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1042–1044

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Hartmut, u. Anne-Charlott Trepp [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 645 S. gr.8 = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 152. Lw. DM 132,-. ISBN 3-525-35468-1.

Rezensent:

Detlef Döring

Die gegenwärtige Forschung zur Rolle der Religion innerhalb der europäischen Geschichte zwischen dem ausgehenden 16. und dem beginnenden 18. Jh. findet schwerpunktmäßig im Rahmen der Diskussion um die Konfessionalisierung als einem der zentralen Vorgänge der Frühen Neuzeit statt. Bei einer Vereinseitigung dieser Orientierung droht die Gefahr, die Religion nur noch in ihrer Verbindung mit dem Prozess der Herausbildung frühmoderner Staatlichkeit zu sehen. Ein Blick in viele der zur Zeit gängigen Überblicksdarstellungen zur deutschen Geschichte wird diese Beobachtung bestätigen. Vernachlässigt bleibt hier die Frage nach Rolle und Bedeutung der Religion in der Bewältigung des täglichen Lebens. Zu geringe Berücksichtigung finden auch Formen des religiösen Lebens, die sich dem Konfessionalisierungsdruck entzogen haben; die Rolle der Religion in Bereichen, die nicht unmittelbar Staat und Kirche tangieren, bleibt unbeachtet. Neben die Untersuchung des auf Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung eines jeweiligen Territoriums zielenden Wirkens der Theologen, Politiker und Fürsten hat die Beschäftigung mit den Formen des tatsächlichen religiösen Lebens der regierten Untertanen zu treten. Dieser Aufgabe widmet sich das hier zu besprechende, die Ergebnisse einer Göttinger Tagung (Juni 1996) präsentierende Buch, das als ein neuer Versuch zu werten ist, die Stellung der Religion im Geschehen des 17. Jh.s zu untersuchen. Vorangegangen ist das gewichtige, aus einer Tagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung hervorgegangene zweibändige Werk "Religion und Religiosität im Barockzeitalter" (1995), das sich allerdings mit den eben angedeuteten Fragen auch nur am Rande beschäftigte. Das 17. Jh. ist mit seinen unablässigen Kriegen und allen damit einhergehenden Schrecken eine der notvollsten Epochen der Neuzeit gewesen; daher der Buchtitel "Im Zeichen der Krise": Es geht in einem Großteil der vorliegenden Beiträge um die Rolle der Religion in der Bewältigung jener Schrecken und Gefahren. Das 17. Jh. ist aber noch in anderer Hinsicht eine Zeit der Krise, begreift man diese im strikten Sinne des Wortes, d.h. als Wendepunkt: Es bildet die Grenzscheide zwischen dem von der Religion geprägten Alteuropa und der in der Tendenz (bei immer wieder neu einsetzenden Gegenbewegungen) sich auf einen Abbau religiöser Bindungen zubewegenden Moderne. Die Kenntnis der im 17. Jh. zu ziehenden "Bilanz christlichen Einflusses" ist daher notwendig, so Hartmut Lehmann als Herausgeber, "um auf der anderen Seite beurteilen zu können, wie rasch und auf welche Weise die Aufklärung das geistige, kulturelle, politische, soziale und wirtschaftliche Leben in Europa veränderte."

Gegliedert ist der Band in sechs Sektionen. Zwei von ihnen widmen sich ausgesprochen dem Thema Krise: Apokalyptik, Prodegienglaube und Prophetismus im Alten Reich und Seuchen, Hungersnot, Krankheit, Tod. Zwei andere Sektionen beschäftigen sich mit verschiedenen, damals als fremdartig und daher meist bedrohlich empfundenen Personenkreisen oder Erscheinungen: Jüdische Existenz zwischen Ablehnung und Duldung und Die Gegenwart des Fremden, des Überweltlichen und Übersinnlichen. Eine weitere Aufsatzfolge hat schließlich die Wissenschaftsgeschichte zum Gegenstand (Alte und neue Wissenschaften und Weltdeutungen), und ein letzter Teil wendet sich einem speziell katholisches Thema zu: Verwandlungen des Heiligen. Jede Sektion wird durch einen Beitrag eingeleitet, der das jeweilige Thema umreißt, die einzelnen Aufsätze zusammenfasst, nicht selten aber auch kritisiert. Insgesamt gesehen ist positiv hervorzuheben, dass die Beiträge fast durchweg aus den Quellen erarbeitet worden sind und somit über die jeweilige Interpretation hinaus ihren Wert besitzen.

