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Ausgabe:

Oktober/2000

Spalte:

983–990

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Hartmut

Titel/Untertitel:

Im Spannungsfeld des Ost-West-Konflikts

Verlag:

Die ökumenische Bewegung im Zeitalter des Kalten Krieges*

I.

Die Rolle der christlichen Kirchen und der ökumenischen Bewegung im Zeitalter des Kalten Kriegs wird auf viele Jahre hin die Forschung beschäftigen. Viele Fragen müssen in diesem Zusammenhang gründlich erörtert werden. So gilt es beispielsweise herauszufinden, welche Wirkung die kommunistische Religionspolitik erzielte, indem sie das religiöse Leben in den Kirchen behinderte, indem sie religiöse Aktivitäten überhaupt unterband und Andersdenkende, insbesondere auch überzeugte Christen, verfolgte. Wie sind die Auswirkungen dieser Politik kurzfristig, das heißt in den einzelnen Ländern des Ostblocks in den späten 1940er und 1950er Jahren, in den 1960er sowie dann in den 1970er und 1980er Jahren einzuschätzen, und wie erfolgreich war diese Politik langfristig? Ferner: Welche Folgen hatte es, wenn kommunistische Regimes eine antikirchliche Politik durchsetzten? Wie weit gelang es, die kirchlichen Hierarchien einzuschüchtern und zu systemkonformem Handeln zu zwingen? Verlagerte sich, wenn dies der Fall war, das eigentliche religiöse Leben dann in die Gemeinden oder vielleicht sogar in kleine Gruppen und Hausgemeinden, in denen es unter dem Druck des Regimes, wie in der Art von Basisgemeinden, zu einer Regeneration christlichen Lebens kam? Hätte die kommunistische Seite somit im Endeffekt das Gegenteil von dem erreicht, was sie durchsetzen wollte?

Des Weiteren wäre im Einzelnen zu klären, inwieweit es bestimmten kommunistischen Regimes gelang, einzelne Kirchenführer und die ökumenische Bewegung, oder doch Teile der ökumenischen Bewegung, zumindest in bestimmten Zeitphasen gezielt und effektiv für die Zielsetzungen der kommunistischen Außenpolitik zu instrumentalisieren. Christen, zumal ökumenisch gesinnte Christen, sind in der Regel ohne Vorbehalte bereit, sich für Frieden und Gerechtigkeit überall in der Welt einzusetzen. Wie weit ließen sich für die Fragen des Weltfriedens sensibilisierte Christen mobilisieren und für bestimmte Aktionen engagieren, wenn sie von kommunistischen Funktionären angesprochen wurden? In welchem Grade waren sie "verführbar", die politischen Ziele dieser einen Seite im Ost-West-Konflikt zu vertreten, wenn ihnen gleichzeitig versprochen wurde, sie könnten dadurch die Autonomie ihrer Kirchen bewahren?

Schließlich käme es darauf an, diese Themen in größere Zusammenhänge einzubetten, das heißt nicht nur in die globalen Prozesse der Industrialisierung und Urbanisierung und somit der Modernisierung sowie auch der Säkularisierung, sondern auch in die Geschichte der Beziehungen zwischen den "reichen" Kirchen der nördlichen Hemisphäre, speziell in Europa und Nordamerika, und den jungen "armen" Kirchen in der Dritten Welt. Damit sei angedeutet, dass wir es hier mit großen und interessanten, zugleich jedoch auch mit sehr komplizierten Themen zu tun haben.

II.

