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Ausgabe:

März/1999

Spalte:

313–315

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Voigt, Kerstin

Titel/Untertitel:

Karl Schwarz (1812-1885). Eine Untersuchung zu Person und Werk.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1996. 596 S. gr.8 = Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII: Theologie, 585. Kart. DM 138,-. ISBN 3-631-48709-6.

Rezensent:

Claudia Lepp

Die Erforschung des 19. Jh.s erlebte in den vergangenen Jahren einen neuen Aufschwung. An dieser Entwicklung hat auch die Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung Anteil, die sich bei der Auseinandersetzung mit dem vorangegangenen Jahrhundert auch vermehrt der lange Zeit wenig be- und geachteten liberalen Theologie in Deutschland zuwandte. Eine jüngere Forschergeneration machte sich von dem seit den 1930er Jahren vorherrschenden Verdikt über die liberale und kulturprotestantische Theologie frei und begann, Bewegungen, Organisationen und Personen des kirchlichen und theologischen Liberalismus wiederzuentdecken und neu zu bewerten.

Einen bislang von der Forschung vernachlässigten liberalen Theologen, der auch in der praktischen Theologie liberale Wege beschritt, bringt uns nunmehr die umfangreiche Studie von Kerstin Voigt näher. In ihrer Jenenser Habilitationsschrift beschäftigt sich die Theologin mit Karl Schwarz und dessen in vielem für die Generation der frühen Liberalen exemplarischem Leben und Werk.

Als "eine(n) sehr offene(n) Kopf, gescheit, durchgreifend, entschieden freisinnig" wurde Karl Schwarz von Johann Caspar Bluntschli charakterisiert, dem Präsidenten des Deutschen Protestantenvereins. Diese frühe Organisation des sog. Kulturprotestantismus hatte Schwarz im Jahre 1863 mitbegründet und deren kirchliche Ziele: Abbau hierarchischer Strukturen und Ausbau des Gemeindeprinzips sowie Freiheit und Selbstbestimmung des mündigen Individuums in Glauben, Forschung und Lehre zeitlebens vertreten. Gerade die letztgenannte Forderung hatte bei Schwarz auch einen lebensgeschichtlichen Hintergrund. Bereits als junger Student der Philologie und Theologie wurde er in Halle durch die sog. "Hengstenberg-Affäre" mit dem scharfen Konflikt zwischen Rationalismus und Orthodoxie konfrontiert. Die Intoleranz der letzteren erfuhr der von Schleiermacher und der Hegelschen Philosophie beeinflußte Theologe bei Promotion und Habilitation an der eigenen Person. V. schildert den langwierigen und schwierigen Promotions- und Habilitationsprozeß, der erst 1842 zu einer jedoch verklausulierten venia legendi an der Theologischen Fakultät in Halle führte. Aufgrund seiner Kontakte zur Bewegung der sog. Lichtfreunde erhielt der kirchlich wie politisch liberale Schwarz - der politische Mensch bleibt bei V. etwas farblos - 1845 ein Vorlesungsverbot, das erst im Revolutionsjahr 1848, in dem der ehemalige Burschenschaftler Schwarz als Abgeordneter im Frankfurter Parlament saß, wieder aufgehoben wurde. Nach siebenjähriger Lehrtätigkeit als a. o. Professor in Halle, die ihm durch "Intrigen von ’oben’ und Examensfurcht der Studenten" (88) erschwert wurde, beendete Schwarz seine wissenschaftliche Karriere und nahm einen Ruf als Oberkonsistorialrat und Hofprediger nach Gotha an.

Hier im "freisinnigen" Gotha hatte er als einer der wenigen deutschen Liberalen in kirchenleitendem Amt (1858 wurde er Oberhofprediger und Vortragender Rat für Kirchen- und Schulsachen im Staatsministerium, 1877 Generalsuperintendent) die Möglichkeit, zu den zentralen kirchlichen und theologischen Fragen seiner Zeit schreibend und handelnd im liberalen Sinne Position zu beziehen. So entschied er sich während seiner Amtszeit in einer Reihe von Fällen zur umstrittenen Wiedertrauung von Geschiedenen. 1866 verfaßte er ein Lehrbuch für einen dogmenfreien Religionsunterricht. Nicht in die Praxis umgesetzt wurde eine von Schwarz entworfene Kirchenverfassung auf der Grundlage des Gemeindeprinzips, deren Einführung an der mangelnden Zustimmung des Landtages scheiterte. Als Redner auf Deutschen Protestantentagen sowie als Autor in der "Protestantischen Kirchenzeitung" verteidigte Karl Schwarz entschieden die Lehrfreiheit und das Recht der liberalen Theologie in der Kirche, die in einigen preußischen "Lehrfällen" und abgelehnten Pfarrwahlen der Zeit in Frage gestellt wurden. Allein das Evangelium der Liebe und Gotteskindschaft sollte nach Schwarz’ Verständnis die Lehrfreiheit begrenzen. Während er den Protestantenverein vergeblich dazu aufforderte, eine Reformulierung der kirchlichen Lehre entsprechend dem religiösen Erkenntnis- und Bedürfnisstand der Gegenwart in Angriff zu nehmen, setzte er selbst in dem während des 19. Jh.s immer wieder aufbrechenden Apostolikumstreit ein Zeichen.

