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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1028–1030

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Drecoll, Volker Henning

Titel/Untertitel:

Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XI, 439 S. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 109. Lw. DM 168,-. ISBN 3-16-147046-X.

Rezensent:

Ralph Hennings

Drecoll gelingt es, eine der wichtigsten Denkbewegungen Augustins nachzuvollziehen. Er zeigt, wie sich Augustins Verständnis von Erlösung und Gnade entwickelt. Eine große Stärke von D.s Buch ist, dass er sich nicht auf eine Begriffsuntersuchung von gratia bei Augustin beschränkt, sondern den systematischen Zusammenhang darstellt. Er gibt einen Überblick über die Entwicklung der Gnadenlehre Augustins von "De beata vita" (verfasst im November 386) bis zu den "Confessiones" (abgeschlossen um 401). Dieser weite Bogen verhindert, dass zu schnell einfache Abhängigkeiten konstruiert werden. D. zeigt, dass sich die Gnadenlehre Augustins nicht als Übernahme irgendeiner vorliegenden Tradition erklären lässt. Augustin setzt sich kritisch mit den Denkmodellen auseinander, die seine Biographie geprägt haben, vor allem mit dem Manichäismus und dem Neuplatonismus. Ebenso zeigt sich, dass Augustin die lateinischen Traditionen der Paulusexegese kennt, ohne dass er wirklich von ihnen abhängig wäre. Nach der Lektüre von D.s Buch ergibt sich für den Leser ein überraschend klarer Weg, der Augustin zu seiner Gnadenlehre geführt hat.

D. erklärt die Denkbewegung Augustins im Durchgang durch die behandelten Schriften. Zunächst erweist sich in "De beata vita" der Gottesbegriff als zentral. Es ist der Gedanke von "Gott als dem alles bestimmenden Element, von dem auch das Erlöstwerden abhängt" (43). Zugleich bleibt der freie Wille des Menschen erhalten, das heißt: "Der Mensch hat eine bestimmte Lebensweise einzuschlagen und geistig in bestimmter Weise tätig zu werden, um so die beata vita zu erreichen" (44).

In "De immortalitate animae" wird ein für Augustin axiomatisches Schema "unveränderlich - veränderlich" erkennbar, das seine Auswirkungen für die Gnadenlehre hat, weil er "vom Seelenbegriff her den Zusammenhang zwischen Lebensverleihung, Gottesbegriff und individueller Unsterblichkeit konzipiert" (77). Beeindruckend ist hier D.s Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur und den umstrittenen Fragen nach den philosophischen Traditionen, die Augustin beeinflusst haben. D. weist souverän nach, dass Augustins Seelenbegriff gegenüber den ihm bekannten neuplatonischen Texten (vor allem Plotin, Enn. IV,7) eine Vereinfachung darstellt, die sich durch den Verweis auf manichäische Konzepte erklären lässt. D.s differenzierter Umgang mit den manichäischen Quellen stärkt dabei seine Position. Er kann zeigen, wie Augustin in "De immortalitate animae" seine eigene geistige Vergangenheit verarbeitet. Die hier gelegten Grundlagen für Augustins Gnadenlehre sind nicht einfach ein Mischmasch aus Neuplatonismus und Manichäismus, sondern Augustins eigene gedankliche Leistung - denn wie D. sagt, ist "unter ,Reflexion' nicht ,unbesehene Übernahme' zu verstehen" (77).

Als nächstes erörtert D. die Bedeutung von "De vera religione" für die Gnadenlehre. Zum einen erscheint in dieser Schrift zum ersten Mal der Begriff gratia im Zusammenhang mit einer Erlösungsvorstellung, zum anderen reflektiert Augustin hier den Unterschied zur Erlösungsvorstellung der Platoniker und erarbeitet die Bedeutung des Sündenbegriffs für die Gnadenlehre. Im gesamten Abschnitt zeigt D. wiederum klar auf, wo Augustin neuplatonisches oder manichäisches Gedankengut aufnimmt und sich zugleich von beiden Positionen abgrenzt. Durchgehend widerlegt D. die von Willy Theiler und anderen vertretene These, Augustin sei von Porphyrios abhängig.

