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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

992–994

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hüttl, Horst

Titel/Untertitel:

Die Sri-Chinmoy-Bewegung im deutschsprachigen Raum. Der Guru Sri Chinmoy: Sein Leben und Wirken. Sein Selbstverständnis und seine Lehre. Seine Bewegung und deren gesellschaftliche Akzeptanz.

Verlag:

Kalsdorf: Selbstverlag Horst Hüttl 1998. VI, 337 S. gr.8. Kart. DM 45,-. ISBN 3-9500991-0-7.

Rezensent:

Johannes Lähnemann

Umfangreichere wissenschaftliche Untersuchungen einzelner neureligiöser Bewegungen sind bisher eine Rarität. Deshalb kann die Dissertation von Horst Hüttl besonderes Interesse für sich beanspruchen, zumal die Sri-Chinmoy-Bewegung in der Öffentlichkeit immer wieder kontroverse Reaktionen hervorruft: Wenn sie einen Weltfriedenslauf organisiert und sich um Beteiligung von Politikern, Sportlern und Religionsvertretern bemüht - oder wenn symbolträchtige Orte - wie die Wiener Prater-Meile oder die Niagara-Wasserfälle - zu "Peace Blossoms" ("Friedensblüten") erklärt werden sollen. Geworben wird mit hochrangigen Persönlichkeiten - wie Mutter Teresa, Mi- chail Gorbatschow, Kurt Waldheim, dem Olympiasieger Carl Lewis, aber auch dem Papst -, die (zumindest verbal) das Friedensengagement des "spirituellen Meisters" Sri Chinmoy unterstützen, der durch seine regelmäßigen Meditationsangebote bei den Vereinten Nationen in New York mit vielen einflussreichen Menschen in Kontakt kommt. Gewarnt wird (vorrangig in Europa) vor allem von kirchlichen Weltanschauungsbeauftragten, die hier eine Guru-Bewegung neo-hinduistischer Provenienz mit sektenhaften Zügen am Werke sehen.

Was hat es mit dieser Bewegung wirklich auf sich? H., selbst katholischer Priester, hat von seinem Doktorvater - Manfred Hutter/Graz - die Anregung bekommen, dass es "für einen Pfarrer doch interessant sein müßte, eine bei uns aktive neue religiöse Bewegung zu erforschen und das sich dadurch ergebende pastorale Spannungsfeld auszuloten" (6).

Dieser Aufgabe hat sich H. intensiv gewidmet, wobei sich seine Arbeit "weder als apologetisches Werk [versteht], noch als theologische Detailanalyse oder Auseinandersetzung mit der Lehre Sri Chinmoys, sondern als religionswissenschaftlich descriptive Gesamtdarstellung der Sri-Chinmoy-Bewegung" (7). Es ist eine facettenreiche Untersuchung, die vom Studium der Schriften Sri Chinmoys ebenso lebt wie von persönlichen Kontakten, statistischen Erhebungen, Besuchen von Veranstaltungen und der Auslotung der gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Bewegung. Sie korrespondiert damit neueren religionswissenschaftlichen Bemühungen, religiöse Gruppierungen nicht nur im Blick auf das Lehrsystem oder gesellschaftliche Erscheinungsformen hin zu betrachten, sondern als "gelebte Religion" kontextuell wahrzunehmen - ein Zugang, der auch in der kirchlichen Apologetik (etwa bei der Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen) zunehmend gewählt wird.

Die Darstellungsweise ist klar und verständlich, z. T. allerdings flächig und nicht ohne Wiederholungen. Verlaufsübersichten über Veranstaltungen und Gruppenprogramme dienen der Konkretion, weiten das deskriptive Element aber sehr aus. Die kontextuelle wissenschaftliche Recherche hätte gelegentlich gründlicher sein können - so sind z. B. die Prinzipien der WCRP-Arbeit nicht nur in den Veranstaltungsblättern der Nürnberger Gruppe der Weltkonferenz der Religionen für den Frieden vorhanden. Andererseits ist der dokumentarische Wert der Arbeit hoch einzuschätzen, und H. hebt glaubwürdig hervor, dass ihm von den Sri Chinmoy-Zentren keine Auskunft verweigert wurde.

