Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

1000–1003

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Zander, Helmut

Titel/Untertitel:

Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute.

Verlag:

Darmstadt: Primus 1999. 869 S. gr.8. Lw. DM 128,- ISBN 3-89678-140-5.

Rezensent:

Reinhart Hummel

Dieser voluminöse Band (allein 190 Seiten Anmerkungen mit reichhaltigen Literaturangaben!) stellt in mehrfacher Hinsicht einen Meilenstein dar. Frühere Veröffentlichungen über dieses Thema waren weithin von der weltanschaulichen Kontroverse bestimmt. Autoren aus dem theosophisch-anthroposophisch-christengemeinschaftlichen Lager wie Emil Bock konzentrierten sich auf die Suche nach Belegstellen für ein vorgegebenes einheitliches Konzept, von der Hypothese ausgehend, dass der Glaube an Seelenwanderung zum "uralten" Bestand menschlicher Religion gehöre und nur aus den Quellen erhoben zu werden brauche. (Leider verzichtet die Werbung für Z.s Buch auch nicht auf das irreführende Alters-Argument.) Selten fragte diese Literatur nach der Eigenart der jeweiligen Vorstellung und nach ihrem Stellenwert im Denken des jeweiligen Autors bzw. der Tradition. Die kirchliche Apologetik wiederum hielt dagegen und brachte reinkarnationskritische Literatur unterschiedlicher Qualität hervor, bei der es neben der Auseinandersetzung mit asiatischen Konzeptionen auch um die Auslegung bestimmter Bibelstellen wie Joh 9,1 ff. und um kirchengeschichtliche Ereignisse wie das 5. ökumenische Konzil von 553 ging. Das vorliegende Buch gehört weder der einen noch der anderen Kategorie an, sondern ist um wissenschaftliche Objektivität und Neutralität bemüht und kann mit Interesse von beiden Seiten rechnen.

Z.s Methodik ist kulturwissenschaftlich; es geht ihm darum, "Themen und Traditionen marginaler Religiosität wahrzunehmen und zusammenzustellen" (13) und damit dem Ideal einer "Studie zur Tradition des kulturellen Pluralismus" (14) näherzukommen. Er respektiert die erstaunliche Vielfalt von Vorstellungen, die sich mit Begriffen wie Seelenwanderung, Palingenesie, Metempsychose u. a. m. verbinden und in früheren Zeiten häufig eher mit nachtodlicher, jenseitiger Weiterentwicklung, mit Planetenwanderung und dergleichen zu tun hatten als mit wiederholten Erdenleben. Ferner untersucht er sorgfältig den Stellenwert von Seelenwanderungsvorstellungen im Opus und in der Biografie des jeweiligen Autors. Im Fall Lessing beispielsweise geht er der Frage nach, ob die "Erziehung des Menschengeschlechts" mit ihrer bahnbrechenden Kombination von Fortschrittsglauben und Seelenwanderung wirklich sein letztes Wort in dieser Sache war. (Anwort: Nur ein "biographisches Zwischenspiel".) Hierin liegt ein weiterer Vorzug gegenüber der Mehrheit der älteren Literatur: Z. selektiert nicht, um vorgegebene Hypothesen zu untermauern; er ist um größtmögliche Vollständigkeit, Differenzierung und Unvoreingenommenheit bemüht. Umso überzeugender ist er dort, wo er den gängigen Argumenten westlicher Reinkarnationsbefürworter widerspricht, etwa in der Origenes-Interpretation, in der Einschätzung des Konzils von 553, auch in der Deutung umstrittener Bibelstellen. Gläubige Anhänger der Reinkarnationshypothese werden über das Buch nicht glücklich sein, jedenfalls nicht nach sorgfältiger Lektüre.

