Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1004–1007

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Baltzer, Klaus

Titel/Untertitel:

Deutero-Jesaja. Kommentar zum Alten Testament.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1999. 680 S. gr.8 = Kommentar zum Alten Testament, X,2. Lw. DM 220,-. ISBN 3-579-04291-2.

Rezensent:

Antje Labahn

Der Münchener Alttestamentler Klaus Baltzer legt nach verschiedenen Einzelstudien zu Jes 40-55 nunmehr einen monumentalen und innovativen Kommentar des Deuterojesajabuches vor, der bei der Auslegung der sechzehn Kapitel neue Wege in der Forschung beschreitet.

Jes 40-55 begreift B. als ein "liturgisches Drama" in sechs Akten mit Prolog und Epilog. Hatte zuvor John D. J. Watts das gesamte Jesajabuch (Jes 1-66) als ein Drama in zwölf Akten mit einzelnen Szenen unterteilt (WBC 24+25, 1985/87), so ist die Einzelbehandlung von Jes 40-55 als liturgisches Drama, wie sie B. akribisch betreibt, davon abzurücken. Zwar unternimmt B. wie Watts eine synchrone Analyse, doch beschränkt er sich auf Jes 40-55, und es überrascht, dass er nur wenig Verbindungen zum gesamten Jesajabuch aufzeigt. Damit isoliert sich B. von Tendenzen der Forschung am Jesajabuch, die zunehmend das Ganze in den Blick nimmt und nach buchübergreifenden Linien fragt sowohl bei synchronen Analysen als auch dann, wenn eine separate Entstehung von Einzelteilen angenommen wird (z. B. H. G. M. Williamson, The Book Called Isaiah, 1994). Dies wäre z. B. bei den Worterklärungen, den theologischen Aussagen zum Zion und Jahwe als dem Heiligen Israels, aber auch bei den identischen Spruchformeln in Jes 1,20; 40,5; 58, 14 zu erwarten.

Als Ort der Aufführung des liturgischen Dramas denkt B. an eine gottesdienstliche Veranstaltung. Jes 40-55 wird zu einer ",Festrolle' für den Festleiter" (38), die zum siebentägigen Passah-Mazzotfest am Südostabhang Jerusalems aufgeführt worden sein soll, wobei jedem Tag des Festes sowie dem Vorabend ein liturgischer Akt zugeordnet wird. Belebt B. die alte These, die Dtjes als Kultpropheten begreift (z. B. Westermann, von Waldow), wieder, so variiert er sie einerseits dadurch, dass er Dtjes in Jerusalem tätig sieht, und andererseits, indem er die Entstehung von Jes 40-55 in die zweite Hälfte des 5. Jh.s rückt (auf Grund von Parallelen zum Nehemiabuch, dessen Frühdatierung er gegen den Hauptstrom der Forschung voraussetzt, und der Identifikation der Knechte in Jes 40-55 mit dem erneuerten Israel, 57 f.; s. a. 398-400.409 f.).

Als Parallelen für die Interpretation von Jes 40-55 als liturgischem Drama verweist B. auf die antike Literatur; neben Beispielen aus Babylonien, Ägypten und der Exagoge des Tragikers Ezechiel (einem jüdischen Drama aus hellenistischer Zeit, das fragmentarisch bei Euseb von Caesarea überliefert ist) zieht er vor allem attische Dramen (z. B. Aischylos, Die Perser; vgl. 375 u. ö.) sowie Komödien zum Vergleich heran (30-38). Für Jes 40-55 erachtet er eine ansonsten nur ansatzweise und wohl spät belegte Mischgattung aus Drama und Komödie für relevant. Den Elementen der Komödie ordnet B. vor allem die ironischen Passagen über die Anfertigung von Götzenbildern (z. B. Jes 46,9-20) zu. Auf Grund der Gattung bestimmt er den Aufbau des Buches mit Prolog (Jes 40,1-31) und Epilog (Jes 55,1-13), gegliedert in Szenen, Akte und Chorlieder (36).

