Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2000

Spalte:

959–961

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Müller-Rolli, Sebastian

Titel/Untertitel:

Evangelische Schulpolitik in Deutsch-land 1918-1958. Dokumente und Darstellung. Unter Mitarb. von R. Anselm und mit einem Nachwort von K. E. Nipkow.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 791 S. gr.8 = Eine Veröffentlichung des Comenius-Instituts Münster. DM 148,-. ISBN 3-525-61362-8.

Rezensent:

Karl Dienst

Die chronologisch zusammengestellte Quellensammlung dokumentiert unter bestimmten Schwerpunktsetzungen die komplexen Beziehungen zwischen Staat und evangelischer Kirche in Deutschland im Bereich des Volksschulwesens in der ersten Hälfte des 20. Jh.s. Den einzelnen Kapiteln sind jeweils zeit- und problemgeschichtliche Einleitungen vorangestellt, die mit den jeweiligen Entscheidungsprozessen vertraut machen, die Argumentationsmuster herausarbeiten und die in die nachfolgenden, auch mit besonderen Einleitungen versehenen Dokumente einführen. Am Anfang des Buches (23-52) gibt Müller-Rolli Rechenschaft über die Auswahlkriterien; er erläutert u. a. schulpolitische Begriffe, kirchliche Strukturen sowie theologische, kirchen- und bildungspolitische Leitorientierungen. Die Geschichte des Religionsunterrichts (RU) bleibt ausgespart, wenngleich der Kampf um die Schulform wesentlich auch um der Stützung des RU willen geführt wurde.

Die Dokumentation ist in sechs Kapitel eingeteilt. Kap. I: 1918-1921: Jahre der Konfrontation. Evangelische Schulpolitik in der Republik (55ff.) - Kap. II: 1936: Innere Zerrissenheit. Evangelische Schulpolitik im Kirchenkampf (91 ff.) - Kap. III: 1941-1944: Bewahrung der Tradition. Schulpolitische Vorstellungen in den Widerstandskreisen (297 ff.) - Kap. IV: 1945-1948: Differenzen auf Länderebene. Regionale Eigendynamik unter alliierter Kontrolle (347 ff.) - Kap. V: 1948/49: Ausgleich. Die Schulfrage in den Beratungen des Grundgesetzes (497 ff.) - Kap. VI: 1958: Anerkennung des Wandels. Die Schulfrage auf der Berliner Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (653 ff.). Unter dem Titel: "Die gefährdete Freiheit in Schule und Kirche" steuert Nipkow ein "Nachwort" bei (720 ff.).

In der hier dokumentierten Diskussion um eine evangelische Schulpolitik ergeben sich "Kontinuitätslinien" vor allem aus ähnlichen, die einzelnen Epochen überdauernden Fragestellungen und Problembeschreibungen. Ansonsten ist das Feld stark durch lokale Traditionen, konfessionelles Erbe und politische Konstellationen geprägt (25). Über den "Kontinuitätslinien" darf allerdings die "situative Ausrichtung" (25) nicht vernachlässigt werden, weil sonst die Gefahr besteht, dass jeweils ein abstraktes kirchen- und kulturpolitisches "Credo" die Darstellung beherrscht. Aus Raumgründen kann sich unsere Anzeige des verdienstvollen, sich durch eine offene Quellenauswahl auszeichnenden Buches nur den Kontinuitätslinien zuwenden, soweit diese für weiteres Forschen wichtig sind.

