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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1021–1024

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Porter, Stanley E.

Titel/Untertitel:

The Paul of Acts. Essays in Literary Criticism, Rhetoric, and Theology.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. IX, 233 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 115. Lw. DM 148,-. ISBN 3-16-147104-0.

Rezensent:

Christoph Stenschke

Die Betonung der Differenz der Paulusdarstellung in der Apostelgeschichte einerseits und den Paulusbriefen andererseits gehört zum guten Ton der deutschsprachigen Acta-Forschung des vergangenen Jahrhunderts. Weil der Paulus der Apg nicht derjenige der Briefe sei, ist die Paulusdarstellung der Apg historisch unzuverlässig, kann die Apg nicht für die paulinische Theologie herangezogen werden, kann der Verfasser der Apg kein Paulusbegleiter gewesen sein. So lauten die bekannten Schlussfolgerungen. Es liegt wohl an diesem Sachverhalt, dass die Paulusdarstellung der Apg an sich wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Freilich hat dieser Konsens in der Beurteilung nicht immer bestanden, und auch heute wird die Sachlage nicht überall derart bewertet. Daher widmet sich Porter einem Thema, das durchaus der erneuten, gründlichen Untersuchung bedarf. Die Ergebnisse seiner literarischen, rhetorischen und theologischen Untersuchungen sind eine willkommene Ergänzung und zugleich Herausforderung der "gesicherten" Ergebnisse.

P. ist Professor am Londoner Roehampton Institute und als produktiver Autor und Herausgeber bekannt geworden. Im ersten Kapitel (1-9) beschreibt er die angewandten Methoden und Voraussetzungen dieser Untersuchung des Paulusbildes der Apg. Das zweite Kapitel gilt den sog. "Wir-Berichten" der Apg als einer Quelle über Paulus (10-46). Nach einem Überblick über die Diskussion der literarischen Gattung der Apg und genauer Abgrenzung der Berichte versucht P. nachzuweisen, dass es sich bei den Wir-Berichte um eine fortlaufende, unabhängige Quelle über Paulus handelt, die wahrscheinlich nicht vom Verfasser der Apg herrührt, sondern von ihm im Rahmen seiner Nachforschungen zur urchristlichen Geschichte entdeckt wurde. Das folgende Kapitel (47-66) gilt der Theologie und Perspektive der Wir-Berichte in ihrer Darstellung des Charakters und Verhaltens des Paulus. P. stößt dabei auf eine abgeschwächte Darstellung göttlicher Führung, untersucht Hellenismus und Judentum in den Wir-Berichten, entdeckt Paulus als einen Mann von großer Fähigkeit, aber nicht Paulus "den Redner" und fragt nach der Wundertätigkeit des Paulus. Als Ergebnis konstatiert P. einige bedeutende Unterschiede zwischen dem Paulus der Wir-Berichte und dem Paulus der übrigen Apg. Dennoch fand die Paulusdarstellung der Berichte beim Verfasser der Apg Anklang. Vielleicht haben die Berichte das strukturelle Gerüst abgegeben, nach denen die umfassendere Erzählung der Entwicklung des Paulus und des Evangeliums bis nach Rom gestaltet wurde.

Im vierten Kapitel (67-97) untersucht P. sämtliche einschlägigen Stellen (9,17; 13,2.4.9; 15,8.28; 16,6 f.; 19,2.6; 20,22 f. 28; 24,4.11; 28,25) mit der Fragestellung, wie sich der heilige Geist und Paulus zueinander verhalten. P. fasst die exegetischen Ergebnisse zu sieben Beobachtungen zusammen (94-96). Nach der Apg war der Geist an bedeutenden Wendepunkten im Dienst des Paulus aktiv. In der Beziehung Paulus-Geist scheint der Geist eine bedeutende und dennoch gedämpfte Rolle gespielt zu haben: gegenwärtig bei den meisten wichtigen Ereignissen und darauf bedacht, mit und durch die Betroffenen, Paulus und andere, die Absicht Gottes auszuführen.