Zur Strukturierung des Textes, den B. weitgehend als synchrones Gesamtwerk mit nur vereinzelten Ergänzungen für spätere Aufführungen betrachtet, dienen in erster Linie die Hymnen. Damit knüpft er an ältere Beobachtungen zu den Hymnen als gliedernde Strukturmerkmale an (zuletzt U. Berges, Das Buch Jesaja, HBS 16, 1998, 333 u. ö.). Bisher sind die Hymnen aber nicht nach dem Muster antiker Dramen als vom Chor dargebrachte Lieder begriffen worden. Nimmt B. diese Aufführungspraxis wie selbstverständlich an, so muss er die musikalische Gestaltung gleichwohl als Vermutung kennzeichnen (43). Die Hinweise, aus denen B. solches erschließen will, sind nicht immer nachvollziehbar; sie verdanken sich Doppelungen im Text, die man auch als Hinweis auf ein Textwachstum interpretieren könnte (z. B. 100). Auch sind nicht alle von B. als Hymnen bezeichnete Texte unproblematisch als solche anzusehen. Dies gilt etwa für Jes 40,12-17, das sich als mehrschichtig gewachsenes Stück zeigt, das formal uneinheitlich ist und unterschiedliche Themen im Blick auf Jes 40-55 insgesamt anspielt.

In Jes 40,6 findet B. mit der Redeeinleitung "eine der seltenen Regieanweisungen" (90, s. a. Jes 44,11; 47,4; 48,14, S.254. 371 f.), von denen der Leser des Deuterojesajabuches mehr erwarten würde, wenn das Ganze denn in der Tat als ein liturgisches Drama aufzufassen wäre. Geht B. angesichts der vorzustellenden Aufführung des Dramas von vielen verschiedenen Sprechern aus, so gelingt es ihm damit, ein Erklärungsmodell für die in Jes 40-55 zahlreich anzutreffenden Personenwechsel zu entwickeln, indem er diese unterschiedlichen Auftrittsszenen und Darstellern zuweist (vgl. zum Überblick das zehnseitige Inhaltsverzeichnis für die Kommentierung, 9-18).

Keineswegs überzeugend muten B.s Annahmen zur musikalischen und mimischen Gestaltung sowie zum Tanz an, die er etwa aus Tonhöhen und Klangreihen in Wortendsilben erschließt (z. B. 123.148.270 f.300). Anzufragen wäre, ob für die sprachliche Gestalt des Textes die von B. genannten szenischen Implikationen vorauszusetzen sind oder ob nicht vielmehr inhaltliche Differenzen als Indizien für sukzessives Wachstum anzusehen sind.

Hier fügt sich auch die formale Beobachtung ein, dass im Deuterojesajabuch viele kleine Einheiten anzutreffen sind, die eine ausgeprägte formgeschichtliche Diskussion evoziert haben (z. B. Mowinckel, Greßmann, Köhler, Elliger). Indem B. die kleinen Einheiten als Unterabschnitte größerer Teile begreift, kann er ältere formgeschichtliche Beobachtungen in sein Konzept integrieren.

Die Zusammenstellung zu größeren Abschnitten (= Akte) ist jedoch nicht immer ganz einsichtig. So verwundert es, wenn B. auf Grund des Umstandes, dass hier alle wichtigen Themen des Buches angeschlagen werden, den Prolog bis zum Ende von Kap. 40 reichen sieht (vgl. 77). Inwiefern dies dazu berechtigt, die Gattung Prolog über V. 11 hinausreichen zu lassen, ist damit jedoch noch nicht ausgemacht. Auch ist es problematisch, die Abschnitte der ausgesprochen scharfen Götzenpolemik im Jesajabuch (z. B. 40,18-20), die die Existenz anderer Götter bestreitet und nicht nur deren Ohnmächtigkeit herausstellt, auf einer Ebene mit dem Rest des Buches zu sehen. Fraglich ist es auch, wenn B. das Ende des Imperativgedichts in Jes 52,11 f. als Auftakt des sechsten Aktes begreift, anstatt die Verse dem vorhergehenden Imperativgedicht Jes 51,9 ff. hinzuzurechnen. Auch die Abgrenzung des vierten Aktes in 46,1-49,13 über "Babels Niedergang" ist im Blick auf Jes 48 und 49, die andere Themen anschlagen, fraglich, selbst dann, wenn man 49,13 als strukturgebenden Hymnus bestimmt.

Versteht B. manche Eigenheit des Deuterojesajabuches im Lichte der These vom liturgischen Drama, so führt dies gleichwohl zu einer Reihe gezwungener Annahmen, die diesen Vorschlag zweifelhaft erscheinen lassen. Einige ausgewählte Beispiele mögen dies erläutern.

