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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1009–1012

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ruwe, Andreas

Titel/Untertitel:

"Heiligkeitsgesetz" und "Priesterschrift". Literaturgeschichtliche und und rechtssystematische Untersuchungen zu Leviticus 17,1-26,2.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XI, 409 S. gr.8= Forschungen zum Alten Testament, 26. Lw. DM 178.-. ISBN 3-16-147130-X.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Die vorliegende Betheler Dissertation wurde von Frank Crüsemann betreut. Auch der Einfluss des Korreferenten Christof Hardmeier ist spürbar, von dem die hermeneutische Theorie der "Kommunikationsebenen" (vgl. BZAW 187, 63-65) übernommen wurde.

Die gesamte Arbeit ist von einem starken Strukturierungswillen beherrscht, der den methodischen Ansatz von Anfang bis zum Ende charakterisiert. Das zeigt sich bereits bei einem Blick auf das Inhaltsverzeichnis: Nach der Einleitung (1-35), die mit Aussagen über die "zentralen Fragestellungen" der Untersuchung beginnt - in Wirklichkeit handelt es sich um Aussagen über die zu erzielenden Ergebnisse - und einen Überblick über die bisherige Forschung enthält, wird in einem ersten Teil (39-127) "Die Gesamtstruktur des Heiligkeitsgesetzes im Rahmen des priesterlichen Textbereichs" in den Blick genommen. Erst danach (Zweiter Teil: "Das Heiligkeitsgesetz nach seinen Rechtssatzabschnitten", 129-368), folgt eine Exegese der einzelnen Abschnitte. Methodisch geht der Vf. aber auch hier ähnlich vor: "Nicht der einzelne Rechtssatz, sondern letztlich die Abschnitte, deren Bestandteile die Rechtssätze sind, müssen als interpretationsrelevant gelten." Dabei ist die Voraussetzung: "Aufgrund der aufgezeigten strukturellen Geschlossenheit von 17, 1-26, 2 ist mit einer hohen systematischen Kohärenz des Heiligkeitsgesetzes im ganzen und in seinen Abschnitten zu rechnen" (131). Bewusst wurde im ersten Teil "die Frage nach der literarischen Homo- bzw. Heterogenität des Heiligkeitsgesetzes unberücksichtigt gelassen" (132). Der Vf. rechnet, wie er ausdrücklich bemerkt, durchaus damit, dass die Texte literarisch mehrschichtig sind. Aber nicht diese Vorgeschichte, sondern die Gesamtstruktur des Textes ist interessant, und sie ist nach dem Vf. von einer "kompositionellen Stringenz ... im ganzen" (133), die im ersten Teil nachgewiesen zu haben er überzeugt ist. Das deduktive Verfahren, das mit bestimmten Prämissen einsetzt und sie zunächst an breiten Textzusammenhängen verifiziert, ehe die Einzeltexte näher in den Blick genommen werden, ist durch diese Vorgehensweise bedingt.

Schon die Einteilung der Forschungsgeschichte in eine ältere und eine neuere Periode (Einleitung 2.1. und 2.2), wobei die Grenze zwischen den dezidiert formgeschichtlich orientierten und den andere Wege einschlagenden Untersuchungen gezogen wird, legt die Marschrichtung fest. Wenn dies de facto bedeutet, dass formgeschichtliche Gesichtspunkte für das Urteil keine Rolle mehr spielen - mit konkreten Auswirkungen auf das Ergebnis -, ist dies zu bedauern. Die Vorgänger, auf die der Vf. sich beruft, sind statt dessen vor allem E. Blum mit dessen "Kompositions"-modell (BZAW 189), der Lev 17-26 als integralen Bestandteil in die priester(schrift)liche Kompositionsschicht "KP" einordnet (vgl. 20-22), und in geringerem Maße F. Crüsemann (vgl. 23 f.). Nach Abweisung entgegenstehender Theorien erklärt der Vf., dass er von dieser These ausgehen will. "Sie soll auf ihre Gültigkeit und ihr hermeneutisches Potential hin untersucht werden" (33).