Das Buch, das es hier vorzustellen gilt, ist ein Meilenstein in der Forschung über den Ökumenischen Rat der Kirchen im Zeitalter des Kalten Kriegs. Die Ergebnisse, die Armin Boyens, Gerhard Besier und Gerhard Lindemann auf 932 Seiten Text und in vielen hundert Anmerkungen vorgelegt haben, werden noch auf Jahre hinaus die Diskussion über dieses Thema bestimmen. Ehe der Versuch gemacht werden kann, eine erste und gewiss noch vorläufige Beurteilung vorzunehmen, sind drei Vorbemerkungen notwendig:

1. Boyens, Besier und Lindemann stützen ihre Darlegungen auf eine beeindruckend große Zahl von Quellen, die sie aus vielen Archiven zusammengetragen haben (Archiv der Konferenz Europäischer Kirchen, Genf; Archiv des Lutherischen Weltbundes, Genf; Archiv des Ökumenischen Rates der Kirchen, Genf; Archiv für Christlich-Demokratische Politik, St. Augustin; Archives of the Evangelical Lutheran Church in America, Chicago; Bundesarchiv Berlin; Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Berlin; Evangelisches Zentralarchiv, Berlin; Hoover Institution Archives, Stanford; National Archives, College Park, Washington, D. C.; Presbyterian Historical Society, Philadelphia; Pressearchiv der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg; sowie mehrere Privatarchive). Nicht um die Forschungsleistung der drei Autoren des vorliegenden Bandes zu relativieren, sondern als Einführung zu den folgenden Beobachtungen und Anmerkungen muss betont werden, dass es einem Rezensenten nicht möglich ist, die diesem Band zu Grunde gelegte Masse an Quellen im Einzelnen zu überprüfen und etwa die Frage zu beantworten, ob aus den genannten Archiven tatsächlich alle einschlägigen Quellen erschlossen und ob irgendwelche Zitate nicht doch aus dem Kontext gerissen und somit nicht richtig interpretiert wurden. Außerdem gilt es anzumerken, dass in kirchlichen und nichtkirchlichen Archiven vieler Länder weitere Quellen liegen, die für das hier behandelte Thema von Interesse sind. Dies wissen selbstverständlich auch die Autoren des vorliegenden Bandes. Es ist im übrigen zu erwarten, dass im Zuge der weiteren Diskussion über die Rolle des Ökumenischen Rates der Kirchen im Ost-West-Konflikt diese Quellen sukzessive erschlossen und ausgewertet werden.

2. Das Werk, das Boyens, Besier und Lindemann vorgelegt haben, könnte man als eine informationsgesättigte Ereignisgeschichte bezeichnen. Das heißt: Alle drei Autoren orientieren ihre Ausführungen zunächst und vor allem am Ablauf der Ereignisse, und das heißt ferner, dass sie sehr bemüht sind, in ihrer Darstellung möglichst viele Informationen und Details zu präsentieren. Diese Art der Geschichtsschreibung lässt sich als ein ebenso traditionelles wie solides Vorgehen bezeichnen. Doch darauf kommt es hier nicht in erster Linie an. Wichtiger ist die Anmerkung, dass es durchaus möglich ist, bei der Bewertung des hier verarbeiteten Materials auch andere Akzente zu setzen als es die drei Autoren gemacht haben, und zu anderen, vielleicht zumindest zu partiell anderen Schlussfolgerungen zu kommen. Denn ohne Zweifel geht es ungeachtet der übergroßen Fülle des vorgelegten Materials um komplizierte Fragen der Beurteilung und der Bewertung, auch der Problematisierung des Themas, so wie dies ganz grundsätzlich bei allen großen historischen Themen der Fall ist. Und dass es sich hier um ein großes Thema handelt, steht, das sei noch einmal betont, außer Frage.

3. Schließlich sei kurz erwähnt, dass die äußere Gestaltung des Textes nicht weiter erörtert werden soll. Nur soviel: Mich haben die vielen Abkürzungen gestört, und gestört hat mich auch die Art und Weise, wie im Teil von Besier immer wieder englische Satzteile, Satzfragmente, in deutsche Sätze eingefügt wurden. Das Lektorat des Verlages hätte sich auch bemühen sollen, in den englischen Passagen Worttrennungsfehler und orthographische Fehler zu beseitigen.

III.

