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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1040–1042

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Liedtke, Rainer, and Stephan Wendehorst [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Emancipation of Catholics, Jews and Protestants. Minorities and the Nation State in Nineteenth-Century Europe.

Verlag:

Manchester-New York: Manchester University Press 1999. X, 223 S. gr.8. Geb. £ 45.-. ISBN 0-7190-5149-5.

Rezensent:

Rolf-Ulrich Kunze

Emanzipationsgeschichtliche Minderheitenstudien sind so reizvoll wie ambivalent. Sie zwingen zum Perspektivenwechsel gegenüber komplexen Problembereichen verschiedener Nationalgeschichten, die oft bis heute in der historiographischen Auseinandersetzung durch mentalitätsgeschichtliche ,Schatten' (z.B. konfessionelle Polarisierung) getrübt sind, methodisch aber zwangsläufig eine hochgradig integrative Bearbeitung verlangen. Der von Rainer Liedtke, TU Berlin, und Stephan Wendehorst, München, besorgte Sammelband vereinigt alle ,makroperspektivisch'-paradigmatischen Vorzüge dieses Ansatzes unter Vermeidung der ,mikroperspektivischen' Nachteile einer pars-pro-toto-Setzung von Minderheitengeschichten. Innerhalb des von L. u. W. gesetzten thematischen und methodischen Rahmens einer konsequenten Problematisierung des Verhältnisses von Minderheiten-Status, Minderheiten-Emanzipation und nation building gelingt es den acht Beiträgern nicht nur, auf eine Forschungslücke in der Geschichte des 19.Jh.s - die Bedeutung religiöser Minderheiten für das Projekt der ,Erfindung der Nation' - aufmerksam zu machen, sondern zugleich die Grundlagen zu ihrer Schließung zu legen. Der Sammelband beschränkt sich ausdrücklich auf Minderheiten in vier europäischen Nationalstaaten: Großbritannien, Frankreich, Deutschland bzw. dem Reich nach 1871 und Italien, und er verzichtet ebenso ausdrücklich auf einen vergleichenden Ansatz. Vor allem die letzte Beschränkung ist plausibel, da, wie L. in seiner Einleitung betont, schon der Begriff der ,Minderheit' in verschiedenen europäischen Nationalstaaten vollkommen verschiedene Bedeutungen hat: Während die ,katholische Minderheit' im Deutschland des 19. Jh.s mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachte, zählte die protestantische Minderheit in Italien ungefähr 20 000 Konfessionsangehörige. Eine sinnvolle Verwendung des Minderheitenbegriffs und des korrespondierenden Emanzipationsbegriffes sei daher, so L., ohne eine Bezugnahme auf die jeweiligen nationalen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe nicht möglich. Alle Autoren haben dieses Problem in ihren Beiträgen berücksichtigt.

In seinem Beitrag beschreibt Ian Machin, Dundee, die Emanzipationserfahrung der britischen katholischen Minderheit im Hinblick auf die enge Verflechtung mit der katholischen Mehrheit des irischen Teils des Königreichs. Eine kontinuierliche Zuwanderung von dort veränderte den Charakter des britischen Katholizismus nachhaltig und gab den sozialgeschichtlichen Hintergrund des formalen Emanzipationsprozesses seit 1829 ab. David Cesarani, Southampton/London, beurteilt die Emanzipationsgeschichte der britischen Juden insgesamt als eine Erfolgsgeschichte, die allerdings eine hohe Assimilationsbereitschaft nicht nur voraussetzte, sondern einforderte. André Encrevá, Paris, beschreibt die an Wechselfällen reiche Entwicklungsgeschichte des französischen Protestantismus vom vorrevolutionären Frankreich über die napoleonische Ära bis zur Republik, als Emanzipation unter Vorbehalt und unter dem immer wieder hervorbrechenden Verdacht nationaler Unzuverlässigkeit - gleichsam ein spiegelverkehrter Befund zur deutschen Entwicklung. Frances Malino, Wellesley College, betont die ,Fallhöhe' zwischen formaler Emanzipation und der neuen Antisemitismus-Welle der Dreyfus-Affäre in der Geschichte der französischen Juden. Wolfgang Altgeld, Mainz, gibt einen ausführlichen Überblick zur Identitätsbildung der deutschen Katholiken von der Zerstörung der Reichskirche bis zum Kulturkampf, auf dessen frühe Wurzeln er aufmerksam macht. Altgeld arbeitet so die mentalitätsgeschichtlichen Hintergründe der Formierung des politischen Katholizismus in Deutschland heraus. Christopher Clark, Cambridge, analysiert das Wechselverhältnis von modernisierender Assimilierung und Emanzipation der deutschen Juden unter Berücksichtigung der Antisemitismusgeschichte vor und nach 1848 und 1871. Gian Paolo Romangnani, Verona, entwirft ein Bild der protestantischen Minderheit Italiens, deren Emanzipationsentwicklung trotz oder wegen des Fehlens eines breiteren protestantischen Bürgertums, kompensatorisch eng mit dem Risorgimento und der italienischen politischen Elitengeschichte des entstehenden italienischen Nationalstaats zusammenhängt. Gadi Luzzatto Voghera, Venedig, führt in einer archivalischen Studie u. a. an einem venezianischen Fallbeispiel die modernisierende Transformation italienischer jüdischer Eliten vor, die in der Habitusentwicklung der formalen Emanzipation subjektiv antizipierend vorausgriff, ohne diese wirklich zu beschleunigen.

Die erkenntnisleitenden Fragestellungen der Beiträge sind - bei einer durchgehend erkennbaren Orientierung an den Dimensionen der Modernisierungstheorie - denkbar verschieden. Sie reichen von konfessioneller Strukturgeschichte über exemplarische Mentalitätsgeschichte zu empirisch validierten sozialgeschichtlichen Ansätzen.