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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

957–959

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Hense, Ansgar

Titel/Untertitel:

Glockenläuten und Uhrenschlag. Der Gebrauch von Kirchenglocken in der kirchlichen und staatlichen Rechtsordnung.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1998. 418 S. 8 = Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, 32. Kart. DM 124,-. ISBN 3-428-08346-1.

Rezensent:

Gerhard Sprenger

Der Klang der Glocken ist, wie derjenige aller anderen Musikinstrumente (denn das sind Glocken eigentlich) immer auch mit Geräusch verbunden. Und insofern sich das Läuten im öffentlichen Raum ereignet, hat es auch eine juristische Seite.

Grundsätzlich ist Glockenrecht dem liturgischen Recht zuzuschreiben. Glocken gelten in der katholischen Kirche als Sakramentale, für die evangelische Kirche ist ihr Läuten eine kultisch-sakrale Handlung mit dem Sinn der Verkündigung des Gotteslobes und der Ruf nach Gebet und Gottesdienst. Freilich gab es von Beginn an auch so etwas wie einen nicht-sakralen Gebrauch der Glocken. Sie läuteten bei wichtigen kommunalen Festen, beim Einzug des Landesherrn, bei Unwetter oder Feuer ("Hört ihr's wimmern hoch vom Turm? / Das ist Sturm! / Rot wie Blut / ist der Himmel".). Und gelegentlich vermischten sich das Heilige und das Profane, etwa beim Läuten der Armensünderglocke oder - bis heute umstritten - beim Kirchturmuhrschlagen. Die Unterscheidung zwischen liturgischem und nicht-sakralem Gebrauch war schon immer problematisch.

Und schon immer gab es politisch motiviertes Läuten, wobei die Symbolkraft des Glockenklanges für ganz andere Zwecke einzusetzen versucht wurde: etwa aus Anlass des Golfkrieges, der Wiedervereinigung, bei der Änderung des Asylrechts oder der Asylpraxis, bei drohender Schließung eines Krankenhauses und anderem mehr. Von extremem Missbrauch kann man in diesem Zusammenhang in einigen Fällen während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sprechen, in der von Glocken als "Werkzeugen der Gemeinschaft" die Rede war, deren Geläut "als Mittel der Volksführung bei der festlichen Gestaltung des völkischen Bewußtseins in Anspruch genommen" werden müsse. Gemeint waren unter anderem Heldengedenktage, Nationalfeiertage, bedeutsame Sportereignisse (das Berliner Olympia-Stadion verfügt über einen Glockenturm) etc. Umstritten, um noch ein Beispiel aus jüngerer Zeit zu nennen, blieb das Läuten am Tag der Unschuldigen Kinder (28. Dezember). Aus einer Einzelaktion des Fuldaer Bischofs im Jahre 1988 entstand ein Jahr später eine Initiative aller deutschen katholischen Bischöfe.

Sieht man einmal von diesen einzelnen Beispielen des Ausscherens aus der sakralen Verwendung der Glocken ab, so wird man sagen müssen, dass in kaum einem anderen Phänomen der Prozess der Säkularisierung so sichtbar (oder hörbar) wird wie im Geläut der Kirchenglocken, das als gemeinchristliches, fast überkonfessionelles Symbolsystem im Zuge der Differenzierung von Kirche und Staat in den "anderen Bereich" hineinragte, nämlich den des Kultes. Religionsausübung als öffentliche Erscheinung gewann im Rahmen der Konfessionalisierung erstmals staatsrechtliche Konturen und beeinflusste so das soziale Leben. Wo aber der religiöse Glaube sich als Kult zeigte, wurde er für den Staat greifbar; Bestimmungen zur Regelung der Religionsausübung sind bereits im Westfälischen Frieden 1648 zu finden.

Glockenläuten als Signum öffentlicher Religionsausübung wurde so Gegenstand der Kulturfreiheit. Dies beschwor konstitutionelle Probleme herauf. Hier schob sich die Kompetenz des Staates nach vorn. So gab es bereits im vorigen Jahrhundert Konflikte im Zusammenhang mit dem Läuten. Der schier un-endliche Facettenreichtum dieser Problematik wird von Ansgar Hense in seinem umfangreichen Werk nachgezeichnet, wobei er nicht nur den kulturellen, historischen und innerkirchlichen Hintergründen des Glockenrechts nachgegangen ist, sondern darüber hinaus der Frage, wie die "Sprache der Glocke" verfassungsrechtlich heute zu qualifizieren sei.