Im Rahmen einer Rezension lassen sich selbstverständlich bei weitem nicht alle 25 Aufsätze und sechs Einführungstexte vorstellen. Ich beschränke mich auf eine exemplarische Auswahl von Beiträgen.

Im 17. Jh. gelangt der Glaube an das ständige Auftreten von warnenden Vorzeichen auf seinen Höhepunkt und zugleich (fast) an sein Ende. Benigna von Krusenstjern (Prodegienglaube und Dreißigjähriger Krieg) erläutert die große Bedeutung, die für den damaligen Zeitgenossen das Auftreten außergewöhnlicher Erscheinungen (meist Beobachtungen am Himmel, vor allem Kometen) als Botschaft bzw. Bußruf Gottes hatte. Im 18. Jh. fristet der Prodegienglaube dann nur noch in gesellschaftlichen Unterschichten ein Dasein. Auch das Verhältnis zu Krankheit und Tod ist in der Zeit des Barock ein völlig anderes, als es die ihr folgenden Jahrhunderte kennt.

Sabine Holtz (Die Unsicherheit des Lebens) zieht aus der Lektüre der Predigten von Vertretern der lutherischen Orthodoxie das Resümee: "Jede Minderung der menschlichen Existenz, sei es durch Krankheit, Not, Krieg, Unglück etc. wird von den Predigern auf menschliche Schuld zurückgeführt und als Strafe Gottes verstanden ...".

Als "größten direkten Kurzdisziplinierer" schildert Otto Ulbricht die Pest (Gelebter Glaube in Pestwellen 1580-1720). Das Auftreten der Seuche führte oft zu einer bemerkenswerten Steigerung der Frömmigkeit und Religionsausübung, mit der sich jedoch auch rationale Verhaltensweisen verbinden konnten, z.B. das Mitbringen eines eigenen Kelchs oder die Schaffung einer räumlichen Distanz zwischen dem Geistlichen und seinen Beichtkindern.

Dass man in Situationen der Not noch ganz massiv zu Mitteln der Magie griff, zeigt Britta Echle (Magisches Denken in Krisensituationen). Dabei empfand man Magie und Christentum keineswegs als Gegensatz, sondern als "ineinandergreifende Glaubensformen". Der Rez. würde jedoch das Verhältnis der Kirchen zur Magie ambivalenter als die Autorin sehen wollen, die davon spricht, dass die Verschmelzung christlicher und magischer Elemente von den Kirchen "vorangetrieben" wurde. Auch dürfte die Behauptung, magisches Handeln sei ausschließlich das Produkt von Krisensituationen, hinterfragbar sein.