Nach der "Lesart" (25) von M.-R. bildet das Jahr 1918 "den Beginn der bis in die 60er Jahre anhaltenden spannungsgeladenen Beziehung zwischen Staat und evangelischer Kirche in den Fragen der Schulpolitik", die innerkirchlich erst 1936 ihren Höhepunkt erreichten. Diese beiden Verläufe sowie die in der Weimarer Reichsverfassung proklamierte "Demokratisierung" des Schulwesens sind die Folie, auf der im Parlamentarischen Rat 1948/49 die Erziehungs- und Schulproblematik thematisiert und im Grundgesetz zum Ausdruck gebracht wurde. Waren die einschlägigen Überlegungen "bürgerlicher Widerstandskreise" für die schulpolitischen Auseinandersetzungen nach 1945 letztlich unerheblich, so kam der schulpolitische Selbstklärungsprozess innerhalb der evangelischen Kirche erst 1958 zur Ruhe (23).

Mit Recht setzt M.-R. mit den radikal laizistischen "Novembererlassen" in Preußen ein, für die vor allem Kultusminister Adolph Hoffmann (USPD), ein engagierter Freidenker ("Zehn-Gebote-Hoffmann"), verantwortlich war. Der S. 65 ff. dokumentierte Erlass vom 29.11.1918 gleicht eher einer Freidenker-Hymne als einem soliden Rechtstext. Hier hätte auch Bayern herangezogen werden müssen, wo der von liberalem Kulturbegriff und Laizismus geprägte ehemalige Pfälzer Volksschullehrer Johannes Hoffmann (SPD) als Kultusminister und (nach Eisners Ermordung) als Ministerpräsident amtierte; seine Erlasse sind das getreue Spiegelbild Preußens! Zu Beginn der Weimarer Zeit begegnete den Kirchenleitungen und dem Kirchenvolk Demokratie gerade nicht als Einladung zu einer "Kooperation zwischen Staat und Kirche um der freiheitsfreundlichen Konkretisierung der Religionsfreiheit" willen (so Nipkow, 721), sondern als massive Bedrohung und Dogmatisierung der negativen Bekenntnisfreiheit, die dann in verschiedenen Schüben aus verschiedenen Motiven aktualisiert wurde.

Bei allem Wandel der politischen Systeme gehörte zur Grundhaltung der evangelischen Kirche das Bestreben, "durch die Bewahrung ihres Einflusses auf das Schulwesen einer staatlichen Hegemonie bei der Ausbildung individueller Wertvorstellungen zu wehren, gegenüber den beiden demokratischen Staatsformen ebenso ... wie gegenüber der nationalsozialistischen Diktatur" (40). Weiter betont M.-R., dass vieles dafür spricht, "daß in der evangelischen Kirche die regionalen Strukturen und Einstellungen die eigenen schulpolitischen Zielsetzungen viel stärker bestimmten als eine bei der katholischen Kirche unternommene Anleihe" (49). Die Differenz zwischen beiden Kirchen wird im Blick auf das Elternrecht deutlich (50). Aber: Da eine gewisse Vergleichgültigung des Institutionellen und Rechtlichen zum Erbe des Protestantismus gehört (367), verwundert es nicht, dass bei wichtigen kulturpolitischen Absicherungen evangelischer Schulpolitik die katholische Kirche die Kärrnerarbeit leistete! Ein Grundproblem evangelischen bildungspolitischen Handelns sieht M.-R. auch in "ekklesiologischen Differenzen" begründet, die "durch einander konträre theologische Grundmuster" verstärkt wurden (36). Auch wurden (nicht nur im sog. "Kirchenkampf") ekklesiologische Kontroversen und konfessionelle Pluralität "von persönlichen Animositäten begleitet" (96). "Im Medium der Schulfragen (wurden) viel tiefer liegende Konflikte verhandelt" (504, vgl. 375)!