Weitere drei Kapitel gelten den Paulusreden der Apg. Zunächst fragt P.: "Paulus als Briefschreiber und Redner?" (98-125). Er verteidigt diese Verbindung und widmet sich den Fragen, die diese Analyse aufwirft. Dazu gehört die Diskussion der Rolle von Reden in antiker Literatur, inklusive P.s Interpretation der programmatischen Aussage in Thukydides I.22.1. Hier vergleicht P. die Beziehung zwischen dem Paulus der Apg und dem der Briefe. Gattungsbedingt kann man Paulus in den Briefen nicht als antiken Redner entdecken. Die Apg bietet keine ausreichende Grundlage für eine rhetorische Analyse der Reden des historischen Paulus. Folglich kann man nur untersuchen, wie sie vom Verfasser gestaltet und präsentiert werden. Im sechsten Kapitel untersucht P. die argumentative Dimension der paulinischen Missionsreden der Apg (13,16-41; 14,15-17; 17,22-31; S. 126-150), in denen er gemeinsame Elemente in der Struktur entdeckt. Während einige Elemente sich auch anderweitig in der Apg finden lassen, sind andere (Anrede, Struktur und Gestalt der Argumentation) diesen paulinischen Reden eigen. Diese Merkmale lassen vermuten, dass der Verfasser der Apg entweder die Reden irgendwie gestaltet hat, um eine "paulinische Person" zu gestalten, oder dass dem Verfasser Informationen über Paulus zur Verfügung standen, möglicherweise historisches Material, das er an geeigneten Stellen einfließen ließ. Die Analyse von Röm 1,18-32 in Bezug zu Apg 14,15-17 und 17,22-31 weist auf eine größere theologische Gemeinsamkeit hin als oft angenommen wird. Anschließend geht es um die argumentative Dimension der paulinischen Verteidigungsreden der Apg (22,1-21; 24,10-21; 26,2-23; S. 151-171). Dabei beleuchtet Paulus in der Präsentation seines Falles die Person Gottes, der in der Welt handelt, sich selbst bezeugt und Jesus von den Toten auferweckt hat. Paulus erscheint in den Reden als ein Mann von unglaublicher Komplexität und argumentativer Fähigkeit. P. stellt einige Vergleiche an, wie Paulus sich in seinen Reden und in seinen Briefen ähnlichen Themen nähert, und schließt: Es ist nicht völlig klar, dass der Paulus der Apg der Paulus der Briefe ist; aber es gibt auf diesem Gebiet kein stichhaltiges Argument, das beweisen würde, daß dem nicht so ist (170).

Das achte Kapitel ist unter der Überschrift "Paulus, ein Mann für alle Fälle oder ein Mann, der von seinen Freunden verraten wurde" dem schwierigen Abschnitt Acta 21,17-26 gewidmet (172-85). P. vertritt die Auffassung, dass das Verhalten des Paulus nach der Apg durchaus zu seinen Briefen passt (Röm 11,11ff.; 1Kor 9,19 f., "Zugegeben, dies führt zu einer Inkonsequenz im Verhalten des Paulus, indem er sich in einigen Situationen an das Gesetz hält und in anderen nicht", 185), und vertritt ferner die Möglichkeit, dass die Leiter der Jerusalemer Gemeinde durch ihr Verhalten eine Atmosphäre des Misstrauens gegenüber Paulus geschaffen haben; eine Handhabung, die indirekt zu seiner Festnahme beigetragen haben mag.

Da er sich Paulus durch die Apostelgeschichte nähern will und nicht durch die Briefe (6), widmet P. erst das letzte Kapitel direkt dem Vergleich zwischen dem Paulus der Apg und dem der Briefe: "Einige verbreitete Vorstellungen und Missverständnisse" (187-206). Nach kurzer Einführung beleuchtet P. zunächst die Angaben zur Person des Paulus in der Apg und den Briefen (190-199). P. greift jeden der von Haenchen vertretenen Unterschiede auf (paulinische Mission und das Gesetz, Paulus der Wundertäter, der Redner und der Apostel, das Verhältnis von Juden und Christen). Anschließend geht es um die Theologie des Paulus. Wieder unterzieht P. die Hauptargumente (hauptsächlich Christologie und Eschatologie - in Abgrenzung gegen Vielhauer), die gegen eine enge Beziehung der Autoren vorgebracht werden, einer genauen Prüfung, der sie dann aber nicht standhalten: "Ich war, offen gesagt, enttäuscht über den Grad an Präzision, mit dem diese These vorgetragen wurde, bei der oft die Annahme die harte Evidenz ersetzt zu haben scheint ... Ich bin nicht überzeugt, dass der Abstand zwischen dem Paulus der Apg und dem der Briefe so groß ist, wie viele Forscher angenommen haben. Zumindest erscheinen die Argumente, die oft herangezogen wurden, um die Unterschiede nachzuweisen, nach gründlicher Prüfung nicht zwingend zu sein" (6; vgl. 205f.). Eine ausgewählte Bibliographie, Quellen-, Namens- und Sachregister runden den Band ab.