In dem ersten großen Abschnitt erörtert Armin Boyens die Geschichte des Ökumenischen Rates der Kirchen und somit des eigentlichen Zentrums der ökumenischen Bewegung von deren Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1990er Jahre mit besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zur Evangelischen Kirche in Deutschland. Auf der einen Seite ist Boyens bemüht, nur die Fakten sprechen zu lassen. Auf der anderen Seite spürt man fast auf jeder Seite seiner Darstellung sein Engagement und auch seine Enttäuschung darüber, wie naiv und blind die Genfer Kirchenfunktionäre im Umgang mit der kommunistischen Seite waren. Denn insbesondere seit der Mitwirkung der Russisch-Orthodoxen Kirche in Genf wurde, wie im Rückblick deutlich zu erkennen ist, der Einfluss der sowjetischen Außenpolitik auf die Genfer Aktivitäten immer stärker. Das lässt sich selbst an der Sprache der Genfer Memoranden zur Friedensfrage demonstrieren. Denn die Russisch-Orthodoxe Kirche wurde nicht etwa nur in einem erstaunlichen Maße vom sowjetischen Geheimdienst kontrolliert, sondern war vom KGB regelrecht unterwandert. "Es gab", wie Boyens an einer Stelle formuliert, seit der Mitwirkung der Russisch-Orthodoxen Kirche in Genf "nichts Vertrauliches im Stab des ÖRK, gerade in den ganz internen und damit auch heiklen Vorgängen wie Finanzen und Personalfragen, über die das KGB und seine volksdemokratischen Geheimdienste in anderen Ostblockstaaten nicht informiert waren" (233). Doch damit nicht genug. Ein nicht minder problematischer Aspekt bestand darin, dass es der östlichen Seite immer wieder gelang, in Genf Resolutionen zu initiieren, die einseitig gegen die amerikanische Politik gerichtet waren und gleichzeitig Resolutionen gegen die sowjetische Seite, etwa in der Frage der Menschenrechte oder der Religionsfreiheit in der UdSSR, zu verhindern. Nicht, dass es im Rückblick richtig wäre, eine vorbehaltlose Unterstützung der amerikanischen Politik in Vietnam oder gegenüber Südafrika einzufordern. Dazu besteht kein Anlass. Was Boyens aufgefallen ist und was er mit großer Detailkenntnis belegen kann, das ist aber die Einseitigkeit der Genfer Verlautbarungen. Dies verwundert freilich nicht, wenn man - und dies ist nur ein Beispiel von vielen! - erfährt, dass zu den 60 Delegierten der Russisch-Orthodoxen Kirche, die 1983 zur 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen nach Vancouver reisten, nicht weniger als 47 Agenten des sowjetischen Geheimdienstes gehörten (261 f.). Mit großer Selbstverständlichkeit wurden über die Jahre hinweg alle Genfer Personalentscheidungen von östlichen Parteigremien diskutiert und beeinflusst, während sich gleichzeitig christliche Dissidenten aus Ostblockländern vergeblich darum bemühten, aus Genf Unterstützung zu bekommen.

Boyens weist zurecht darauf hin, dass Generalsekretär Emilio Castro in seinem Rechenschaftsbericht 1991 kein "Wort der Freude" darüber sagte, "daß die Zeit der Verfolgung der Kirchen und der Christen durch den Kommunismus zu Ende war, daß sich die Tore der Arbeitslager und Gefängnisse für zu Unrecht verurteilte Christen geöffnet hatten. Nirgends auch eine Erwähnung der Glaubenszeugen, die mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit, ihrer Freiheit für ihr Bekenntnis zu Christus bezahlt hatten. Kein Wort des Dankes an sie".