Nicht unproblematisch ist die starke Hervorhebung der Mosegestalt. Zwar spielen Exodusmotive in Jes 40-55 wie auch die Erzväter und die Schöpfung eine wichtige Rolle, doch sind diese nicht mit Mose verbunden, sondern zeigen eine Analogie zwischen dem Auszug aus Ägypten und dem Auszug aus Babel. Mose selbst spielt im Buch jedoch keine Rolle und ist auch nicht von anderen Motiven her eintragbar. Anders betont B. Mose in zweierlei Hinsicht. Einmal identifiziert er ihn auf Grund einer biographischen Deutung der Ebed-Jahwe-Lieder mit dem Gottesknecht (44f. 171-186 u. ö.), dessen Erscheinung in der Totenklage auch liturgisch dra-matisiert wird. Zum anderen sieht B. hinter der Nennung des Torabegriffs an allen Stellen Mose mitgenannt. Dies ist jedoch problematisch, da ein legislativer Kontext in Jes 40-55 nicht zu erkennen ist, vielmehr weisheitliche Konnotationen oder Bezüge zu Jes 1-39 auszumachen sind (z. B. 42,21, vgl. A. Labahn, Wort Gottes, BWANT 143, 1999, s. Register, insbesondere 109-119.123 f.219 f.).

Die Völkerwelt gerät in dem Kommentar von B. eher knapp in den Blick. Entscheidend ist das Verständnis der Inseln und Nationen, die er mit den griechisch sprechenden Ländern der Mittelmeerküste Kleinasiens identifiziert (129 u. ö.). Diese Deutung ist aber zu speziell und engt die Weite des Deuterojesajabuches zu sehr ein, stehen doch die Inseln und Völker für eine weltweite Perspektive, die das Verhältnis der anderen Völker zu Jahwe in verschiedenen Anläufen durchdenkt.

Es passt zur semantischen Komplexität der hebräischen Sprache, für die gerade auch das Dtjes-Buch berühmt ist, dass B. an Mehrfachbedeutungen von Begriffen festhält. Allerdings lässt dies die Lektüre zuweilen, wenn mehrere durch Schrägstriche getrennte Varianten zugleich geboten werden, mühsam und die Übersetzung profillos erscheinen; dies ist beabsichtigt, da B. mehrere Interpretationsebenen damit herausstellen will (z. B. 131.144.169.465.487.546 f.567.594 f.597.604.612).

Auffällig an dem Kommentar ist, dass B. die Gottesaussagen in Jes 40-55 als Soziomorpheme kennzeichnet, insofern gesellschaftliche Beziehungen das Verhältnis von Gott und Mensch widerspiegeln sollen (62 f.144.546 f.560).

Etwas knapp fällt der forschungsgeschichtliche Einleitungsteil aus, der neuere Arbeiten zur Redaktionsgeschichte gänzlich außer Acht lässt und synchrone Fragestellungen nur unter der Rubrik "Formgeschichte" kurz streift. Dies spiegelt sich auch im exegetischen Teil wider. Wer hier genauer informiert werden möchte, muss forschungsgeschichtliche Überblicke der neueren Monographien zu Jes 40-55 zu Rate ziehen.

Die einzelnen Interpretationen vermögen nicht immer ganz zu überzeugen. Fremdartig ist z. B. der Gedanke, dass ein großer Teil des liturgischen Dramas in der Unterwelt spielen soll. Anregend und weiterführend sind die Untersuchungen zu einzelnen Begriffen (z. B. 81 f.122 f.133 f.146.173 f.549 f.). Allerdings werden diese nur zu ausgewählten Themen dargeboten, die im Rahmen der Gesamtthese und auf der Buchebene relevant sind. So vermisst man etwa eingehendere Betrachtungen zu für Jes 40-55 wichtigen Aspekten wie Vergebung, kabod, h.äsäd und ruach Jahwe (so z. B. zu 40,1-9; der Geist wird allerdings später zu Jes 42,1 näher betrachtet, 173.184 f.). Auch wenn der Leser oder die Leserin des Kommentars die Grundentscheidungen nicht teilt, bietet der Kommentar viele Anregungen. In den Kommentierungen der Einzelverse finden sich interessante Beobachtungen, obwohl diese natürlich vom Gesamtverständnis mit geprägt sind.