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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1018–1020

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bieringer, Reimund [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Corinthian Correspondence.

Verlag:

Leuven: University Press; Leuven: Peeters 1996. XXVII, 793 S. gr.8 = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 125. Kart. BEF 2400.-. ISBN 90-6186-754-1 u. 90-6831-774-1.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

Der sehr umfangreiche Sammelband, den die Rez. leider verspätet vorstellt, vereinigt die Beiträge des 43. Löwener Internationalen Bibelkolloquiums 1994, das der korinthischen Korrespondenz gewidmet war. Damit wird der wichtige Sammelband von R. Bieringer u. J. Lambrecht, Studies on 2Corinthians, BETL CXXV, Leuven 1994 (rezensiert in ThLZ 121, 1996, 354ff.), durch einen weiteren Band ergänzt (vgl. auch schon R. Bieringer, Der 2. Korintherbrief in den neuesten Kommentaren, EThL 67,1,107-130, 1992). Von besonderer Bedeutung in diesem größeren Zusammenhang sind die beiden Aufsätze Bieringers zur Literarkritik des 2Kor (67-105) und zum Verhältnis von 1Kor und 2Kor zueinander (3-38).

1. Zunächst zum Inhalt des Bandes: Teil I enthält die 14 Beiträge der eingeladenen Vortragenden, 9 Beiträge zum 1Kor, 4 zum 2Kor. Der Einführungsvortrag des Herausgebers erörtert die Beziehung der beiden Briefe zueinander (s. o.). Bieringer fordert zu Recht, "daß die Exegese einzelner Texte der beiden Korintherbriefe immer den gesamten Kontext der korinthischen Korrespondenz mit ihrer geschichtlichen Situation, d. h. sowohl 1 und 2Kor als auch die rekonstruierten Zwischenereignisse, aktiv in die Interpretation einbezieht" (34). Folgende Beiträge sind formalen Aspekten gewidmet: 1Kor als hellenistischer Brief (R. F. Collins), Argumentation in 1Kor 1,10-3,4 (J. S. Vos), Kohärenz und Relevanz von 1Kor 8-10 (J. Delobel), Argumentation in 2Kor 1-9 (S. Hafemann), Rhetorik und Struktur in 1Kor 13 (C. Focant). Daneben werden bekannte Sachthemen behandelt: Jesustradition im 1Kor (F. Neirynck), die Paulusgegner in 2Kor 11,22 f. und 3,7-18 (D.-A. Koch), die Gnosis in Korinth nach 1Kor 1-3 (J.-M. Sevrin), die Ekklesiologie des Paulus im Verhältnis zur Lebenswirklichkeit der korinthischen Gemeinde (A. Lindemann), die Abendmahlstradition (W. Schrage), die Auferstehung nach 1Kor 15,12 (C. M. Tuckett), die Selbstempfehlung des Paulus in 2Kor 10-13 (J. Lambrecht) und die sog. Himmelsreise des Paulus in 2Kor 12,2-4 (M. E. Thrall).

2. In Teil II sind 28 kürzere Beiträge abgedruckt, deren gestreute Thematik einen Einblick in Schwerpunkte der gegenwärtigen Fragestellungen zur korinthischen Korrespondenz eröffnet. Was war vor sechs Jahren im Forschungsgespräch? Mehrere Beiträge untersuchen den paulinischen Schriftgebrauch (C. J. A. Hickling, T. L. Brodie, B. S. Rosner, B. J. Koet). Traditionsgeschichtliche Spezialfragen behandeln G. Steyn, J.-M. van Cangh und M. C. de Boer. Andere Beiträge gelten epistolographischen (E. Verhoef, D. H. Liebert), rhetorischen (J. F. M. Smit) und literarkritischen (E. Verhoef, H.-F. Richter und C. Heil) Themen. "Gnosis" und "Weisheit" prüfen V. Koperski und E. Reinmuth. Wichtige und kontroverse Textpartien interpretieren J. Gundry-Volf und C. C. Caragounis (1Kor 7), A. Denaux (1Kor 8,4-6), N. Baumert (1Kor 10,14-22), J. Hollemann (1Kor 15,20) und S. Schneider (1Kor 15,51 f.). Drei Beiträge gelten wesentlichen Texten und Themen des 2Kor (J. Schröter zum Apostolat nach 2Kor 4,7-12, S. E. Porter zur Versöhnung nach 2Kor 5,18-21 und R. K. Moore zur Gerechtigkeit Gottes nach 2Kor 5,21). Biographisch-Historischem begegnet man bei N. M. Watson (der Charakter des Paulus nach 2Kor) und B. J. Koet (zu Apg 18,1-18). Nur ein Beitrag gilt der Auslegungsgeschichte: J. Verheyden schreibt über Origenes zu 1Kor 2-9.