Verständlich ist die Schlussfolgerung, die Boyens zieht: "Um eine Kirche, einen ÖRK, die ihre Märtyrer verschweigen und vergessen, ist es nicht gut bestellt" (304). Nach dem Ende des Kalten Krieges konnte und musste gefragt werden, wie groß die Schuld war, die die in der ökumenischen Bewegung engagierten westlichen Kirchenvertreter deshalb in dieser Angelegenheit auf sich geladen hatten. Die Schuldfrage war das wichtigste Thema auf einer Tagung der Konferenz Europäischer Kirchen 1990 in Genf, auf der Konsultation des Ökumenischen Rates der Kirchen wenig später in Moskau, auf der Konsultation reformierter Kirchen ebenfalls noch 1990 wiederum in Genf sowie auf der Konferenz lutherischer Kirchen in Europa 1992 in Riga. Einer der Hauptreferenten auf der zuletzt genannten Tagung zog folgende Bilanz: "Abgesehen von der ungeahnten Reichweite und Engmaschigkeit des Informationsnetzes osteuro- päischer Sicherheitsdienste, sind es Menschen, denen Vertrauensbruch und Vertrauensmißbrauch angesichts konspirativer Tätigkeiten auf freiwilliger oder erzwungener Basis vorgeworfen oder nachgewiesen werden können ... Seit der Wende tun sich unseren Blicken tiefe Abgründe auf, Vertrauenskrisen reichen bis in unsere kirchliche Gemeinschaft ... Auch in den lutherischen Kirchen Osteuropas begann nach der Wende des Jahres 1989 ein kritisches Fragen nach schuldhafter Verstrickung kirchlicher Verantwortungsträger, insbesondere hinsichtlich ihrer Beziehungen zu den überwundenen Unrechtsregimen der Vergangenheit" (318). Vielen Kirchenvertretern drängte sich damals die Frage auf, ob nicht erneut ein Schuldbekenntnis der Kirchen notwendig sei, das dem Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 entspreche. Auch zehn Jahre später sind dies Fragen, die jeden an der ökumenischen Bewegung interessierten Christen beschäftigen, und dies ist auch der Tenor, der den Bericht von Armin Boyens bestimmt.

Der zweite große Teil des vorliegenden Werks stammt aus der Feder von Gerhard Besier und handelt von den Beziehungen der amerikanischen Kirchen zur ökumenischen Bewegung. Dieses Thema besitzt eine große Bedeutung, weil neben der Evangelischen Kirche in Deutschland niemand die Genfer Zentrale so nachhaltig förderte und so großzügig finanziell unterstützte wie die amerikanischen Kirchen. Diese Unterstützung war jedoch, wie Besier nachweisen kann, von den 1950er Jahren an umstritten. Auf der einen Seite standen die im National Council of Churches (NCC) zusammengeschlossenen Kirchen, die in den Genfer Aktivitäten ein wirksames Instrument zur Stärkung des Weltfriedens und zur Förderung sozialer Gerechtigkeit sahen und somit eine außerordentlich wichtige Ergänzung der Politik der Vereinten Nationen. Konsequent wandten sich die Vertreter des National Council of Churches auch gegen die Rassendiskriminierung im eigenen Land. Sie kritisierten die Politik der Apartheid in Südafrika. Sie distanzierten sich vom militärischen Eingreifen der USA in Vietnam. Kurzum, indem sie immer wieder auch die eigene Seite kritisierten, verliehen sie ihren Aussagen zur Weltpolitik eine besondere moralische Überzeugungskraft.

Auf der anderen Seite regte sich in den USA aber schon bald Widerspruch gegen viele der Genfer Aktivitäten und Resolutionen. Diese Stimmen kamen aus evangelikalen Kreisen und von Vertretern der evangelikalen Bewegung. Diese Stimmen ließen keinen Zweifel daran, dass sie von der kommunistischen Seite selbst in der Frage des Weltfriedens nichts Gutes erwarteten, während sie umgekehrt die außenpolitischen Positionen der USA nachdrücklich unterstützten. Kritisch wurde von evangelikaler Seite immer wieder nach der Religionsfreiheit in der Sowjetunion gefragt. Spätestens seit Mitte der 1960er Jahre war in evangelikalen Kreisen in den USA zudem bekannt, in welchem Maße die ökumenische Bewegung von kommunistischer Seite unterwandert worden war. Nach einem Hearing des Senats über "Religious Persecution and the Infiltration of Ecumenical Movements in the West" stellte einer der beteiligten Experten unmissverständlich fest: "The clear implication of the record of this hearing will be that the WCC [World Council of Churches = Ökumenischer Rat der Kirchen], the NCC [National Council of Churches] and the LWF [Lutheran World Federation] are being duped by the Russians, and anybody connected with them is not to be trusted, and in fact, is both a danger to peace and an unwitting tool of Soviet policy" (635). Kaum nötig anzufügen, dass Delegationen aus den Ländern des Ostblocks, die in Sachen Ökumene in die USA reisten, von Geheimagenten durchsetzt waren.