Der Großräumigkeit einer solchen Ausgangsposition entspricht das methodische Vorgehen (vgl. 33-35): Begonnen wird mit einem Gesamtüberblick über die priesterschriftliche Sinaigeschichte Ex (19,1 f.*)24,15b-Num 10,10*, unter der Voraussetzung, dass diese einen umfassenden Erzähltext bildet, dem eine zentrale Thematik zugrundeliegt, mit der Lev 17-26 zusammenhängen könnte. Die zweite, wichtigere Frage ist die nach einer Gesamtintention des Heiligkeitsgesetzes [H]. Der Vf. gibt zu, dass eine gesicherte Aussage darüber erst nach Analyse aller Teile von Lev 17-26 möglich wäre, hält aber doch - methodisch für ihn konsequent - einen Vorgriff darauf für nötig und möglich. Absicht ist, "ihre Systematik und Intention aus der Analyse der Makrostruktur dieser Texte induktiv zu erschließen" (35), wobei von den Gliederungsmerkmalen ausgegangen werden soll.

Für die Gesamtthematik von Ex 24,15b-Num 10,10* referiert der Vf. zunächst Blums Darstellung (40-44), über den er allerdings im Aufweis der Einbindung von H in das "narrative Gefälle der priester(schriftlichen) Sinaitexte" noch hinausgehen will (45). Dabei steigt der Vf. bei dem Text Lev 9,1-10,20 ein, in dem er besonders die beiden Redeszenen (vor allem 10,10 f.) am Schluss hervorhebt, in denen es um eine "Ethisierung der dwbk-Konzeption" (45) gehe. Nun meint der Vf., die beiden priesterschriftlichen Großkomplexe Lev 11-15 und 17-26 nähmen genau die hier enthaltene Forderung der Unterscheidung zwischen "Heilig" und "Profan" sowie "Rein" und "Unrein" auf, so dass der Gesamtbereich Lev 11-26 die durch diese Gegensatzpaare bestimmte Ethik aufweise. "Das Heiligkeitsgesetz ist insofern narrativisch konkret in der priester(schrift)lichen Sinaigeschichte verankert und muß als ein integraler Teil des priesterlichen Textbereichs angesehen werden" (52).

Im folgenden Abschnitt (Kap. 2, 53-78) versteht der Vf. H als einen narrativ strukturierten Text (obwohl er zugibt, dass die narrative Struktur "denkbar schmal", 54, nämlich auf die Redeeinleitungen beschränkt sei). Nach Hardmeier (BZAW 187, 63-67) sind dies die "kommunikationsbezogenen Gliederungsmerkmale", während "geschichtenbezogene" fast fehlen. Der Vf. glaubt vier Grundformen von Redeeinleitungen feststellen zu können, die er als Anzeiger von Gliederungsebenen interpretiert.

Bei der sich daraus ergebenden Makrostruktur von H (Kap. 3, 79-89, Schaubild S. 89) fällt auf, dass Lev 26, 3-45 (anfangs, 80, mit charakteristischer Unsicherheit, noch als Schlussparänese entweder des Heiligkeitsgesetzes selbst oder eines größeren priesterschriftlichen Textbereiches bezeichnet), unter den Tisch fällt, so dass 26, 1 f. als Schlussbestimmungen hervortreten (fehlen im Schaubild!). Über die weitreichenden Konsequenzen s. u.! Im Ganzen entstehen zwei in sich wiederum untergliederte Hauptteile: 17,1-22,33 und 23,1-24,9; 24, 13+15-22; 25,1-55. In Teil I bilden 17,1-16 und 22,17-33 einen Rahmen um zwei einander gegenüberstehende Komplexe 18,1-30; 19,1-37 (allgemeine Heiligkeit), dazu Sanktionsbestimmungen 20,1-27; außerdem Vorschriften für die Priester 21,1-22,16. In Teil II sind Abschnitte zu den Festen (23,1-24, 9) und zu den "heiligen Zeiten" (25,1-55) Hauptbestandteile; Sanktionsbestimmungen (ohne direkten Kontextbezug; 24,13+15-22) stehen im Zentrum.