Durchweg bietet P. viele interessante und gründliche linguistische Beobachtungen, deren Wert unabhängig von den umstrittenen Thesen des Buches besteht.

Im Hinblick auf berechtigte und überzeugende Kritik an seinen Vorgängern sind P.s Ergebnisse Kennern der internationalen Acta-Forschung oft bekannt. Manchmal stellt sich allerdings die Frage, ob diese Ergebnisse wirklich wichtig sind, und wenn ja, wofür? Es fehlt die Aufarbeitung der Darstellung der Apg zum frühen Wirken des Paulus gerade in den Erzählabschnitten Apg 9-12 (vgl. R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus: Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie, WUNT 71; Tübingen: Mohr Siebeck, 1994). Ab Apg 13 findet sich auch die häufige Überbetonung der Reden in der Acta-Forschung auf Kosten der Erzählabschnitte, in denen der Verfasser ebenso seine Theologie entfaltet und das Paulusbild prägt, und nur auf deren Hintergrund sind ja die Reden richtig zu verstehen.

Unbekannt ist P. die Studie von C. Burchard, Der dreizehnte Zeuge: Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas' Darstellung der Frühzeit des Paulus (FRLANT 103; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1970), der die lukanische Darstellung der Herkunft und des anfänglichen Werdegangs des Paulus umfassend untersucht. Ähnlich wie P. hat schon Burchard von dieser Darstellung her Fragen nach dem Geschichtswert, Geschichtsverständnis und dem Zweck der Apg gestellt. Hinzuweisen wäre noch auf die Studie von S. Schreiber, Paulus als Wundertäter: Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen (BZNW 79; Berlin: W. de Gruyter, 1996), der ein wichtiges Thema untersucht, das bei P. m. E. zu kurz kommt (60-62, 193 f.). Ferner hätte P. in der Forschungsgeschichte manches weitere gute Argument und interessante methodische Zugänge zum Problem Apg vs. Briefe finden können (z. B. W. Paley, Horae Paulinae: The Truth of the Scripture History of St. Paul evinced by a Comparison of the Epistles which bear his name with the Acts of the Apostles and with one another, London: 1790; vgl. W. W. Gasque, History of the Criticism of the Acts of the Apostles, BGBE 17; Tübingen: Mohr Siebeck, 1975, 17-20).

Trotz der erwähnten Fehlanzeigen bietet P. an vielen Stellen eine ausgezeichnete Aufarbeitung der relevanten Literatur. Doch - auch bei dem wohlwollenden Rez. - bleibt der Eindruck, dass die nur locker zusammenhängenden Einzelstudien (so zu Recht in der Einführung, 1) zumeist über den Charakter von Vorarbeiten nicht recht hinauskommen.

Vielleicht hätte man deren Ergebnisse - um Auseinandersetzung mit weiterer Literatur ergänzt - besser in den von P. angekündigten Actakommentar in der Serie New International Greek Text Commentary hineingenommen (3, Fußn. 8). So könnte ein weiterer Kommentar entstehen, der nicht nur das bekannte Wissen zur Apg zusammenträgt und gelegentlich erweitert, sondern ein Beitrag, der ein eigenes Profil trägt, so wie die neueren Bände von J. Jervell (Die Apostelgeschichte; KEK 3; 17. Aufl.; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998 und C. K. Barrett, A Critical and Exegetical Commentary on the Acts of the Apostles II: Introduction and Commentary on Acts XV-XXVIII, ICC; Edinburgh: T. & T. Clark, 1998; vgl. meine Besprechungen in JBL; im Druck). Gerade in Barrett hätte P. einen gewichtigen Gesprächspartner gefunden! Insgesamt steuert P.s Studie viele wichtige Aspekte zum Verständnis des Paulusbildes der Apg bei. Auf eine umfassende Gesamtdarstellung wartet man weiter.