Das Ergebnis der Studie von Besier ist somit in mehrfacher Hinsicht deprimierend: Die evangelikalen Kreise der USA, die gegenüber der kommunistischen Seite kritisch eingestellt waren, unterstützten die Politik der Apartheid in Südafrika und wandten sich auch gegen eine Politik der umfassenden politischen Emanzipation der farbigen Minderheit im eigenen Land. Umgekehrt war die Haltung der im National Council of Churches vereinigten Gruppen: Sie kritisierten zwar die südafrikanische Politik der Apartheid und unterstützten die Bürgerrechtsbewegung im eigenen Land. Zugleich waren sie jedoch weitgehend blind, wenn es darum ging, die angebliche Friedenspolitik der UdSSR zu durchschauen.

Nicht minder materialreich ist der dritte Teil des vorliegenden Bandes, in dem Gerhard Lindemann die Geschichte der 1958 gegründeten Christlichen Friedenskonferenz in Prag darstellt, die sich binnen weniger Jahre zu einem einflussreichen Forum ökumenischer Politik entwickelte. Bereits 1961 wurde die erste Allchristliche Friedensversammlung (ACFV) organisiert. Prominente Mitglieder des von kommunistischer Seite von Anfang an stark beeinflussten Prager Forums spielten bald auch im Ökumenischen Rat der Kirchen eine wichtige Rolle. Alle Aktionen der Christlichen Friedenskonferenz wurden, wie Lindemann nachweisen kann, von den für Kirchenfragen zuständigen Staatssekretären in den Regierungen der Ostblockstaaten vor jeder Sitzung besprochen und teilweise bis ins Detail festgelegt. Alle Resolutionen unterlagen dieser Zensur und waren in der Regel vorformuliert. Vorschläge zur Deutschlandfrage, die von der Christlichen Friedenskonferenz 1963 verabschiedet wurden, entsprachen beispielsweise weitgehend dem Sieben-Punkte-Plan zur Deutschlandpolitik, den Ulbricht damals vorgelegt hatte. Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Regelmäßig wurden in den Resolutionen der Prager Friedenskonferenz die außenpolitischen Positionen der Staaten des Warschauer Pakts gutgeheißen.

Zur großen Krise der Christlichen Friedenskonferenz in Prag kam es im Jahre 1968, weil auch der langjährige Präsident des Prager Friedensforums, Josef Hromádka, den Einmarsch der Truppen des "Prager Frühlings" kritisierte. Nach dem Tod von Hromádka, der Ende 1969 starb, wurden die Kritiker der sowjetischen Politik aus den Prager Gremien entfernt und durch linientreue Kirchenfunktionäre ersetzt. Erstaunlicherweise kam es seit Mitte der 1970er Jahre trotzdem zu besonders engen Beziehungen zwischen der neuen Führung der Christlichen Friedenskonferenz auf der einen Seite sowie dem Ökumenischen Rat der Kirchen und auch der Evangelischen Kirche in Deutschland auf der anderen. Erneut gelang es den Vertretern der Prager Bewegung, westliche Kirchenkreise für die Positionen der sowjetischen Außenpolitik zu gewinnen. Auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi im Jahre 1975 waren unter insgesamt 800 Delegierten als Berater und Beobachter nicht weniger als 300 Vertreter des Prager Forums. Insbesondere in den Kirchen in Ländern der Dritten Welt war in jenen Jahren der Einfluss der Prager Christlichen Friedenskonferenz groß, und dies, obwohl sich die Prager Friedensfreunde nicht scheuten, etwa den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan gutzuheißen. Dass sie alle Register zogen, um den durch die Stationierung der SS-20 Raketen ausgelösten und insbesondere in der Bundesrepublik sehr umstrittenen Nachrüstungsbeschluß der NATO zu verhindern, verwundert nicht. Erst mit dem Beginn der Ära Gorbatschow wurde "die koordinierte staatliche Anleitung der CFK", wie Lindemann feststellt, beendet (901). Während der Präsident der Prager Christlichen Friedenskonferenz, Károly Tóth, die Politik von Glasnost und Perestrojka guthieß, erklärten andere Funktionäre des Prager ökumenischen Forums auch noch Anfang der 1990er Jahre, sie würden nach wie vor jedes Wort in den von ihnen in den vorangehenden Jahren verabschiedeten Resolutionen unterschreiben. Dem ist nichts hinzufügen.

