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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1014–1016

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Utzschneider, Helmut

Titel/Untertitel:

Michas Reise in die Zeit. Studien zum Drama als Genre der prophetischen Literatur des Alten Testaments.

Verlag:

Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1999. 200 S. 8 = Stuttgarter Bibelstudien, 180. Kart. DM 47,80. ISBN 3-460-04801-8.

Rezensent:

Burkhard M. Zapff

Wie der Untertitel deutlich macht, ist es das Ziel der Monographie von H. Utzschneider, anhand des Buches Micha den Nachweis zu erbringen, dass "die prophetische Literatur des Alten Testamentes dem literarischen Genus der dramatischen Dichtung zuzurechnen" ist (11).

Mit dieser auf den ersten Blick ungewohnten These kann U. an einige neuere Arbeiten aus dem angelsächsischen Bereich (P. R. House, J. D. W. Watts), insbesondere aber dem jüngst erschienenen Deuterojesajakommentar (KAT X2) seines Lehrers K. Baltzer anknüpfen, wonach Jes 40-55 einst in dramaturgischer Weise beim Mazzotfest aufgeführt wurde (vgl. 46-56). Im Unterschied zu diesem rechnet U. jedoch weder mit der literarischen Einheitlichkeit der von ihm herangezogenen Texte, noch mit einer tatsächlichen dramaturgischen Aufführung des Michabuches bzw. eines Teils von ihm (175). Vielmehr sei das Michabuch - bzw. der von ihm für seine Studie herangezogene Teil Mi 1,1-4,7 - in dem Sinn als Drama zu verstehen, dass hier wesentliche Elemente des dramatischen Genre vorliegen (16). Was U. dabei unter "dramatisch" versteht, erfährt man in einer Begriffsklärung gleich am Anfang (16 f.). Entsprechend der Dramentheorie des Aristoteles sind demnach die drei Grundelemente "Mythos" (Ereigniszusammenhang als Fabel im Sinne von Plot), Lexis (Dialog der Figuren, Haupttext/Nebentext) und Opsis (szenische Darbietung in optischer und akustischer Hinsicht) für das Genre ausschlaggebend (16). Alle drei Elemente sucht U. folgerichtig im Michabuch nachzuweisen (17-58): Während Nebentexte weitgehend fehlen (Ausnahme: Mi 1,1; 3,1), findet sich die Lexis in Form von Figurenrede als Prophetenrede (Mi 1,8; 3,1.8), Gottesrede (Mi 1,6 f.; 2,12; 4.6) und Rede von Kollektiven, die das Volk oder eine der Städte repräsentieren (Mi 4,5; 5,4; 6,6 f.) (20). Angaben zur Opsis müssen auf Grund fehlender Nebentexte der Figurenrede entnommen werden, die "Hinweise auf die visuelle Ausstattung der Schauplätze enthalten", so dass der Leser "gewissermaßen angehalten, ja gezwungen [ist], die Texte zu ,inszenieren'" (31).

Der Zusammenhang der Ereignisse des Michabuches (Plot) ist in Form einer "Reise Michas in die Zeit" gestaltet, "in der der Leser/Hörer den Propheten und die anderen Protagonisten aus einer vergangenen, erinnerten Zukunft [scil. Zerstörung Samarias fortschreitend zur Zerstörung des Zionheiligtums, Anm. Z.] auf sich zukommen sieht, mit denen zusammen er in eine fernere, utopische Zukunft [scil. Erneuerung Zions, Anm. Z.] hineingehen kann" (40). Im zweiten, wesentlich umfangreicheren Teil seiner Monographie entfaltet U. seine "dramenanalytische" Auslegung von Mi 1,1-4,7 (59-174). Dabei ergibt sich ein "dramatisches Gedicht", bestehend aus einem Proömium: Mi 1,2-7 "Am Tor des Himmels" und zwei Akten, 1. Akt: Mi 1,8-2,5 "Trauer in Jerusalem"; 2. Akt: Mi 2,6-4,7 "Die Prophetie und der Zion" (176 ff.).

Die Studie U.s eröffnet mit der Theorie des Dramas weniger vertrauten Lesern einen durchaus spannenden und informativen Einstieg zu dieser Fragestellung. Indem sie den Schwerpunkt auf die Lexis und die meist noch wenig beachtete Opsis legt (vgl. etwa die optische Einführung zum ersten Akt: "Der Akt spielt auf einer Piazza an einem der Tore Jerusalems; diese Piazza ist von durchgehenden Fußgängern belebt ...", 180), versteht sie es, einen größeren Teil des Michabuches in seinem Gesamtzusammenhang (Plot) neu zu lesen und zu veranschaulichen. So birgt diese Zugangsweise gerade für den katechetischen Bereich sicherlich mancherlei Chancen. Dennoch wirft die Lektüre des Buches einige grundlegende Fragen auf. Gerade die Anwendung der Elemente Lexis und Opsis auf das Michabuch ist durch das Fehlen der Nebentexte bei weitem nicht so selbstverständlich wie U. vorgibt. So ist ein echter Dialog doch nur an wenigen Stellen und auch dann nur mit viel gutem Willen zu erkennen (vgl. z. B. Mi 2,12, das U. dem Prediger des Volkes in den Mund legen will, 129.188). Meistens hingegen ist das Michabuch - selbst in der Darstellung U.s - Monolog des Propheten. Damit aber fehlt ein wesentliches dramatisches Element. Bei der Opsis braucht man als Leser, wie U. selbst zugibt, viel Phantasie; aber ist nicht gerade dies ein Hinweis, dass es mit der angeblich vorausgesetzten Opsis gar nicht so weit her ist, wie der Verfasser meint? Dass trotz der von U. vertretenen Auffassung, das Michabuch sei wahrscheinlich niemals aufgeführt worden, dennoch beim Begriff "Drama" auch beim Autor (wie beim Leser) unwillkürlich die Vorstellung eines Theaterstücks assoziiert wird, zeigt sich auf S. 186, wo U. als Regieanweisung schreibt: "Micha spricht alleine von der vorderen Bühne aus zum Publikum ..." (kursiv von mir).

Ein zweites Problem liegt m. E. im Ausklammern der literarkritischen bzw. redaktionskritischen Fragestellung. So kommen literarische Brüche - z. B. Mi 2,12 ff. - zu wenig in den Blick und werden allzu schnell für die von U. postulierte Lexis und Plot vereinnahmt (s. o.). Damit aber wird unwillkürlich eine tatsächliche literarkritische Entscheidung getroffen, wenn nicht im Sinn der Einheitlichkeit des Textes, dann doch wenigstens so, dass ein späterer Redaktor ihn im Sinn U.s verstanden wissen wollte. Dann aber kommt man um den Schluss nicht herum, dass letztlich jener der eigentliche Autor des (heutigen) Dramas ist, denn ohne seinen Beitrag würde der Plot doch empfindlich gestört. Was aber ist dann mit einer früheren "dramatischen" Fassung des Michabuches?

Trotz der genannten Einschränkungen handelt es sich in jedem Fall um eine lesenswerte und anregende Monographie, so dass man den angekündigten Michakommentar des Vf.s mit Spannung erwarten darf.