Nach seiner gründlichen Spezialuntersuchung von 1995 über Rudolf Steiner und das Thema "Reinkarnation und Christentum", die schon einer ähnlichen Methodik verpflichtet war, bemüht Z. sich jetzt um Vollständigkeit, ohne freilich der Illusion zu erliegen, als Einzelner diesem Ideal gerecht werden zu können. Er schlägt einen großen Bogen, der bei schriftlosen Kulturen sowie asiatischen Religionen einsetzt und über Antike und Mittelalter in die Neuzeit und damit zur "Etablierung einer alternativen Eschatologie" (durch Lessing und seine geistigen Nachfahren) führt. Dabei befindet er sich, soweit ich das als nicht so immens belesener Rez. beurteilen kann, auf der Höhe der Diskussion in den zahllosen Feldern der Forschung. Sogar der erste Teil über die außereuropäische Welt, dem Autor von Hause aus eher fremd, ist auch für den Kenner informativ, selbst wenn er nicht in allen Einzelheiten dem Autor zustimmt. Mit Recht weist dieser darauf hin, dass die frühen mündlichen Kulturen seit dem 19. Jh. zur westlichen Projektionsfolie geworden waren. Der einheitliche Seelenbegriff, den der westliche Seelenwanderungsglaube oft naiv voraussetzt, existierte dort in Wirklichkeit gar nicht (23). Wie schwer die westliche Perspektive zu überwinden ist, zeigt freilich das abschließende Urteil über den Buddhismus: "Wenn die Erlösung radikale Autonomie, also Selbsterlösung fordert, ist der unentwegten Produktion von Karma und dem daraus folgenden Leid nur durch die absolute Negation des Menschen auszuweichen: Durch die Eliminierung des sich selbst erlösenden Subjekts" (45).

Z.s Untersuchungen werfen auch Licht auf die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Seelenwanderungsglauben am Ausgang der Antike. Den Niedergang des Neuplatonismus erklärt er mit der Vermutung, "daß die unmittelbare Verheißung von Erlösung im Christentum gegenüber den langwierigen und zudem unsicheren Erlösungswegen in den neuplatonischen Seelenwanderungskonzepten das attraktivere Programm war" (112). "Zentrale Probleme wie die Identität in den Wanderungen, die schwer kalkulierbaren Möglichkeiten des Ausstiegs oder die Drohung der Verkörperung als Tiere waren mit der christlichen Auferstehungstheorie gegenstandslos, der ferne und unerbittliche Funktionsmechanismus durch das Versprechen eines nahen und mit Zuneigung erlösenden Gottes entmachtet" (118 f.). In der Frage der Vereinbarkeit zwischen Seelenwanderungsglauben und christlicher "Beziehungstheologie" ist Z. skeptisch: "Mit der Aufnahme der Reinkarnationsvorstellung wäre das Christentum eine andere Religion geworden" (152). Die Resistenz des Christentums gegen Reinkarnationsvorstellungen hängt in Z.s Augen mit dessen Weigerung zusammen, den Leib von der Seele zu trennen und den Körper gegenüber einer ätherischen Welt zu relativieren (13).

Immer wieder taucht die Frage nach historischen Abhängigkeiten auf, nach den Quellen beispielsweise der vorsokratischen und platonischen Vorstellungen von Seelenwanderung. Die Hypothese indischer Ursprünge beurteilt Z. angesichts der Quellenlage als unsicher. Vor allem würde sie nicht die Unterschiede zwischen indischen und europäischen Konzeptionen erklären (69). Nach dem Ende der Antike lebten Vorstellungen von Seelenwanderung im Untergrund. Sie finden sich in den mittelalterlichen "Ketzerbewegungen" und haben in der modernen Esoterik oft zur Hypothese einer "geheimen Religionsgeschichte Europas", einer kontinuierlichen häretischen Tradition vom alten Ägypten bis zu R. Steiner geführt. Z. bleibt auch hier skeptisch. Eine historische Kontinuität des Seelenwanderungsglaubens von den Manichäern über die Bogomilen bis zu den Katharern erscheint ihm nach der neueren Forschungslage ungesichert. Überhaupt hält er den Weg der Seelenwanderungsvorstellung aus der Antike ins neuzeitliche Europa zu seinem Bedauern für nicht rekonstruierbar, weder über das Judentum noch über die Katharer (216).