IV.

Armin Boyens erörtert, wie erwähnt, die Probleme der ökumenischen Bewegung im Hinblick auf die Aktivitäten der Genfer Zentrale. Gerhard Besier diskutiert die gleiche Thematik aus Sicht der kirchlichen Kreise in den USA. Gerhard Lindemann untersucht schließlich den Zusammenhang zwischen der Genfer Ökumene und der "Ostökumene", der Prager Christlichen Friedenskonferenz. Den drei Autoren des vorliegendes Bandes gelingt es somit ohne Zweifel, die drei entscheidend wichtigen Knotenpunkte in der ökumenischen Bewegung im Zeitalter des Kalten Krieges zu analysieren. Was macht ihre Ausführungen, die durch einen Bericht von Horst-Klaus Hofmann über die 8. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1998 in Harare ergänzt wird, so bedrückend? Mir scheint, dass dies drei getrennte, zugleich jedoch deutlich miteinander verbundene Gründe hat.

Der erste Grund ist in der zeitlichen Nähe der geschilderten Ereignisse zu suchen und in der Tatsache, dass wesentliche Quellen, die Aufschluss über ganz spezifische Aktionen sowie auch über den Kontext bestimmter Vorgänge geben, heute für die Forschung uneingeschränkt zugänglich sind. Die jüngste Zeitgeschichte ist für diejenigen, von denen in den entsprechenden Studien die Rede ist, unbequem und nicht selten ärgerlich, weil die Quellen anderes aussagen als die Erinnerung der Beteiligten festgehalten hat oder weil sie an bestimmte Handlungen oder Ausführungen nicht mehr gerne erinnert werden wollen. Diese Situation ist nicht singulär. Sie hatte es unmittelbar nach 1945 schon einmal gegeben, als von den Alliierten alle deutschen Akten für die Forschung freigegeben wurden. Diese Situation lässt sich freilich heute im Hinblick auf den schriftlichen Nachlass der DDR nicht mehr ändern oder gar rückgängig machen. Diejenigen, die das Gefühl haben, ihre Rolle in der Ökumenischen Bewegung der vergangenen Jahrzehnte würde im vorliegenden Werk einseitig oder falsch dargestellt, sind vielmehr aufgerufen, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Freilich sollten sie sich nicht nur auf ihre Erinnerung berufen, sondern sich mit den für die Forschung zugänglichen Quellen auseinandersetzen. Selbstverständlich können sie auch neue Materialien, die Boyens, Besier und Lindemann nicht zur Verfügung standen, auswerten.

Bedrückend sind die Berichte von Boyens, Besier und Lindemann aber vor allem, weil sie im Detail das belegen, was man als die doppelte Doppelstrategie der Länder des Warschauer Pakts in der Ära des Kalten Krieges bezeichnen könnte. Die eine Doppelstrategie bestand darin, dass in kommunistischen Staaten religiöses Leben auf der einen Seite systematisch unterdrückt, auf der anderen Seite die Kontakte der Kirchen dieser Länder zu Kirchen im Westen dagegen ausgenützt wurden, um die Ziele der eigenen Außenpolitik zu propagieren. Die andere Doppelstrategie ist darin zu sehen, dass auf der einen Seite vor allem mit Hilfe der Russisch-Orthodoxen Kirche intensive Anstrengungen unternommen wurden, um die Genfer ökumenische Bewegung im eigenen Sinne zu beeinflussen, und dass man sich auf der anderen Seite mit der Prager Christlichen Friedenskonferenz ein eigenes und zusätzliches Instrument schuf, mit dem man die eigenen Positionen in den Auseinandersetzungen des Kalten Krieges zusätzlich zur Geltung bringen konnte. Die Eigenständigkeit der Genfer ökumenischen Bewegung war also auf doppelte Weise gefährdet.