Die Bestimmung der "Basisthematik" von H (Kap. 4, 90-120) fällt dem Vf. schwer. Für den zweiten Hauptteil: Bei dem Festkalender 23,1-43 und dem Sabbat-Jobeljahrkomplex 25,1-55 ist die Sabbatvorstellung als Hintergrund noch leicht zu finden. Für den ersten Hauptteil wählt der Vf. einen merkwürdigen Umweg: Er betrachtet 26,1 f. als "Unterschrift" von H (98ff.) und sieht hier neben dem Sabbatmotiv in V. 2a als Thematik des zweiten Hauptteils die Aussage "das Heiligtum zu fürchten" in V. 2aß als Hinweis auf das Thema des ersten Hauptteils (102 f.).

Um eine literaturgeschichtliche Einordnung von H zu finden (Kap. 5;121-127) geht der Vf. weiter den Stichworten "Heiligtum" und "Sabbat" nach. Ein kompositionsbezogenes Miteinander beider Themen findet er in den priesterschriftlichen Heiligtumstexten Ex 25,1-31,11 und 35,1-39,43. Zwischen den Bauanweisungen für das Zeltheiligtum und den entsprechenden Ausführungsbestimmungen seien die Sabbatgebotstexte Ex 31, 12-17 und 35,1-3 "strukturell geschickt" eingefügt (123) und bildeten mit den beiden Heiligtumsteilen einen Rahmen um die vorpriesterschriftliche Erzählung vom "goldenen Kalb" (Ex 32, 1-34,35). (Andererseits lässt der Vf. die Frage offen, ob die Sabbattexte im Zusammenhang, wie meist angenommen, sekundär sind [123, Anm. 7].) Daraus wird die weitreichende Folgerung gezogen, dass die priester(schrift)liche Heiligtumskomposition wie H von den Institutionen "Sabbat" und "Heiligtum" bestimmt sei (124). Wieder trägt die Spekulationsfreude den Vf. noch einen Schritt weiter: Über die gemeinsame Funktion von Sabbat und Heiligtum als nach priester(schrift)licher Auffassung der Gemeinschaft zwischen Gott und Israel dienende Institutionen werde das Heiligtum auch als die Schöpfung partiell restituierender Ort aufgefasst (dazu auch 4.2.2.1). Erneut gibt der Vf. ehrlicherweise zu, dass dieser Gedanke in den priester(schrift)lichen Sabbattexten nirgends ausdrücklich ausgeführt werde. Aber der Einbezug des Landes in die Sabbatobservanz in Lev 25,4 f. lasse ihn unterstellen!

Im zweiten Teil der Arbeit folgt noch eine kommentierende Einzeluntersuchung der Texte. Hier wären noch manche Fragen zu stellen, z. B.: Ist die Aussage, dass die Bestimmungen in 20,2aß-27 die Prohibitive aus 18,2 ff. und 19,2 ff. (im Hinblick auf die Sanktionen) aufgriffen und "reformulierten" (228 u. ö.), mit der Erkenntnis vereinbar, dass die jetzige Form von H auf ältere Teilsammlungen zurückgeht (133)? Der Vf. verzichtet auf Literarkritik, da diese nicht zum Ziel geführt habe, aber auch auf Formgeschichte. Dann wäre nämlich auch zu hinterfragen, ob H tatsächlich als integrierender Bestandteil der priester-(schrift)lichen Erzählung nachzuweisen ist. Wie angedeutet: Der narrative Charakter ist schwach entwickelt (auf die Einleitungsformeln beschränkt, denen man eine klassifizierende Absicht durchaus zuschreiben kann). Und erwägenswert bleibt weiter, ob nicht Lev 26,3-46 weiterhin als Schlussparänese eines gesonderten Korpus H anzusehen ist, zumal die Form Dt (27) 28 und andeutungsweise auch Ex 23,20-33 entspricht. Die Diskussion um das "Bundesformular" mag lange zurückliegen- aber ob sie es wert ist, vergessen zu werden?

Im Ganzen ist dies eine diskussionswürdige Arbeit, doch der Eindruck ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass sie methodisch teilweise zu eingleisig verfährt und mehr Ergebnisse behauptet, als sich überzeugend nachweisen lassen.