Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2000

Spalte:

963–965

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Reiss, Wolfram

Titel/Untertitel:

Erneuerung in der Koptisch-Orthodoxen Kirche. Die Geschichte der koptisch-orthodoxen Sonntagsschulbewegung und die Aufnahme ihrer Reformansätze in den Erneuerungsbewegungen der Koptisch-Orthodoxen Kirche der Gegenwart.

Verlag:

Münster: LIT 1998. XLI, 351 S. 8 = Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte, 5. Kart. DM 69,80. ISBN 3-8258-3423-9.

Rezensent:

Ludwig Hagemann

Die Koptisch-Orthodoxe Kirche, vor allem als starke Minderheit im überwiegend muslimischen Ägypten bekannt, zählt zu den altorientalischen (National-)Kirchen, die in den christologischen Streitigkeiten der ersten Jahrhunderte eigene terminologische Akzente in Verständnis und Interpretation altkirchlicher Konzilsaussagen setzten. Die Koptisch-Orthodoxe Kirche führt sich auf den Evangelisten Markus zurück, den nach koptischer Tradition ersten der 117 sog. Papst-Patriarchen. Seit 1971 steht Papst Schenuda III. an der Spitze.

Die vorliegende Arbeit von W. Reiss wurde im Wintersemester 95/96 von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Im Mittelpunkt steht die Geschichte der koptisch-orthodoxen Sonntagsschulbewegung, ihre Entstehung und Entwicklung seit Beginn unseres Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein. Die Studie will nach Angaben des Vf.s "erstmals einen Überblick über die Entstehung und die verschiedenen Entwicklungsstufen der Sonntagsschulbewegung geben ... [und] zugleich den Beitrag aufzeigen, den die Sonntagsschulbewegung zur gesamtkirchlichen Erneuerung" innerhalb der koptisch-orthodoxen Kirche unseres Jahrhunderts leistete (XXXVII). Damit hebt sie sich insofern von anderen diesbezüglichen Publikationen aus jüngerer Zeit ab, als sie die Sonntagsschulbewegung nicht nur als flankierende pädagogische Reformmaßnahme ansieht, sondern ihr eine fundamentale Bedeutung für die Erneuerung der Koptisch-Orthodoxen Kirche insgesamt zuschreibt (XXXIV f.).

Die Arbeit gliedert sich wie folgt: Nach dem ersten (einleitenden) Kapitel, in dem die auslösenden Faktoren des 19. Jh.s für die Entstehung einer religionspädagogischen Erneuerungsbewegung unter politischen und kirchlichen Rahmenbedingungen dargestellt werden (1-34), beschreibt der Vf. im zweiten Kapitel jene religionspädagogischen Pionierleistungen von 1900-1934, die den Boden dafür bereiteten, dass sich aus regional begrenzten Initiativen eine breite pädagogische Reformbewegung entwickeln konnte (35-75). Das dritte Kapitel behandelt die vier bedeutendsten Sonntagsschulzentren, von denen die charakteristischen Leitlinien für weitreichende Reformen ausgingen (76-133), Leitlinien, die in der Folgezeit, so das vierte Kapitel, gebündelt wurden und den Interpretations- und Einigungsprozess der Sonntagsschulbewegung einleiteten (134-158). Im fünften Kapitel werden die verschiedenen Bereiche der Erneuerung, die weit über den monastischen Bereich hinausgehen, nicht als Einzelphänomene dargestellt, sondern als Gesamtbewegung gesehen, die in Form der "Takris-Bewegung" ausschlaggebender Impuls für die Erneuerung der Koptisch-Orthodoxen Kirche gewesen ist (159-202). Initiatoren und Verfechter der Sonntagsschulbewegung - aufgestiegen in führende kirchliche Positionen- haben dann die in den Sonntagsschulzentren entwickelten Vorgaben auf die Gesamtkirche übertragen, wie aus dem sechsten Kapitel zu ersehen ist (203-251). Eine aus der Sonntagsschulbewegung hervorgegangene Persönlichkeit, der jetzige Patriarch Schenuda III., und sein Engagement, aber auch innerkirchliche Differenzen und Auseinandersetzungen sind Thema des siebenten und letzten Kapitels (252-310). Ein Literaturverzeichnis (mit unveröffentlichten Quellen und Dokumentationen aus eigenem Archiv) schließen die Arbeit ab (311-351).