Bedrückend sind die vorliegenden Untersuchungen aber schließlich, weil nicht erst aus den seit 1990 zumindest partiell für die Forschung zugänglichen Archiven des KGB bekannt ist, dass kommunistische Regierungen und Parteistellen mit Hilfe ihrer Geheimagenten und "informellen Mitarbeiter" nicht nur den Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf systematisch ausspähten, sondern dass sie auch auf Genfer Personalentscheidungen und Resolutionen Einfluß zu nehmen versuchten, und dies über die Jahre hinweg gewiss nicht immer ohne Erfolg. Spätestens seit der Emigration des Prager Theologen Jan Milic Lochmann in die Schweiz im Jahre 1968 und dem Protest von Hromádka gegen die sowjetische Intervention im gleichen Jahr konnte man in westlichen Kirchenkreisen wissen, in welchem Maße die Prager Christliche Friedenskonferenz von kommunistischen Parteistellen beeinflusst, gar gesteuert und gelenkt wurde. Warum kam es damals trotzdem zu keiner klaren Neuorientierung oder zu umsichtigen Sicherheits- und Schutzmaßnahmen? Warum wurde damals nicht der Versuch unternommen, wenigstens den verfolgten christlichen Gruppen in den Ländern des Warschauer Pakts entschiedener als bisher zu helfen? Warum kam es in den 1970er Jahren sogar zu einer besonders intensiven und als vertrauensvoll bezeichneten Zusammenarbeit zwischen dem Prager Forum und dem Ökumenischen Rat der Kirchen? Aufschlussreich wäre es, könnte man darin eine wohlüberlegte Strategie von Seiten des Ökumenischen Rates der Kirchen sehen, der sich seiner eigenen inneren Stärke bewusst war und deshalb nicht nur eine gewisse Zahl von Sympathisanten der sozialistischen Regimes in den eigenen Reihen tolerieren zu können glaubte, sondern sogar der Meinung war, er könne die östliche Seite auf einen Kurs zur Erhaltung und Festigung des Weltfriedens hindrängen. Nicht dass die vorliegenden Studien schon alle Antworten auf alle diese Fragen enthielten. Sie hinterlassen bei einem Leser freilich solche Fragen und somit den Wunsch, dass die Forschung zur kirchlichen Zeitgeschichte sich diesem ebenso wichtigen wie komplexen Kapitel künftighin mit besonderer Intensität zuwenden möge.

Summary

Gerhard Besier, Armin Boyens and Gerhard Lindemann have produced an impressive volume in which they discuss crucial aspects of the history of the ecumenical movement in the era of the Cold War. The Geneva-based World Council of Churches with special emphasis on the relationship to the German Protestant Churches (Boyens); the role of the American National Council of Churches and of those American church-bodies which opposed the ecumenical movement (Besier); and the Prague Christian Peace Conference founded in 1958 which provided a second forum for ecumenical activities (Lindemann). This study is based on source-material which has not been available for research so far. Some of the conclusions, especially those referring to the far-reaching influence of the secret services of Warsaw Pact countries, are likely to lead to controversies.

Fussnoten:

* Besier, Gerhard, Boyens, Armin, u. Gerhard Lindemann: Nationaler Protestantismus und Ökumenische Bewegung. Kirchliches Handeln im Kalten Krieg (1945-1990). Mit einer Nachschrift von H.-K. Hofmann. Berlin: Duncker & Humblot 1999. VI, 1074 S. gr.8 = Zeitgeschichtliche Forschungen, 3. Geb. DM 86,-. ISBN 3-428-10032-8.