Die Gnadenlehre Augustins erfährt durch seine Paulusexegese eine weitere Entwicklung. Augustin versucht zunächst das Verhältnis von Gnade und Gesetz mit einem Vier-Stadien-Schema (ante legem - sub lege - sub gratia - perfecta pax) zu lösen. Dieses Schema bildet den Hintergrund für die Auslegung von Röm 7 in "Ad Simplicianum I,1", in der "gratia hauptsächlich den Bereich der Erlösung meint, in dem die lex erfüllt und der Sünde widerstanden werden kann" (211). Über den Versuch der zeitlichen Vorordnung von göttlichem Erbarmen und menschlichem Willensentscheid in "De diversis quaestionibus 68" (218), geht Augustin bereits in "Ad Simplicianum I,2" hinaus. Die antimanichäische Stoßrichtung bleibt dabei bestimmend für seine Beibehaltung des liberum arbitrium. Die Möglichkeiten des freien Willens schränkt Augustin aber beim unerlösten Menschen drastisch ein (244). In "Ad Simplicianum I,2" verknüpft Augustin schließlich die Gnadenlehre mit dem Glaubensbegriff. Auch die Glaubensentscheidung ist kein Verdienst des Menschen, sondern ein donum Dei. Damit verbinden sich Gnaden- und Erwählungslehre. Gottes Erwählung erfolgt auf Grund seiner Barmherzigkeit, nicht auf Grund menschlicher Verdienste. Gegen Kurt Flasch, Logik des Schreckens, Mainz 21995, stellt D. heraus, dass Augustin damit keineswegs in den Manichäismus zurückfällt und dass die Rede von einer "Logik des Schreckens" für Augustins Gnadenlehre insgesamt nicht anwendbar ist (249), denn: "Augustins Gnadenlehre, wie sie sich in Simpl. I,2 darstellt, zielt nicht darauf, die meisten Menschen zu entwerten und lediglich als ,Gefäße des Zorns' zur abschreckenden Erziehung der wenigen Auserwählten zu instrumentalisieren" (248).

Die Analyse der "Confessiones" ist der krönende Abschluss des Buches (251-354) denn hier ist Augustins eigenes Leben ein Beispiel für seine Gnaden- und Erwählungslehre. Besonders die Bekehrung im Garten (conf. VIII,12) erweist sich als ein Geschehen, dass sich mit den Deutungsmustern der Gnadenlehre verstehen lässt. "Erlösung wird dabei weder als admonitio noch als Erleuchtung beschrieben, sondern an Simpl. I,2 anknüpfend als Berufung, die den Willen bewirkt (361)." Für die Bücher IX und X der "Confessiones" stellt D. die Auseinandersetzung mit dem Neuplatonismus als zentrales Motiv heraus. Augustin macht die Christologie zum Dreh- und Angelpunkt eines jeden Aufstiegs zu Gott. Am Beispiel seiner Mutter Monnica wird die christliche Existenz exemplifiziert, die eschatologisch ausgerichtet ist. Sie zielt bereits auf das letzte Stadium des obengenannten Schemas (328). Solange aber die Christen sub gratia - und das heißt für Augustin immer noch in den Versuchungen dieses Lebens - existieren, ist die perfecta pax nur punktuell durch Christus, den wahren mediator, erfahrbar. Damit grenzt sich Augustin von neuplatonischer Mystik und Theurgie ab und entwickelt eine eigene auf Christus zulaufende Konzeption der Erlösung.

D. selbst fasst sein Ergebnis in einem Thesensatz zusammen: "Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins ist von der Struktur des augustinischen Gottesbegriffs abhängig und durch die Auseinandersetzung mit dem Manichäismus in kritischer Reflexion plotinischer Gedanken motiviert" (355).

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dass seinem Buch viele Leser und der These große Verbreitung gewünscht werden.