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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1038–1040

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Lange, Silvia

Titel/Untertitel:

Protestantische Frauen auf dem Weg in den Nationalsozialismus. Guida Diehls Neulandbewegung 1916-1935.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 1998. 327 S. gr.8 = Ergebnisse der Frauenforschung, 47. Kart. DM 78,-. ISBN 3-476-01596-3.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

Weder in der Forschung zur kirchlichen Zeitgeschichte, noch in der historischen Frauenforschung ist die Verstrickung der Neulandbewegung (NLB) in den Nationalsozialismus (NS) bislang Gegenstand einer besonderen Untersuchung gewesen. Auf der Basis der noch erreichbaren archivalischen Überlieferung, und der NLB-Publizistik, ergänzt durch Interviews ehemaliger NLB-Mitglieder, möchte L. mit ihrer überarbeiteten Berliner Dissertation diese Lücke schließen.

Im 1. Hauptteil (Die NLB zwischen Protestantismus und völkischer Bewegung) skizziert L. konzentriert Diehls biographische Frühzeit und die Anfänge der NLB (1916). Der doppelte Ursprung, Sammlungsbewegung der gebildeten weiblichen Jugend vor dem Ersten Weltkrieg und "Kriegsbund Deutscher Frauen" im Krieg, weist bereits auf die sozioökonomischen und ideologischen Voraussetzungen hin: Krise des Bildungsbürgertums und Zerfall des christlichen Weltbildes. Mit ihrer Verknüpfung von Deutschtum und Christentum springt die NLB in die Bresche. Die programmatische Entwicklung von einer "Gesinnungsgemeinschaft" zu einer "Kampfgenossenschaft" arbeitet L. anhand der verschiedenen Fassungen von Diehls Programmschrift "Was wir wollen" heraus. Trotz des von Diehl mit anhaltender Energie betriebenen organisatorischen Aufbaus durch Gründung von Subgruppierungen, vielfältiger Aktivitäten im Eisenacher Neulandhaus seit 1920 und einer zunehmenden Öffnung für unterschiedliche Zielgruppen wird die NLB keine Massenbewegung. Anstelle der herkömmlichen Forderung der Frauenbewegung nach Erweiterung des weiblichen Kultureinflusses erhebt Diehl die Frau zur alleinigen Trägerin von Kultur und zur Verantwortlichen für das sittlich moralische Niveau einer Nation (77). Ihre radikale Ablehnung der Weimarer Republik gewinnt der NLB die Sympathie vieler Theologen, nicht aber die rückhaltlose Unterstützung der offiziellen Kirche. L. ordnet sie im politischen Spektrum dem "Spannungsfeld zwischen Konservativer Revolution und den Völkischen" zu (96). Das Bündnis mit einer aussichtsreichen machtorientierten politischen Gruppierung legt sich dem Machtstreben Diehls nahe, als die Faszination des Kriegserlebnisses rückläufig wird.

Der 2. Hauptteil ist der NLB als pronationalsozialistischer Bewegung (1929-1935) gewidmet. Mit der Ablehnung des Young-Planes und der forcierten Hinwendung zum NS vollzieht sich zugleich eine Akzentverlagerung vom historisch-kulturellen zum rassischen Verständnis des Deutschtums. Es folgen Diehls NSDAP-Eintritt und der Abdruck von Passagen aus Hitlers "Mein Kampf" im Neulandblatt 1930, die Kooperation mit Wilhelm Frick in Thüringen, Kontakte zur NS-Führung auf Reichsebene und die Ernennungen zur Kulturreferentin in der Reichsfrauenleitung der NSDAP. Das Neulandblatt erhält einen Doppelcharakter: Religiöse Erbauungsschrift und Propagandainstrument der NSDAP. Das Neulandhaus wird zum "Vorposten der Nationalsozialisten in Eisenach" (157).