Hierzu gehören auch die Auseinandersetzungen zwischen Liberaler und Dialektischer Theologie (39, 501 ff.). Nicht nur, dass im evangelischen Lager das "Republikanertum aus Vernunft" eher bei den gerade auch von den "Krisentheologen" geschmähten Kulturprotestanten (z. B. Harnack, Rade, Troeltsch) zu Hause war und dass die Kritik an der parlamentarisch-liberalen Demokratie (bis nach 1949) nicht nur bei einer "rechten Fronde", sondern auch bei Vertretern der Dialektischen Theologie (Barth) und der Bekennenden Kirche (Niemöller) mit ihrer politischen Option für einen (recht diffusen) "Sozialismus" ihren Ort hatte: Während z. B. Carlo Schmid (SPD) und Theodor Heuss (FDP) bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates in der Schulpolitik tendenziell eine eher "kulturprotestantische Auffassung" durchsetzten (369), mithin von einer "unersetzbaren kulturellen Prägekraft des Christentums in seiner Amalgamierung mit der spezifisch europäisch-abendländischen Geistesgeschichte", die es zu bewahren gelte, ausgingen, war man auf offizieller evangelischer Seite nicht nur katholischen Bildungsmodellen im Horizont des Natur-Gnade-Schemas, sondern auch einer neuhumanistisch-idealistischen Pädagogik und kulturprotestantischen, von Glaube und Bibel, aber nicht von der Kirche ausgehenden Bildungsüberlegungen gegenüber kritisch eingestellt. Nicht nur Oskar Hammelsbeck verkündete programmatisch: Das Evangelium dürfe nicht pädagogisiert werden! So blieb evangelisches Erziehungshandeln letztlich ohne eigene Theorie; zaghafte Versuche, über so etwas wie eine Evangelische Pädagogik nachzudenken, wurden als "katholisierende Neigungen" (729) verdächtigt. Die Formel vom "freien Dienst der Kirche an einer freien Schule" genügte weder im Osten noch im Westen, um das Auseinanderfallen der bildungstheoretischen Begründung der Schule durch Staat und evangelische Kirche, den Rückzug auf den RU (in schulischer oder kirchlicher Gestalt), auf das Elternhaus und (vor allem) die Gemeinde aufzuhalten (361, 107).

Zu wichtigen Kontinuitätslinien gehören - bei allen inhaltlichen Umbesetzungen - auch Strukturen! Hier dokumentiert M.-R. z. B. die Kontinuität des gegen eine Mitwirkung der Kirche im Bereich schulischer Bildung/Erziehung gerichteten Arguments, dass "konfessionelle" Elemente "gemeinsamer" Erziehung nicht förderlich seien. Ideologisch wurde die Forderung einer "Entkonfessionalisierung" (meist im Sinne einer "Entchristlichung") verschieden begründet; der Bogen spannt sich von freidenkerisch-kulturrevolutionären (65 ff.) über völkisch-rassische (167 ff.) bis hin zu "demokratischen" (352 ff.) und kommunistischen (298 ff.) Postulaten, was sich vor allem in den vielschichtigen Auseinandersetzungen um die Konfessionschule/Bekenntnisschule und Gemeinschaftsschule (25 ff.) niederschlug. Nicht nur die amerikanische Besatzungspolitik ab Ende 1946 "bediente sich eines Arguments, das bereits den Nationalsozialisten zur Durchsetzung ihrer Weltanschauung in der Schule gedient hatte" (352)! Dass hierbei Begriffe zu handlungsleitenden Metaphern werden können, zeigt nicht nur das Schlagwort von der "geistlichen Schulaufsicht", das vor allem in Volksschullehrerkreisen (vgl. Johannes Hoffmann) mit dem Ziel einer antikirchlichen Mobilisierung eingesetzt wurde, ohne näher zu erläutern, was damit überhaupt gemeint war (40 ff.): ein Auftragshandeln, das vom Staat ausging, und nicht ein genuin kirchliches Unternehmen. Überhaupt stellt auch für die Erforschung evangelischer Schulpolitik die Kenntnis des öffentlichen Raumes, in dem die Volksschullehrerschaft agierte, ein wichtiges Desiderat für die Weiterarbeit dar (48). - Am Ende darf eine Empfehlung dieses Buches stehen, das zu einer produktiven Weiterarbeit an dieser wichtigen Thematik ermutigt!