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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

954 f

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Brakelmann, Günter, Friedrich, Norbert, u. Traugott Jähnichen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Auf dem Weg zum Grundgesetz. Beiträge zum Verfassungsverständnis des neuzeitlichen Protestantismus.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 1999. 281 S. gr.8 = Entwürfe zur christlichen Gesellschaftswissenschaft, 10. Kart. DM 49,80. ISBN 3-8258-4224-X.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Gegenwärtig werden Fragen des Staatskirchenrechtes und des Religionsrechtes neu aktuell. Dies zeigt sich an den Debatten zur Einführung eines islamischen Religionsunterrichtes oder um das Fach LER in Brandenburg oder daran, dass Staatskirchenverträge oder Konkordate in Politik und Öffentlichkeit zumindest gelegentlich zur Disposition gestellt werden. Zudem werden gesamteuropäische Rechtsentwicklungen für das deutsche Religions- und Staatskirchenrecht verstärkt belangvoll werden. Die Regierungskonferenz von Amsterdam hat 1997 erklärt, dass die Europäische Union den Rechtsstatus von Kirchen oder religiösen Vereinigungen in den Mitgliedsstaaten achtet. Diese Erklärung ist aber kein Bestandteil der EU-Verträge selbst. Dagegen lässt sich Art. 13 des Amsterdamer EU-Vertrages (Verbot der Diskriminierung von Menschen aus Gründen der Religion oder Weltanschauung) dergestalt auslegen, dass er z. B. das kirchliche Arbeitsrecht, das in der Bundesrepublik Deutschland vom Staat anerkannt wird, auf Dauer in Frage stellen könnte. Das Staatskirchenrecht gerät zur Zeit mithin in Bewegung.

Der von G. Brakelmann, N. Friedrich und T. Jähnichen edierte Band widmet sich solchen aktuellen Problemen zwar nicht explizit. Vielmehr schildert er den Zugang des deutschen Protestantismus zur Verfassungsgeschichte, und zwar vornehmlich zum Staatskirchen- und Religionsrecht, seit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 bis zum Bonner Grundgesetz von 1949. Dieser Rückblick ist aber nicht nur rechtshistorisch, sondern implizit ebenfalls für Zukunftsfragen überaus erhellend. Die siebzehn Beiträge des Buches behandeln Aspekte des Staatskirchenrechts im Preußischen Allgemeinen Landrecht und in der Paulskirchenverfassung von 1848, die Mischehenproblematik im 19. Jh., die Grundrechte und das Staatskirchenrecht der Weimarer Reichsverfassung, den christlichen Religionsunterricht in der Weimarer Republik oder die Debatte, die 1948/49 zur Nennung Gottes in der Präambel des Bonner Grundgesetzes stattfand. Ferner gelangen Ideen protestantischer Laien (z. B. aus dem Freiburger Kreis, der in Opposition zum NS-Regime stand, oder namentlich von Gerhard Leibholz und Gerhard Ritter) zum Staats- und Verfassungsverständnis zur Sprache. Angesichts der heutigen Diskussion über Grundrechte in Europa ist von neuem Interesse, welche Impulse der Theologe und liberale Politiker Friedrich Naumann zur Weimarer Reichsverfassung gesetzt hat. Von Naumann stammt der Grundrechtsteil ("Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen") der Weimarer Verfassung (vgl. D. Beese 59 f.). Indem ihm 1919 zumindest im Ansatz die Kodifizierung von Grundrechten gelang, hat er verfassungsgeschichtlich Bahnbrechendes geleistet. Überdies hat wesentlich er es erwirkt, dass die Weimarer Verfassung die Staatskirchenartikel erhielt, die dann in das Bonner Grundgesetz (Art. 140) inkorporiert wurden. Der informative Aufsatz von F. Wittekind (77-97) gibt die Verfassungsdebatte wieder, aus der in der Weimarer Republik das Staatskirchenrecht und die Gewährung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes für die Kirchen resultierten. Die hochkontroversen Beratungen im Verfassungsausschuss hätten damals freilich beinahe zur vollständigen Abtrennung von Staat und Kirche und zu einem lediglich vereinsrechtlichen Status der Kirchen geführt (86). Naumann selbst lag an einer Verselbständigung von Kirche ("freier Protestantismus") und Staat und aus diesem Grunde an der staatlich-steuerrechtlich gewährleisteten finanziellen Absicherung der Kirchen (91). Direkte Staatsleistungen an die Kirchen sollten ihm und anderen damals Beteiligten (SPD, DVP) zufolge rasch abgelöst werden (88, 95). Die Zentrumspartei oder die konservative DNVP hatten hingegen für die Rettung überkommener kirchlicher Privilegien plädiert. Naumann verstand die demokratische Verfassung als Rahmen für einen weltanschaulich-religiösen Pluralismus in der Gesellschaft (78, 84, 91, 94).

Sicherlich hätten weitere Themen in dem Sammelband eine eigene Erörterung verdient. Die Rechtsstellung theologischer Universitätsfakultäten wird nicht näher beleuchtet. Beiläufig wird erwähnt, dass sich die Theologischen Fakultäten in Kiel, Göttingen und Marburg unter Berufung auf die Freiheit von Forschung und Lehre gegen Art. 11 des Preußischen Staatskirchenvertrages von 1931 wandten, der den Kirchen die Möglichkeit zur Stellungnahme bei der Berufung von Theologieprofessoren konzedierte (H. Koch 108; vgl. R. Hering 125, 136f.). Anders als es in der Weimarer Verfassung (Art. 149) der Fall war, enthält das Bonner Grundgesetz keine Garantie staatlicher theologischer Fakultäten im Verfassungsrang mehr. Eine Engführung des Sammelbandes besteht darin, dass er die verfassungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen für nichtchristliche Bürgerinnen und Bürger nicht darstellt und z. B. nicht der Frage nachgeht, welchen Status neben dem christlichen der jüdische Religionsunterricht vor und nach 1919 besaß.

Insgesamt dokumentiert das Buch aber sehr eindringlich, welch hohe sozialethische und verfassungsrechtliche Dynamik sich mit dem Grundrecht auf Religions- und Gewissensfreiheit, dem Religionsrecht und dem Staatskirchenrecht in den letzten zweihundert Jahren verband. So gesehen bildet es kein Novum, wenn die europäische Integration und die fortschreitende religiös-weltanschauliche Differenzierung der heutigen Gesellschaft in Zukunft möglicherweise erneut zu lebhaften staatskirchen- und religionsrechtlichen Debatten führen.