Auf dem Feld der Kirchenpolitik wird Diehl zunehmend genötigt, zwischen Deutschgläubigen, Deutschen Christen und Bekennender Kirche zu taktieren. Das Eintreten für eine Repräsentation der Frauen in der DC-Führung und - im Gefolge Stöckers - für eine organisatorische Autonomie der Kirche führt zum Konflikt mit den DC. Im Machtkampf mit der Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink unterlag Diehl ebenfalls. Der erzwungene Rückzug der NLB aus der Politik fand seinen Niederschlag in der Verfassung von 1935 (Verzicht auf politische Ziele, Verstärkung des religiösen Engagements). In einem Exkurs geht L. noch knapp auf die Endphase der NLB (Konflikt mit der Nationalkirchlichen Bewegung, Verbot des Neulandblattes 1940) und den Versuch eines Neuaufbaus nach 1945 ein. Nach L. waren drei Ziele für die Hinwendung der NLB zum NS entscheidend: Revision des Versailler Vertrages, Verteidigung eines rassistisch verstandenen Christentums, militanter Antikommunismus. Diese Hinwendung ist aber letztlich die Endstufe "eines Politisierungsprozesses, für deren Verlauf eine ständige Aufwertung des Außen gegen das Innen charakteristisch ist" (192). Gescheitert ist die NLB im 3. Reich an ihrer kirchenpolitischen Zwischenposition und dem Versuch, "die Nazifizierung des Christentums in eigener Regie" durchzuführen (195).

Unterstrichen, vertieft und ergänzt werden die Ergebnisse der Untersuchung durch die Wiedergabe von zwei narrativen Interviews von NLB-Anhängerinnen, strukturiert nach Sachschwerpunkten. Die starke Ausstrahlung von Diehls charismatischer Persönlichkeit, der latente Antisemitismus, der soziale Kontext und die Verquickung von Nationalismus und Christentum werden aus lebensgeschichtlicher Perspektive noch einmal deutlich. Eine Schlussbetrachtung fasst die Ergebnisse der Arbeit unter dem Aspekt "Die NLB als Spiegel der Zeitgeschichte" zusammen. Es wird darauf hingewiesen, dass sich auch Frauen schon früh, freiwillig und begeistert für den NS eingesetzt haben und zwar aus vier Leitmotiven: "der antidemokratische Nationalismus des deutschen Bürgertums, die Angst der bürgerlichen Mittelschicht vor sozialem Abstieg, das für Frauen nur unvollständig eingelöste Emanzipationsversprechen der Weimarer Demokratie und die Hoffnung großer Teile des Protestantismus auf eine Rechristianisierung der Gesellschaft" (235).

Die Darlegungen werden ergänzt durch 14 Abbildungen und einen Anhang mit Übersichten zur Chronologie, zur Publizistik und zu Mitgliedschaften der NLB. Leider fehlt ein Personenregister.

Die Angaben zu Diehls Publikationen sind nicht ganz vollständig (z. B. Erlösung vom Wirrwahn, 2. Aufl. 1936); Die deutsche Frau und der NS 3. Aufl. 1934. Die kirchengeschichtliche wie die theologische Literatur (z.B. die Monographie von J. Henkys über die Bibelarbeit) ist nicht ähnlich konsequent ausgewertet worden wie die sozialgeschichtliche. Diehls Verhältnis zur DC hätte einige deutlichere Konturen vertragen. Desgleichen wünschte man sich den Umgang mit dem Protestantismusbegriff etwas differenzierter. Die Kontakte bekannter Theologen zur NLB werden meist nur erwähnt, aber nicht erhellt. Zu Bruno Doehring und Siegfried Leffler existieren neue Arbeiten. In die Quellenauswertung sind außer den Zeitschriften der NLB nur die Publikationen der Frauen- und Jugendbewegung einbezogen worden. Die Resonanz in den kirchlichen Blättern bleibt unberücksichtigt (z. B. ausführliche Einladung zum Neulandtag 1933 in den Mitteilungen des Pfarrervereins für Sachsen 1933, Nr. 2,8; Würdigung Diehls zum 65. Geburtstag im Sächsischen Kirchenblatt vom 8.9.1933, 529-534). Aus der DC-Presse ist zu entnehmen, dass Diehl noch am 27.10.1933 in der OKR-Sitzung in Berlin referierte und eine offizielle Frauenvertretung forderte (Evangelium im Dritten Reich, 5.11. 1933, 467).

Wenngleich die kirchengeschichtlichen Aspekte eine intensivere Berücksichtigung verdient hätten, hat L. mit ihrer Arbeit über die NLB und den Prozess der Hinwendung zum NS auch für die kirchliche Zeitgeschichtsforschung einen wichtigen Beitrag erbracht.

Corrigenda: 33: Klaus Scholder; 298: Joachim Hossenfelder.