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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

955–957

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Debus, Anne

Titel/Untertitel:

Das Verfassungsprinzip der Toleranz unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1999. 268 S. 8 = Europäische Hochschulschriften. Reihe II: Rechtswissenschaft, 2607. Kart. DM 84.-. ISBN 3-631-34456-2

Rezensent:

Helmut Goerlich

Die Marburger juristische Dissertation aus dem Jahre 1998 beschäftigt sich mit einem aktuellen Thema. Nachdem nämlich die Rechtsprechung - insbesondere der sogenannte Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts - das Gleichgewicht zwischen abweichendem und allgemeinem Verhalten neu auszutarieren sucht, war eine Arbeit aus dem Blickwinkel der Toleranz dazu fällig. Schon das mehr als vierzig Seiten umfassende Literaturverzeichnis macht deutlich, in welche Dimensionen der Gegenstand führt. Die juristische Literatur wird denn auch eigens referiert - nach einem besonderen Abschnitt zur "historischen Genese" von der Toleranz zur Religionsfreiheit und einer "grundsätzlichen Standortbestimmung" zur Toleranz zwischen rechtshistorischen, ethisch-sittlichen sowie rechtlichen Bezügen sowie einer Abgrenzung zum Indifferentismus und schließlich zu klassischen anderen Prinzipien, insbesondere denen von Neutralität und Parität. Darauf folgt nach der Literaturkritik ein Blick in die Weimarer Verfassung und das Grundgesetz, um sodann auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts- sowohl für den politischen als auch für den religiösen Bereich - einzugehen. Das wird in einem zweiten Durchgang inhaltlich vertieft. Danach findet sich eine Analyse zur Toleranz heute auf Seiten des Staates sowie auf Seiten der Bürger. Dabei ergibt sich schließlich eine Wendung zur Verpflichtung der Bürger auf Toleranz im Sinne einer "Bürgerzielbestimmung", die rechtsdogmatisch ein novum darstellt, normativ aber an ältere Vorstellungen anknüpft, etwa von Grund- pflichten des einzelnen sowie sachlich an Traditionen einer Berufung von Voraussetzungen des modernen Staates, von denen dieser lebt, die er aber nicht selbst herstellen kann (E.-W. Böckenförde). Das ist verbunden mit der Formulierung einer Verfassungsänderung, die lauten soll: "Toleranz ist Staatsbürgertugend. Die Bürger sind und bleiben zu ihrer Verwirklichung aufgefordert." Auf dieses emphatische Ende der Arbeit, das eine wichtige Seite der Toleranz hervorhebt, folgen noch Auszüge aus Entscheidungsgründen des Bundesverfassungsgerichts, die Aussagen zur "Toleranz" enthalten.

Die Arbeit stellt sich nicht nur in den Zusammenhang des deutschen Verfassungsrechts, sondern auch der globalen These vom kommenden Kampf der Kulturen. Ob dem wirklich so sein wird oder ob diese These von Samuel P. Huntingdon eher eine Konsequenz der weltweiten Präsenz der westlichen Hemisphäre und ihrer Denk- und Lebensformen ist, darauf kommt es nicht an. Denn im Mikrokosmos der örtlichen Gemeinschaft, ihrer heutigen Vielfalt und Ausdifferenzierung und damit auch ihrer Anonymität wird Toleranz zunehmend das einzige Band, das Gemeinsames sichtbar zum Ausdruck bringt. Der Verlust an soziokultureller Homogenität ist nämlich nicht ein Ergebnis externer Einflüsse, sondern endogener Veränderungen westlicher Gesellschaften, kurz: Weder der Kampf der Kulturen noch die Migrationsbewegungen in die reicheren Länder sind die Ursache für den gebotenen gesteigerten Rückgriff auf Toleranzkonzepte, es sind vielmehr die westliche Gesellschaften selbst, die sie kraft ihrer eigenen Entwicklung erforderlich machen.