Schwarz initiierte im Jahre 1881 eine Ministerialverordnung, die es gestattete, bei Taufe und Konfirmation das apostolische Glaubensbekenntnis durch eine kurze schlichte Formel zu ersetzen. Und noch nach dem Tod dokumentierte er sein kritisches Verhältnis gegenüber der kirchlichen Tradition, indem er sich als erster evangelischer Theologe in Deutschland 1885 im Feuer bestatten ließ.

Als richtungsweisend gilt Karl Schwarz aber vor allem als Prediger, auf den sich V.s Hauptinteresse richtet. Schwarz war einer der wenigen praktisch-liberalen Theologen und hinterließ eine achtbändige Predigtsammlung, in der er, so V., "ein neues, fruchtbares homiletisches Prinzip verfolgt, das für Theorie und Praxis der Homiletik zwischen 1890 und 1920 entscheidende Bedeutung besitzt" (5). Auf Grund seiner Betonung des Religiös-Sittlichen sieht die Autorin in ihm einen Wegbereiter der liberalen Predigtweise. Beispielhaft sei Schwarz in seinen Predigten die Durchdringung und Wechselwirkung von Christentum und Gegenwart gelungen, indem er in ihnen 1. seine eigene, tiefe Religiosität zeigte, 2. beim gegenwärtigen Menschen ansetzte sowie 3. praktisch und lebensnah zu einer sittlich-religiösen Lebenspraxis anleitete. Theoretische Grundlage dieser Predigtpraxis, die auf eine Erziehung sowohl zu sittlichen Werten als auch zu einem eigenständigen, selbstverantworteten Glauben zielte und deren Ergebnis "die durch das Christentum verklärte Persönlichkeit" (470) sein sollte, war Schwarz’ Vorstellung von der "Gleichursprünglichkeit von Religion und Sittlichkeit". Diese hatte er bereits 1847 in seiner Schrift "Das Wesen der Religion" entwickelt und sich von da an bemüht, sie in die Praxis zu übersetzen.

V.s Untersuchung basiert auf umfangreichem publiziertem und archivalischem Material, das sie in einem sehr ausführlichen Anhang unter sachlichen Gesichtspunkten in Listen zusammenfaßt und wohl deshalb leider auf ein Sach- und Personenregister verzichtet. A nalysiert wird dieses Material im darstellenden Teil mit der erklärten Absicht, sich die Vergangenheit für die Gegenwart konstruktiv anzueignen. V. ist sich der Schwierigkeiten einer solchen "Väter"suche bewußt, entgeht aber nicht immer der Gefahr, die Defizite der "Väter" zu übersehen, zumal sie der Einschätzung der Schwarzschen Freunde und frühen Biographen, die sehr ausführlich zitiert werden, manchmal allzu sehr vertraut. Doch fehlt es in V.s Darstellung nicht gänzlich an kritischen Anmerkungen zu Schwarz’ theologischer Position. So sehr die Autorin auch die bleibende Bedeutung von zentralen Charakteristika in Schwarz’ Predigt- und Auslegungsweise - individuelle Autonomie, praktische Religiosität, Idealisieren und Individualisieren, personale Kompetenz - hervorhebt, so kritisiert sie doch auch etwa seinen "transzendenten ethischen Optimismus" (440 f./476), sein eher "museales" Betrachten der Geschichte (193) sowie die alleinige Ausrichtung seiner Theologie auf den gebildeten Christen (480). Die soziale Begrenztheit seines Blickes, die V. noch deutlicher hätte herausarbeiten können, führte dazu, daß die sozialen Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung in seinen theologischen Reflexionen über eine Versöhnung von Christentum und Gegenwart keine Rolle spielten. Konsequent setzte sich Schwarz daher auch gegen die Aufnahme sozialreformerischer Anliegen in den Aufgabenbereich des Protestantenvereins ein. Doch auch in seinem geringen Interesse an sozialpolitischen Fragen war Schwarz ein exemplarischer Vertreter des frühen theologisch-kirchlichen Liberalismus.