3. In den letzten Jahren sind Rhetorikforschung und Epistolographie zu einem Schwerpunkt gerade der Arbeit an der sog. korinthischen Korrespondenz geworden. Diese Fragestellungen konnten in den neuesten Kommentaren nach 1994 (1Kor: W. Schrage, Bd. 2 und 3, C. Wolff; 2Kor: M. E. Thrall, P. Barnett, F. Zeilinger, Bd. 2) noch nicht vertieft und thematisch eingearbeitet werden (Ausnahme: B. Witherington 1994). Bisher werden sie in Aufsätzen verfolgt und führten zu mehreren Monographien (z. B. M. M. Mitchell, H. Probst zu 1Kor, B. Bosenius, J. A. Crafton, M. M. DiCicco, H. M. Wünsch zu 2Kor) sowie einer zusammenfassenden Darstellung durch H.-J. Klauck (Die antike Briefliteratur und das NT, 1998). In diesem aktuellen Forschungstrend bewegten sich auf dem Löwener Kolloquium schon R. F. Collins und C. Focant mit ihren Beiträgen, die daher hier kurz gewürdigt werden sollen.

R. F. Collins stellt "Reflections on 1 Corinthians as a Hellenistic Letter" an (39-61). Was bedeutet das? Collins macht deutlich, dass Paulus den 1Kor bewusst und selbstbewusst als Brief verfasst. Er spielt auf wichtige Brieftopoi an: der Brief als Teil eines Dialogs und die Anwesenheit-Abwesenheit-Thematik. Er schreibt mit einer bestimmten Absicht, nämlich dem Appell zur Einigkeit (61), und verwendet dafür einen gemischten Brieftypus, den des typos nuthetetikos (48). Collins hielt Stephanas, Fortunatus und Achaicus für die Überbringer des Gemeindebriefes an Paulus (45), die die Abwesenheit der Gemeinde in Anwesenheit verwandeln (16,17) und den Briefverkehr des Paulus mit der Gemeinde organisieren (45). Alle diese Elemente ergeben das Bild: Paulus schrieb den 1Kor "in the Hellenistic manner of his day" (61). Collins' Aufsatz ist bereits bei Klauck "Die antike Briefliteratur" rezipiert (231 f.).

C. Focants Beitrag "1 Corinthiens 13. Analyse rhétorique et analyse de structures" (199-245, umfassende Bibliographie) liest das Kapitel als rhetorischen Text. Er versteht 1Kor 13 als digressio im Zusammenhang der argumentatio der Kapitel 12-14. So gelesen hat 1Kor 13 seinen festen und originären Platz im Kontext dieser Kapitel. Es fungiert als amplificatio, die eine quaestio finita (die Charismen) zu einer quaestio infinita (àÁË) macht. Das rhetorische Erklärungssystem wird durch eine Strukturanalyse gestützt (239 f.). Undeutlich bleibt, auf welche antiken rhetorischen Lehrbücher sich Focants Analyse bezieht. - Inzwischen werden weite Teile des 1Kor mit Hilfe rhetorischer Analyse erfasst (vgl. Klauck, Briefliteratur 233). Andererseits muss mit Klauck vor einer "inflationären Verwendung des Begriffs ,Rhetorik'" gewarnt werden (K. 179), solange das rhetorische Referenzsystem, die Bedeutung der Rhetorik für die Epistolographie und die Art der Teilnahme des Paulus an der literarischen Rhetorik nicht weiter geklärt sind.

4. Abschließend sei angemerkt, dass im vorliegenden Band, der die Forschungstendenzen deutlich abbildet, hermeneutische Fragestellungen fehlen. Es sei gefragt: Kann es sich die neutestamentliche Wissenschaft leisten, grundlegende Texte ihres Faches ohne eine Berücksichtigung hermeneutischer Überlegungen und ohne Sachdiskussionen über die theologische Bedeutung dieser Texte zu lesen?