Die vom Vf. vorgelegte Studie zeichnet sich durch eine systematische Strukturierung aus. Um die Entwicklungsstufen der Sonntagsschulbewegung und ihre Bedeutung für die Erneuerung der Koptisch-Orthodoxen Kirche der Gegenwart zu illustrieren, stellt er den verschiedenen Entwicklungsphasen jeweils die politischen und kirchlichen Rahmenbedingungen voran, die den geschichtlichen Hintergrund für die (religions)pädagogische Aufbauarbeit abgeben. So gelingt es ihm, aus der Fülle des gesammelten Materials die historischen Entwicklungslinien nachzuzeichnen, die für das Verständnis der Sonntagsschulbewegung und ihrer gegenwärtigen Relevanz unerlässlich sind. Die je unterschiedlichen Akzentuierungen in den vom Vf. beschriebenen Sonntagsschulzentren wirken bis heute nach: Führende kirchliche Persönlichkeiten verkörpern bisweilen ganz unterschiedliche kirchenpolitische Richtungen und voneinander abweichende Konzeptionen kirchlicher Erneuerungsarbeit. Die innerkirchliche Krise von 1981-1985 legt ein beredtes Zeugnis davon ab (298 ff.).

Vorausgegangen waren innenpolitische Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen Kopten und islamistischen Kräften, zwischen Kirche und Staat (283 ff.). Die vom Vf. genannten Konfliktpotentiale, die sich schließlich entluden, sind nicht nur ein singuläres Phänomen ägyptischer Innenpolitik, sondern ein strukturelles Problem im gesellschaftlichen Zusammenleben von islamischer Majorität und christlicher Minorität. Eine dem islamischen Gesellschaftsverständnis entsprechende Rechtsstellung von Nicht-Muslimen impliziert ihre Diskriminierung. Der Vf. fasst sie - bezogen auf Ägypten - so zusammen: die Unterrepräsentierung der Kopten im öffentlichen Sektor, die Problematik von Kirchenneubauten, die Gesetzesänderung zugunsten der Scharia (Mai 1980) und der mangelnde Schutz vor islamischen Extremisten (285 ff.).

Einen massiven Eingriff in die kirchliche Selbstorganisation nahm schließlich Präsident Sadat im September 1981 vor: Der Präsidialerlass von 1971, in dem er die Wahl von Schenuda zum Patriarchen bestätigt hatte, wurde aufgehoben und ein "päpstliches Komitee" zur Leitung der Kirche eingesetzt (297), Schenuda im St. Bishoi-Kloster unter militärischer Bewachung festgesetzt. Die Koptische Kirche stürzte in die schlimmste Krise ihrer jüngsten Geschichte. Auch seine Freilassung unter H. Moubarak 1985 hat die innerkirchlichen Spannungen nicht vollends schlichten können. Die für die Koptische Kirche so hoffnungsvolle Sonntagsschulbewegung, die in vielen Bereichen Reformen hat durchsetzen können und ihr zu neuer Lebendigkeit verhalf, steht auf Grund der Zerstrittenheit ihrer ehemaligen Leiter vor einer außerordentlichen Bewährungsprobe: Sollte keine Rückbesinnung stattfinden, "so ist damit zu rechnen, daß der Koptisch-Orthodoxen Kirche langfristig eine weitere Eskalation der Konfrontation zwischen Klerus und Laien droht, die man durch die Sonntagsschulbewegung längst überwunden zu haben glaubte" (310). Der Druck von außen - seitens der islamischen Mehrheit- führt nicht ohne weiteres zur Konsolidierung nach innen.

Es bleibt ein Verdienst der Arbeit von Reiss, die Reformbestrebungen innerhalb der Koptischen Kirche dank der Sonntagsschulbewegung festgehalten und aus sonst nur schwer zugänglichen Quellen und Dokumenten gesichert zu haben. Dass auch Bemühungen und Initiativen katholischer Orden und Kongregationen die Sonntagsschulbewegung begleitet und unterstützt haben, wird leider nicht behandelt.