Grundsätzlich sind das Recht auf Glocken und ihr Gebrauch durch die Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung nach Art. 4 Abs. 2 unseres Grundgesetzes (GG) anerkannt. Freilich darf dies nicht so verstanden werden, dass ausschließlich christliche Religionsgemeinschaften ihre Glocken läuten dürfen. Für die Differenzierung zwischen liturgischem Geläut einerseits und Uhr- oder Zeitschlag andererseits ist nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts die innerkirchliche Zwecksetzung als Kriterium maßgebend. - Der Glockengebrauch ist Gegenstand des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, wobei hinsichtlich des Zeitschlagens auf Grund der Rechtsprechung seit einigen Jahren eine Einschränkung gilt: Dieses wird lediglich als Ausfluss des Eigentumsrechts gesehen. Die Gewährleistung des Glockengebrauchs durch den Staat ist verfassungsrechtlichen Schranken unterworfen. Es gibt eine Reihe konfligierender Verfassungsgüter wie den Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1), den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (Art. 14) oder die sogenannte negative Religionsfreiheit.

Der "Verlust der Stille" führt nach heute allgemein gültiger Auffassung zur Beeinträchtigung der Lebensqualität. Da die Stille durch das Läuten von Kirchenglocken unterbrochen wird, können deshalb auch hier negative Auswirkungen nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Auch wenn das Läuten grundsätzlich als harmonisches Geräusch gilt, wird der hohe Impulscharakter des Glockenklanges, insbesondere beim Zeitschlagen, als bedenklich empfunden. Lärm ist freilich nicht gleich Lärm. H. führt in seiner Arbeit dafür ein schönes Beispiel an: Während der Schrei der Möwe am Meeresstrand als natürlich empfunden wird, kann er über einer Mülldeponie störend sein. Klangreichtum kann einerseits faszinieren, andererseits als unpassend begegnen - die Wahrnehmung enthält ohne Zweifel eine starke subjektive Komponente derart, dass mit wachsender Sympathie im Verhältnis zur Geräuschquelle der Grad der Belästigung abnimmt. So erscheint der Gedanke, dass die zunehmende Zahl der Glockenstreitigkeiten auf die wachsende Distanz zum kirchlichen Leben und den Autoritätszerfall der Kirche zurückzuführen sei, nicht ganz abwegig: Werden die theologischen Implikationen noch wahrgenommen oder nur ein belangloses Tönen ohne tiefere Bedeutung? In der Tat sind seit der Mitte der siebziger Jahre Glockengeläut und Uhrenschlag immer häufiger Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzung unter immissionsschutzrechtlichen Gesichtspunkten gewesen.

Hier liefert H. nun eine Fülle von Details aus dem Schrifttum und der Rechtsprechung. Kriterien wie der selbstgewählte Aufwachzeitpunkt (Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit!), die Beeinträchtigung des besonders schutzwürdig erscheinenden Kurbetriebs (eingerichteter und ausgeübter Gewerbebetrieb), aber auch die möglicherweise beeinträchtigte "freie Aussicht" im Zusammenhang mit dem Bau von Glockentürmen können eine Rolle spielen. Als besonders problematisch zeigt sich die sogenannte negative Religionsfreiheit, d. h. der "Zwang zum Hören" eines religiösen Symbols ohne jede Ausweichmöglichkeit (man kann nicht einfach "weghören"). Dieser Aspekt hat seit dem sog. Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts an Gewicht gewonnen. Gesichtspunkte der Lärmvorbelastung am Einwirkungsort, der Sozialadäquanz und der Zumutbarkeit sowie der Herkömmlichkeit spielen bei den Streitigkeiten eine wesentliche Rolle. Die ohnehin komplexe Sachlage erfährt ein weiteres Erschwernis noch dadurch, dass hier öffentliches und privates Recht als gesonderte Teilrechtsordnungen konkurrieren, so dass die Findung des geeigneten Rechtsweges bereits Probleme bereiten kann.

H. hat mit seiner grundlegenden Untersuchung, in der die bisherige Entwicklung und der letzte Stand der Forschung und der Rechtsprechung zu dieser Thematik aufgezeichnet und mit reichhaltigem Quellenmaterial versehen ist, eine Dokumentation vorgelegt, die für jede Weiterführung wegweisend erscheint.