Inhaltlich wird herausgearbeitet, dass die Sri Chinmoy-Bewegung eine Guru-Bewegung darstellt, die auf hinduistischen Grundlagen aufbaut, wesentliche Impulse des Neo-Hinduismus (besser wohl: Reform-Hinduismus) aufgreift und Merkmale westlicher Inkulturation aufweist. Hinduistische Grundanschauungen - wie Karma, Reinkarnation, indische Göttervorstellungen - sind die Basis der religiösen Vorstellungen bei Sri Chinmoy, auch wenn sie offen-modern interpretiert werden. Dem entspricht, dass Sri Chinmoy von prominenter indischer Seite aus wiederholt hohe Anerkennung zuteil wurde. Neo-hinduistisch ist im Gefolge Vivekanandas das Verlassen der exklusiven Bezogenheit des Hinduismus auf Indien. Von Sri Aurobindo ist dessen evolutionäres Denken übernommen, bei dem die Reinkarnation weniger als Fesselung an den Kreislauf der Wiedergeburten gesehen wird als vielmehr als Chance zur Neu- und Höherverwirklichung. Zur westlichen Inkulturation gehört vor allem die extensive Entfaltung des "integralen Yoga": Auch der spirituelle Meister selbst zieht sich nicht (wie Aurobindo) in die meditative Versenkung zurück, sondern wird aktiver Friedensapostel, integriert Sport, Musik, Theaterspiel, Malerei und ermutigt seine Schülerinnen und Schüler (disciples), ihren Alltag von der Spiritualität durchdringen zu lassen. Aufgenommen wird auch christliches Gedankengut: Jesus wird (wie Buddha und Krishna) als Avatara (Herabkunft der Gottheit) betrachtet; seine liebende Hingabe ist für Sri Chinmoy von existentieller Bedeutung. Ein Verlassen der Religion, aus der die Disciples kommen, ist für Sri Chinmoy nicht erforderlich. Er, der als gottverwirklichter Meister das Einssein mit dem "Supreme" (Gottheit im personalen wie überpersonalen Sinn) realisiert hat, kann in einzigartiger Weise zur Höherentwicklung führen, schließt aber andere Wege nicht aus. Damit ist bei ihm allerdings das Problem aller inklusiv-religiösen Ansätze gegeben: Sie transformieren die konkreten Religionstraditionen so, dass diese sich vereinnahmt sehen und in ihrem Eigenprofil nicht wirklich ernst genommen werden. Dieses Spannungsfeld tritt in der Dissertation hervor, wäre aber in seiner Konfliktträchtigkeit noch deutlicher zu zeigen gewesen.

Ausführlich dokumentiert die Arbeit die Organisation der Bewegung, den Lebensstil der Disciples, die Beziehungen innen- außen, die vielfältigen Aktivitäten und die konkrete Entwicklung im deutschsprachigen Raum. Dabei wird die intensive Inanspruchnahme der Disciples durch den spirituellen Weg Sri Chinmoys sichtbar: mit selbstverständlich regelmäßigem Meditieren, Teilnehmen an (und Organisieren) der vielfältigen Aktivitäten, dem verpflichtenden Verzicht auf Alkohol, Nikotin und Sexualität (auch für Ehepaare!) und der Erwartung von möglichst ein- oder zweimaligen jährlichen Flügen nach New York, um in der Gegenwart des Meisters zu meditieren. Mit diesen hohen Ansprüchen hängt es sicher zusammen, dass nach einer stärkeren Aufwärtsbewegung in den 80er Jahren die Mitgliedschaft im Wesentlichen stagniert: ca. 200 Disciples in Österreich, 275 in Deutschland, 150 in der Schweiz. Auf Mitgliedschaften wird (auch nach dem Zeugnis von "Ehemaligen") kein Druck ausgeübt. Die finanziellen Lasten werden im Wesentlichen pragmatisch und ohne Ausbeutung von Mitgliedern verteilt. Die jeweiligen Berufe sollen weiter ausgeübt werden. Minderjährige können nur mit Einverständnis der Erziehungsberechtigten Disciples werden. Die Beziehungen zu den Familien und (bisherigen) Freunden sollen möglichst positiv gestaltet werden, wobei eingestanden wird, dass es angesichts der Inanspruchnahme durch die Bewegung zu Einschränkungen in den Beziehungen kommen kann.

Als Konsequenz sieht H. für die Kirchen die Notwendigkeit einer intensiveren (und möglichst unvoreingenommenen) Auseinandersetzung mit den Phänomenen neureligiöser Bewegungen einschließlich der Bereitschaft zum Dialog, der verhindern kann, dass diese sich gegenüber der Gesellschaft abkapseln. Kritisch schätzt er die Interventionen gegenüber Sri Chinmoy-Aktivitäten ein, zu der kirchliche immer wieder auch staatliche Stellen bringen: Das Recht freier Religionsausübung dürfe nur eingeschränkt werden, wenn Grundrechte anderer und die öffentliche Ordnung wirklich gefährdet seien. Er sieht hier die Leitlinien der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages als beispielhaft an.

Was er nicht ausdrücklich hervorhebt, was aber die Grundrechte auch einschließen, ist, dass es kirchliche Kritik an den Vereinnahmungstendenzen durch neuere religiöse Bewegungen ebenso geben darf wie theologische Kritik und die Aufklärung darüber, welcher intensive Lebensanspruch (auf hinduistischer Grundlage) zur Geltung kommt, wenn man Disciple bei Sri Chinmoy wird. Auch dass die Kirchen sich nicht unkritisch den- prinzipiell begrüßenswerten und engagierten - Friedensaktivitäten eines neuhinduistischen spirituellen Meisters anschließen wollen, ist legitim und verständlich.

Insgesamt ist die informationsreiche Arbeit H.s eine hilfreiche Grundlage, ein unverkrampfteres, gelasseneres und stärker dialogisches Verhältnis zu neureligiösen Bewegungen wie denen Sri Chinmoys in unserer pluralen Gesellschaft anzubahnen.