Hier vertritt Bernd Roeck (Die Verzauberung des Fremden. Metaphysik und Außenseitertum in der frühen Neuzeit) eine andere Position, nach der für den Menschen des Barock alle Dinge der belebten und unbelebten Natur nicht nur "waren", sondern immer etwas bedeuteten, das magisch aktiviert werden konnte; dies ist der Hintergrund des Glaubens an eine besondere Wirkungsmacht von Henkern, Totengräbern, "Hexen" und anderen Außenseitern. Auch sieht Roeck die Großkirchen in einem Kampf um das "Magiemonopol" begriffen: Ihrer Entscheidung sollte es obliegen, ob ein Knochen "als heilige Reliquie verehrt werden darf oder als Wirkstoff" magischen Handelns verboten werden muss. Im Zeitalter der Aufklärung wird diese Frage obsolet; die Welt ist "entzaubert". Um ein Deutungsmonopol geht es auch in dem Beitrag von Craig Koslofsky (Säkularisierung und der Umgang mit der Leiche des Selbstmörders im frühmodernen Leipzig). Der Rat der Stadt Leipzig vertritt einen von Christian Thomasius übernommenen Standpunkt, der das Bestatten als eine Aufgabe der weltlichen Obrigkeit ansieht und eine "Bestrafung" des Selbstmörders durch eine "unehrliche" Beerdigung ablehnt. Dies ruft die geistlichen Behörden Kursachsens auf den Plan, denen es auch gelingt, ihren Anspruch durchzusetzen, die Entscheidungskompetenz bei der Bestattung von Selbstmördern zu besitzen. So war die Leipziger Auseinandersetzung in ihrem "intellektuellen und institutionellen Kontext betrachtet, eine Frage der Entsäkularisierung, da die zunehmende Tendenz zur Säkularisierung unvermutet heftige Gegenreaktionen hervorrief." Das 17. Jh. ist auch die Epoche der Herausbildung der modernen Naturwissenschaften. Wenn auch die lange Zeit lebendige und wohl auch noch heute noch nicht ganz verschwundene Vorstellung eines scharfen Gegensatzes zwischen moderner Wissenschaft und Religion nicht mehr den Inhalt ernsthafter Diskussionen bildet, ist doch die Frage offen, welchen Anteil die Religion an diesem Krisen-, d. h. Wendepunkt der Wissenschaftsgeschichte genommen hat. Dabei ist gerade bei diesem Thema besonders ausdrücklich zu betonen, dass mit Religion nicht allein die Glaubensbekenntnisse der Konfessionskirchen gemeint sind.

So geht Kaspar von Greyerz (Alchemie, Hermetismus und Magie. Zur Frage der Kontinuitäten in der wissenschaftlichen Revolution) von einer starken "okkulten wissenschaftlichen Tradition" aus, die wesentlich zur Herausbildung der modernen, "kausal-abwägenden" Wissenschaft beigetragen hat, um erst dann allmählich vom "wissenschaftlichen Diskurs abgekoppelt" zu werden.

Auch Anne-Charlott Trepp (Religion, Magie und Naturphilosophie: Alchemie im 16. und 17. Jahrhundert) behandelt die Bedeutung Alchemie für die Wissenschaftsentwicklung, verweist aber darüberhinaus auf die Funktion der Alchemie innerhalb der Bewegungen, die durch eine vertiefte Religiosität Tendenzen der Erstarrung des kirchlichen Lebens zu begegnen suchten (spirituelle Alchemie, z. B. bei Johann Arndt).

Dass selbst der Heilige, eine der Moderne ganz und gar fremd gewordene Figur, einen Beitrag zur Modernisierung der Welt leisten konnte, versucht Peter Burschel zu belegen (Der Himmel und die Disziplin): Die Heiligen, die in der Zeit nach dem Konzil von Trient als nachahmungswürdig propagiert wurden, waren "zweckrational" orientiert. Es sind keine das Irdische fliehenden Asketen, sondern sie greifen ganz aktiv und mit hoher Effizienz in das Geschehen der Welt ein (vita activa). Ein besonderer Wert, gerade auch im Blick auf die eingangs angedeuteten Mängel der Forschung, kommt der Einbeziehung des Judentums als der einzigen damals in Europa existenten dezidiert nichtchristlichen Religionsgemeinschaft zu.

Die Tendenz aller Beiträge geht auf den Nachweis eines im Judentum durchaus vorhanden gewesenen Strebens nach Assimilation bei gleichzeitiger Abgrenzung, was von christlicher Seite ähnlich ambivalent beantwortet wurde. Als Beispiel sei der Aufsatz von Christoph Daxelmüller erwähnt (Assimilation vor der Assimilation. Säkularer Lebensstil und Religiosität in der jüdischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts), der den "sich vergnügenden und feiernden Juden" entdeckt, der schon lange vor der Aufklärung die kulturellen Entwicklungen der nichtjüdischen Außenwelt rezipiert.

Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch insgesamt gesehen um eine sehr ansprechende und verdienstvolle Publikation, die zugleich aber auch belegt, welch ein ausgedehntes und reiches Forschungsfeld die Religiosität zwischen Reformation und Aufklärung bildet.