Angesichts so vieler Grenzen, an die die Neugier des Forschers stößt, versteht man die Entdeckerfreude, mit der er auf den Philosophen und Naturforscher F. M. van Helmont und die mit ihm gegebene "Zäsur" verweist. Mit ihm habe im 17. Jh. der Gedanke einer Wiederkehr der Seelen (wenngleich nicht in Gestalt der Reinkarnation) den Weg in die europäische Öffentlichkeit gefunden, nicht zuletzt über die Bekanntschaft mit Leibniz. Dabei knüpfe Helmont an die Gilgul-Überlegungen des jüdischen Kabbalisten Isaak von Luria aus dem 16. Jh. an, dem Z. eine sorgfältige Analyse gewidmet hat (187 ff.). Die Grenzlage christlicher Kabbalisten wie Helmont zwischen Synagoge und Kirche habe die Ohren von Christen für diesen Strang des jüdischen Denkens geöffnet (273).

Z. lässt das neuzeitliche Auftauchen des Seelenwanderungsglaubens aus dem Untergrund, seine Verbindung mit der Fortschrittsidee und seinen Eingang ins europäische Bildungsgut zu Recht mit Lessing beginnen; er beschreibt die vielschichtige Rezeption bei Dichtern und Denkern von Klassik, Romantik und danach (Schopenhauer, Wagner, Nietzsche), ferner in der spiritistischen sowie theosophisch-anthroposophischen Bewegung. Das 20. Jh. lässt er in seiner postmodernen Unübersichtlichkeit stehen. Hier macht sich die Beschränkung auf Europa störend bemerkbar, vor allem wegen der New-Age-Bewegung in den USA und deren Rückwirkungen auf Europa sowie dem höchst lebendigen Spiritismus in Lateinamerika. Auch möchte man gern mehr über die Krise des Fortschrittsglaubens und deren Auswirkung auf das Erbe des Lessingschen Konzepts erfahren, das ja zutiefst mit dem modernen Evolutionismus verbunden war. Der Glaube an Reinkarnation - diesen Begriff hat vielleicht A. Kardec in der Mitte des 19. Jh.s eingeführt (611) - zeigt sich jedoch in sehr unterschiedlichen Gestalten und Niveaus: Im Reformhinduismus, bei deutschen Buddhisten, Nazis, Bhagwan-Jüngern und Scientologen, in Forschung (I. Stevenson) und Therapie (Th. Dethlefsen), in der Reflexion von M. Weber und E. Troeltsch. Die "Popularisierung" von Reinkarnationsvorstellungen hat mittlerweile Buchhandel, Kino sowie Yellow Press erfasst und schlägt sich in Karikaturen nieder, von denen einige zur Erheiterung des strapazierten Lesers wiedergegeben sind.

Die theologische Relevanz der Untersuchung wird in einigen Unterabschnitten angesprochen: Christliche Theologen, sofern sie sich überhaupt für das Thema erwärmen, liefern fast nie reinkarnatorische Gesamtentwürfe, sondern bemühen Reinkarnation nur zur Lösung von Einzelproblemen (582). Überhaupt betont Z., dass die kulturprägende Wirkung dieser Vorstellung in Europa durch das Christentum begrenzt blieb und dass Seelenwanderung hier immer innerhalb der christlichen Tradition zu denken war (13).

Der abschließende Teil steht unter der Überschrift "Reinkarnation im Fokus der historischen Anthropologie" und soll der Untersuchung struktureller Merkmale in Seelenwanderungsanthropologien dienen; faktisch befasst er sich eher kursorisch mit vielen Problembereichen, die in Beziehung zum Thema stehen (Asien - Europa, Gott und Mensch, Kosmologie, Körper, Sterben, Naturwissenschaften usw.). Er macht die Lektüre der historischen Teile nicht überflüssig. Im Anschluss an Ernst Benz, den Altmeister in Sachen Reinkarnation und alternative Religionsgeschichte im Abendland, verweist Z. auf die variable Einsetzbarkeit der Reinkarnationshypothese "als alternative Theodizee oder als Selbstverwirklichung des Menschen, als Metapher für biographische Veränderungen oder als Mechanik des Schicksals" (607). Mit anderen Worten: Dieses anspruchsvolle Werk belegt einmal mehr die alte Erfahrung, dass das Phänomen Seelenwanderung sich simplifizierenden Erklärungsmustern entzieht und in der Vielfalt seiner Facetten wahrgenommen werden muss. Durch dieses Labyrith gibt es derzeit keinen besseren Führer als Z.s neues Werk.