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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1248–1250

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Witsch, Norbert

Titel/Untertitel:

Glaubensorientierung in "nachdogmatischer" Zeit. Ernst Troeltschs Überlegungen zu einer Wesensbestimmung des Christentums.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius 1997. 311 S. gr. 8 = Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien, 65. Lw. DM 128,-. ISBN 3-87088-945-4.

Rezensent:

Karsten Lehmkühler

Den Anlaß zu der von W. Kasper angeregten, von P. Hünermann und B.-J. Hilberath betreuten Tübinger Dissertation bildet "die Krise, in welche heute die traditionellen Formen der Orientierung über den Glauben geraten sind" (10). Der Vf. stellt fest, traditionelle "Formeln und Kategorien" der Artikulation des Glaubens seien nicht in der Lage, "dem heutigen Menschen und dessen Bedürfnissen ... zu entsprechen" (10 f.).

Angesichts solcher postulierten Vermittlungsschwierigkeiten hatte schon Karl Rahner 1967 die Forderung nach einer "Kurzformel" des christlichen Glaubens gestellt. Der Vf. greift dieses Desiderat auf und fragt ausdrücklich nicht nach dem Inhalt einer solchen Formel, sondern nach den methodischen Möglichkeiten ihrer Gewinnung (19). Zu diesem Ziel untersucht er die Position Ernst Troeltschs, die dieser anläßlich der Debatte um Harnacks "Wesen des Christentums" dargelegt hat. Der Aufbau der Untersuchung ist ausgesprochen klar und leserfreundlich. Regelmäßige Zusammenfassungen und Hinführungen halten den roten Faden, die Frage nach der Möglichkeit einer Wesensbestimmung des christlichen Glaubens und deren Normativität, ständig im Blick.

In einem ersten Teil (A) werden drei von Troeltsch zurückgewiesene "Modelle religiöser Normierung" vorgestellt, die nach Troeltsch alle an einem falschen Verhältnis zur konkreten Geschichte scheitern: Während der Supranaturalismus die Autorität einer eigenen Heilsgeschichte rein formal, aufgrund von Offenbarung, postuliere und so die prinzipielle Analogie alles Geschichtlichen mißachte, begehe der Rationalismus den Fehler, starre Vernunftwahrheiten zu proklamieren, die die bunte geschichtliche Vielfalt nicht einholen könnten. Der Idealismus schließlich sei mit dem Gedanken einer Entwicklung des Wesens auf dem richtigen Weg, ließe aber diese Entwicklung mit logischer Notwendigkeit ablaufen und konstruiere sie so ebenfalls an der konkreten Geschichte vorbei. Zu suchen sei daher eine normative religiöse Orientierung, die aus der Geschichte selbst erst gewonnen werde, die also "rein historisch" sei.

Zunächst müssen einige Voraussetzungen des frühen Troeltsch, das Verständnis von Geschichte und Religion betreffend, beschrieben werden (B). Entscheidend ist dabei, daß Troeltsch die Religion als einen eigenen Bereich des menschlichen Geisteslebens behauptet und von der metaphysischen Annahme eines Wirkens Gottes im menschlichen Geiste ausgeht. Ferner führt Troeltsch für die geschichtliche Entfaltung dieser religiösen Anlage den Begriff des "religiösen Prinzips" ein. Dieses entwickelt sich in der Geschichte von einer Keimgestalt zur vollen Entfaltung weiter ("germinative principle", 102).

Die beiden folgenden Teile (C, D) bilden das Kernstück der Untersuchung, sie sind ein großer Kommentar des Aufsatzes "Was heißt ’Wesen des Christentums’", den Troeltsch zum ersten mal 1903 veröffentlicht und in starker Überarbeitung in den zweiten Band der "Gesammelten Schriften" aufgenommen hat. Der Vf. folgt diesem Aufsatz bis in die Überschriften seiner Dissertation hinein, was zu einer klaren und angemessenen Analyse, allerdings auch zu gelegentlichem Ausblenden wichtiger Diskussionspartner führt. So hätte betont werden müssen, daß gerade Rickert den von Troeltsch geforderten "historisch gewonnene(n) Normbegriff" (140) für unmöglich hielt. Auffallend ist auch, daß weder die Schriften Kants noch die Max Webers zitiert oder im Literaturverzeichnis erwähnt werden.

Wesensbestimmung des Christentums nach Troeltsch heißt nun, "aus der Christentumsgeschichte kritisch ... den in diesen Gestalten sich entwickelnden religiösen Gehalt intuitiv herauszufühlen und zugleich diesen ... Gehalt in einer schöpferischen Tat so mit den Inhalten des gegenwärtigen Lebens und Denkens zu verbinden, daß er als gültige Norm des Glaubens in der eigenen Gegenwart und Zukunft zu dienen vermag" (169). Die beiden Hauptprobleme dieser Aufgabenstellung springen ins Auge: Wie soll ein "intuitives Herausfühlen" gegen jede Willkür gesichert werden? Wie können aus der Geschichte für die Geschichte gültige Normen destilliert werden? Zur ersten Frage stellt der Vf. erfreulich deutlich dar, wie Troeltsch hier einen eigenen Stand des "historischen Meisters" bemüht, also eines Historikers, der neben wissenschaftlicher Qualifikation auch den moralischen Standard einer "religiös-ethisch durchgearbeitete(n) Persönlichkeit" (154 f.) erfüllen muß. Solchen Meistern wird die Aufgabe der intuitiven Wesensschau als einer schöpferischen Tat übertragen, die gläubige Masse wird ihnen folgen. Der Vf. sieht, daß damit "diese Persönlichkeiten ... der Menge der Gläubigen als die neuen religiösen Autoritäten" (265) gegenüberstehen (vgl. 276 f.). Letztlich kommt dies einer fatalen Entmündigung der Gemeinde gleich.