Darin liegt auch der innere Grund, weshalb die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Gleichgewicht zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit verändert. Damit ist das Phänomen gemeint, dass heute der Minderheitenschutz zugunsten abweichenden Verhaltens stärker in den Vordergrund treten muss als ein Homogenität voraussetzender "Öffentlichkeitsanspruch", der ohnehin nicht rechtlich durchsetzbar ist und war. Denn die Präsenz der Religion kann nur in gleicher Vielfalt erfolgen, wenn es einen allgemeinen Kanon nicht mehr gibt. Das gilt auch oder gerade dort, wo nur eine randständige Personengruppe abweicht. Toleranz wird so zum Teil des gemeinsamen Bodens, von dem auch eine ausdifferenzierte Gesellschaft wissen muss. Außerdem wird sie Schlüsselbegriff für eine Reinterpretation der Rahmenbedingungen, die die Gerichte zu leisten haben.

All dies wird durch die Arbeit deutlich. Ihre rechtsbegrifflichen und systematischen Bemühungen können helfen, die angedeutete neue Nachfrage nach Toleranz nicht ins Leere stoßen zu lassen. Denn die sozialen Phänomene können von Rechtspraktikern nur dann in einen angemessenen rechtlichen Zusammenhang gestellt werden, wenn das juristische Handwerkszeug vorab schon genutzt wurde, um die Versatzstücke eines angemessenen rechtlichen neuen Zugangs für andere als die bisherigen Lösungen vorzubereiten. Zugleich zeigt die Untersuchung, dass geschichtliche Begriffe oft eine große Breite und Vieldeutigkeit besitzen. Das macht sie als Rechtsbegriffe insofern untauglich, als eine vom allgemeinen schwankenden Sprachgebrauch deutlich unterschiedene, präzise Fassung ihres Inhalts sich rechtsdogmatisch oft kaum erreichen lässt. Deshalb dienen sie dann im praktischen Geschäft der Begründung von Rechtsentscheidungen oft nur als Siegel von Arbeitsschritten einer genaueren Zuordnung von Rechten und Pflichten im Interesse eines angemessenen Ausgleichs am Anfang oder am Ende der Argumentation. Sie können aber diese Argumentation nicht ersetzen oder bereichern, sind vielmehr tatsächlich nur Signalwort oder Bestätigung solcher Arbeitsschritte, die rechtstechnisch zu vollziehen sind, sollen die betreffenden Rechtsentscheidungen eine hinreichende Begründung erfahren.

Gelegentlich übernimmt der Autor historische Deutungen zu großzügig - ohne dass das Thema ihn dazu zwänge. So etwa, wenn er Thesen von Daniel Goldhagen zu folgen scheint und dies mit törichten Äußerungen des letzten deutschen Kaisers zu belegen sucht. Aber das schadet nur in Grenzen. In diesem Sinne ist es auch erstaunlich, dass einerseits eine Bürgerpflicht am Ende postuliert wird, die großen aufgeklärten Erzieher des 18.Jh.s wie Gotthold E. Lessing und Moses Mendelssohn mit ihren Schriften aber nicht erscheinen. Hier zeigt sich, dass die "Bürgerzielbestimmung" zur Toleranz denn doch etwas überraschend hervorbricht, obwohl sie gewiss im größeren Zusammenhang bis hin zur réligion civile steht.

Die Untersuchung bietet aber das Spektrum und die Tiefe der Analyse wie nur gute juristischen Dissertation sie aufweisen. Die Bewältigung des Materials, die Handhabung des Stoffes und die Breite der Bildung, die dem Autor einer solchen Schrift eigen sein muss, sind überdurchschnittlich. Das macht die Arbeit über ihr eigenes Fach hinaus interessant und lesenswert. Diese interdisziplinäre Seite des Gegenstandes ist hinreichender Grund, die Untersuchung hier hervorzuheben.