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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

998–1000

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Twardella, Johannes

Titel/Untertitel:

Autonomie, Gehorsam und Bewährung im Koran. Ein soziologischer Beitrag zum Religionsvergleich.

Verlag:

Hildesheim-Zürich-New York: Olms 1999. 427 S. 8 = Religionswissenschaftliche Texte und Studien, 9. DM 98,-. ISBN 3-487-10965-4.

Rezensent:

Andreas Feldtkeller

Der Untersuchung liegt eine klare Fragestellung zu Grunde - und ebenso klare Thesen zu ihrer Beantwortung: Ausgangspunkt ist die von Max Weber gestellte Frage, warum es ausgerechnet in der westlichen Welt zur Herausbildung der Moderne gekommen ist und zu den Rationalisierungsprozessen, die dafür charakteristisch geworden sind; warum dies also nur auf dem Boden von Judentum und Christentum geschah und nicht auch in Gebieten, wo andere religiöse Voraussetzungen gegeben waren. Die negative Seite dieser Frage: "warum nicht woanders?" wird hier für die islamische Welt vertieft und an der Argumentationsstruktur des Korans festgemacht.

Die zentrale These dazu lautet, dass der Islam zwar viele inhaltliche Elemente mit Judentum und Christentum gemeinsam habe, dass diese aber deshalb in der islamischen Welt nicht dieselben gesellschaftlichen Prozesse auslösen konnten wie in der westlichen Welt, weil sie im Koran nach einer anderen Logik miteinander verknüpft seien als in der Bibel, nämlich nach der Logik von "Befehl und Gehorsam". Dies gebe dem Islam insgesamt den Charakter einer "Gehorsamsreligiosität" (19). Die Ausbildung einer autonomen Lebenspraxis, wie sie für die westliche Moderne essentiell ist, habe auf dieser Basis nicht entstehen können. Die These wird anhand einer Reihe von inhaltlichen und formalen Unterschieden zwischen Bibel und Koran begründet. Nur einiges davon sei exemplarisch genannt:

Die prophetische Sprache des Koran hat eine andere Pragmatik als die Sprache der biblischen Prophetie. Muhammad macht sich nicht zum charismatischen Träger einer Botschaft, der mit seiner eigenen Person für deren Erfolg einsteht, sondern er fordert Gehorsam für ein Wort, das beansprucht, unmittelbare Gottesrede zu sein. Muhammad stellt sich dar als jemand, der nur ausführt, wozu er amtsmäßig verpflichtet ist, er weicht dabei dem Problem seiner Glaubwürdigkeit aus durch zirkuläre Beweise dafür, dass das vorgetragene Wort unmittelbare Gottesrede ist. In Entsprechung dazu wird auch das Verhältnis zur Bibel der Juden und Christen so bestimmt, dass sie durch menschliche Eingriffe verfälscht sei, der Koran aber in der Reinheit des Gotteswortes bewahrt worden sei.

Inhaltlich wird die Differenz vor allem an der Erschaffung des Menschen und an seiner Erlösung festgemacht. Die biblische Schöpfungsgeschichte deutet Twardella so, dass die Erschaffung eines autonomen Gegenübers für Gott im Sündenfall zu seinem Ziel kommt: durch die verbotene Frucht erlangen Mann und Frau die Erkenntnis von gut und böse, sie werden "wie Gott", nämlich autonom. In der Gestalt der Paradieserzählung, wie der Koran sie darbietet, ist diese Möglichkeit dagegen nicht enthalten, die Menschen entwickeln sich nicht durch den Genuss der Frucht, sondern sie bleiben heteronom auf Gottes Rechtleitung angewiesen. Die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, wie das Christentum sie aus dem Sündenfall ableitet, wird vom Koran ebenso bestritten wie die faktisch geschehene Erlösung im Kreuzestod Jesu Christi. Damit fehlt dem Koran nach der Analyse des Autors eine weitere Schaltstelle für die Begründung autonomer Lebenspraxis, die im Christentum angelegt ist.

Die Bewährung des Menschen in seinem Erdenleben, die zum Maßstab seiner Beurteilung im Gericht wird, ist im Christentum "offen" konzipiert, darin sind die Möglichkeiten einer Rationalisierung der Lebenspraxis angelegt, wie Max Weber sie als so entscheidend für die gesellschaftliche Entwicklung des Okzident beschrieben hat. Das islamische Bewährungsmodell ist dagegen ein "geschlossenes": Es gibt eine bestimmte Anzahl von Möglichkeiten vor, sich zu bewähren und Heilsgewissheit zu erlangen, zwischen denen Muslime zwar wählen können, die aber nicht zu einer autonom verantworteten Weiterentwicklung moralischen Handelns motivieren.

Die hier vorgelegte Analyse hat zweifellos einigen Wert darin, dass sie in einer klar verständlichen Weise wichtige Unterschiede zwischen Christentum und Islam in den religiösen Grundlagen des moralischen Handelns herausarbeitet. Sie geht dabei jedoch streckenweise zu plakativ vor und ist nahezu blind für die Aporien, die in der okzidentalen Entwicklung menschlicher Autonomie angelegt sind und die nicht zuletzt Max Weber kritisch herausgearbeitet hat.

In der Durchführung hätte der Arbeit mehr Besonnenheit gut zu Gesicht gestanden und weniger Pathos, etwas völlig Neuartiges zu leisten. Details wie das im Text der Einleitung stehen gelassene Rudiment einer früheren Titelformulierung (21f.) erwecken den Eindruck einer etwas fahrigen Endredaktion.

Religionswissenschaftler werden sich nicht gerade in ihrer Wissenschaft ernstgenommen fühlen, wenn sie zu lesen bekommen, die Bedeutungsstruktur von religiösen Texten sei "wesentlich komplexer, als man es sich nicht selten in der Religionswissenschaft vorstellt, die die Texte allein daraufhin befragt, wie das religiöse Erlebnis beschaffen war, das in ihnen zum Ausdruck kommt" (23). Eine solche Aussage weckt gespannte Erwartungen an den neuen Umgang mit der Bedeutungsstruktur religiöser Texte, der hier vorgelegt werden wird. Was dann kommt, trägt den Namen "Sequenzanalyse" und besteht darin, dass der Text in einzelne Sequenzen zerlegt wird. Diese können für sich genommen noch unterschiedlich interpretiert werden, aber die Folge der Sequenzen ergibt eine Selektion der Lesarten: nicht alle sind mit den vorangegangenen kompatibel, "so daß sich in der Reihe der Sequenzen eine bestimmte Interpretation herauskristallisiert" (25).

Dieser Zugriff auf den Text verhält sich zu dem, was man üblicherweise unter Hermeneutik versteht, ungefähr so wie das Schwert Alexanders des Großen zum Gordischen Knoten: Eine befreiende Reduktion von Komplexität tritt dadurch ein, dass der Interpret frei assoziierend vier oder fünf Deutungsmöglichkeiten nennt, die sich dann in der Folge der Textsequenzen in wunderbarer Weise bis auf eine reduzieren, und schon ist Eindeutigkeit im Verständnis eines Textes wieder möglich. Auf einen solchen Lehrmeister haben die deutschen Geisteswissenschaften seit langem gewartet! Zum Glück führt der Autor diese Methode nicht so konsequent durch, wie nach den ersten Anwendungsbeispielen zu befürchten stand.