Dem zweiten zentralen Problem, der Gewinnung von Normen aus der Relativität des Historischen, ist ein eigener Teil (D) gewidmet. Neben Ausführungen zum "religiösen Apriori" referiert der Vf. hier die Frage nach der Subjektivität und Relativität solcher Wesensbestimmungen. Troeltsch kann neben dem religiösen Apriori, das ja selbst keine Glaubensinhalte liefert, nur auf das gründliche Studium der konkreten Religionsgeschichte verweisen. Leider nur in einer Fußnote merkt der Vf. hierzu an: "Der Glaubenscharakter des Supranaturalismus ist damit nicht prinzipiell überwunden, sondern nur durch einen anderen - mit der Wissenschaft eher ’kompatiblen’ - Glauben abgelöst" (217).

Auch die Frage, inwieweit eine neue Wesensbestimmung noch in Kontinuität mit der christlichen Tradition stehe, kann von Troeltsch nur durch die unmittelbare Gewißheit des Forschers beantwortet und ansonsten dem Urteil der Zukunft überlassen werden. Eine kirchliche Entscheidung ist hier, so sieht der Vf. richtig, kaum mehr möglich, der Begriff der Häresie ist abgeschafft. In der Anrufung des Urteils der Zukunft wird vom Vf. zu Recht die Gefahr eines "Geschichtsdarwinismus" erkannt, "welcher das Wahre vorschnell mit dem sich faktisch Durchsetzenden und insofern historisch Stärkeren zu identifizieren bereit ist" (223).

Mit diesem Ansatz ergeben sich ekklesiologische Folgerungen (E). Troeltsch versucht, das moderne Individualitätsprinzip mit dem Kirchengedanken dergestalt zu verbinden, daß die Kirche soziologisch als der jedem vorgegebene Lebenszusammenhang verstanden wird, während innerhalb dieses Raumes die Pluralität der Positionen geradezu erwünscht ist. Kultus und Dogma gehören dabei in den äußeren und variablen Bereich, während ein begrifflich nicht aussagbarer "Gemeingeist" für die Einheit bürgt (256).

Im Schlußteil versucht der Vf., die Frage einer möglichen römisch-katholischen Rezeption dieser Position durch Bezugnahme auf das Zweite Vatikanische Konzil zu beantworten. Ein von Troeltsch vorausgesetztes "doktrinalistisch und konzeptualistisch verengte(s) Verständnis von Offenbarung und Glaube" sei durch ein Offenbarungsverständnis überwunden, das diese als "personale Selbstmitteilung Gottes an die Menschen" (268f.) verstehe.

In der Tat liegt in der Betonung der Einwohnung Gottes der Schlüssel zum rechten Verständnis des christlichen Glaubens, und auch Troeltsch hat als moderner Spiritualist im Schlußteil seiner "Soziallehren" eine solche Einwohnung des göttlichen Geistes behauptet. Allerdings - und dieser entscheidende Aspekt wird vom Vf. nicht gesehen - ist für Troeltsch ein solcher Spiritualismus wesentlich gekennzeichnet durch Ablehnung aller äußerer Mittel der Einwohnung. Dagegen hätte der Vf. unter Berufung auf eben das Zweite Vatikanum die Bindung der Selbstmitteilung Gottes an die Heilsgeschichte und sein Wort (Dei Verbum, Art. 2) und an die Sakramente (Lumen Gentium, Art. 7) betonen müssen. Freilich wäre dann deutlich geworden, daß der Hiatus zwischen dem Entwurf Troeltschs und einer an Bibel und Tradition orientierten römisch-katholischen Theologie nicht etwa Einzelfragen, sondern gerade die Fundamente des kirchlichen Lebens betrifft. So führt der Vf. auch in seinen Schlußüberlegungen die Schrift, die Tradition und das Lehramt als in aller Pluralität bindende und normative Instanzen wieder ein, die auch für die Theologie und den "sensus fidei" des einzelnen Gläubigen verbindlich sind. Von Troeltsch kann unter diesen Prämissen dann nur noch gelernt werden, daß "Fragen und Bedürfnisse der Gläubigen in der jeweiligen Zeit ...) in die konkrete Formulierung des Glaubens konstitutiv miteingehen müssen" (293).

Troeltsch hat die "historische Methode" als eine Weltanschauung verstanden, die in radikalem Gegensatz zur "dogmatischen Methode" mit ihrer Behauptung übernatürlicher Offenbarung stehe. Sie führte ihn zur Aufgabe zentraler Dogmen der Christenheit, insbesondere zu einer Verneinung der klassischen Christologie und Soteriologie. Der Vf. verwischt diesen grundsätzlichen Dogmenkonflikt, wenn er meint, im Sinne Troeltschs die Glaubensüberlieferung von "supranaturalistischen" Normen lösen, sie aber zugleich auch an die Bekenntnisse binden zu können. Diese Meinung, mit der er, über die Grenzen der Konfessionen hinweg, sicherlich nicht allein steht, hat die Lektüre seines Buches allerdings nicht bestätigen können.