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Ausgabe:

September/2000

Spalte:

952 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Thomas, Günter

Titel/Untertitel:

Medien - Ritual - Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens.

Verlag:

Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. 723 S. 8 = Suhrkamp Taschenbuch, Wissenschaft, 1370. Kart. DM 36,80. ISBN 3-518-28970-5.

Rezensent:

Albrecht Grözinger

Am Anfang des Buches steht eine Aussage, die sich zwischen einer These und einer phänomenologischen Beschreibung ansiedelt: "Das Fernsehen ist das zentrale Ritual der vermeintlich ritenlosen und zunehmend säkularisierten modernen Gesellschaft. Das im Durchschnitt drei Stunden täglich genutzte Leitmedium der Industriegesellschaften begleitet als unendliche Liturgie den Alltag der Menschen." (17) Nun ist dieser Satz zu differenzieren und in seinem Plausibilitätsgehalt einsichtig zu machen. Genau dies unternimmt die umfangreiche Dissertation von T. und sie nimmt dabei den Leser und die Leserin mit auf eine mitunter anstrengende, mit Sicherheit aber lohnende Reise in das weite Gebiet von Analysen, Theoremen und Methoden, die sich mit den drei Leitbegriffen des Buchtitels ,Medien, Ritual, Religion' notwendigerweise verbinden müssen. Es sei gleich zu Anfang gesagt, dass T. in diesem verschlungenen Gebiet niemals die Übersicht verliert, und der Leser, die Leserin sich in seiner Darstellung immer als wohlorientiert ,verortet' weiß.

Die Ausgangsthese wird zunächst weiter differenziert und damit das Gelände beschrieben, dem die Reflexion des Autors gilt: "Die Intention des Fernsehens ist in ihrer Einheit aus Produktion, Präsentation und Rezeption als eine in sich differenzierte, in vielfältige Einzelrituale fein gegliederte, endlose rituell-liturgische Ordnung dieser Gesellschaften zu betrachten, die auch Funktionen von Religion übernommen hat. Als eine implizite, d. h. sich nicht selbst als solche verstehende ,Religion' ist das Fernsehen ein stark ritualisiertes Symbolsystem, das die Kulturen funktional ausdifferenzierter Gesellschaften mit einer umgreifenden Kosmologie versorgt." (17.) Wer derart ausgreifend formuliert und damit den Widerspruch oder zumindest kritische Fragen geradezu provoziert, tut gut daran, theoretisch und methodisch gut ausgestattet zu sein. Aufbau und Durchführung der Arbeit zeigen, dass dies bei T. der Fall ist.

T. differenziert seine Ausgangsthese fünffach: Die theologische These weist der Systematischen Theologie die Aufgabe zu, verantwortliche Rede von Gott auch als kritische Wahrnehmung der Kultur der Gegenwart zu entfalten. Die anthropologisch-kulturwissenschaftliche These erhält darin ihre Zuspitzung, dass T. gerade (post-)moderne Gesellschaften als durch und durch von Riten bestimmte Gesellschaften versteht. Der Prozess der Moderne ist nicht als Entritualisierung der Gesellschaft zu verstehen, sondern als Transformationsvorgang, der alte Riten durch neue ersetzt. Die religionswissenschaftliche These versucht in modernen Gesellschaften ,Phänomene impliziter Religion' zu identifizieren, die sich selbst gleichwohl nicht als Religion begreifen. Die medienwissenschaftliche These nimmt das Fernsehen als ,emergente Einheit' in den Blick, wobei diese Einheit für T. nicht zuletzt durch den rituellen Charakter des Fernsehens mit erzeugt wird. Die soziologische These schließlich versteht im engen Anschluss an Luhmann das Mediensystem als gesellschaftliches Teilsystem, innerhalb dessen das Fernsehen wiederum einen spezifischen Part übernimmt. Es charakterisiert den Fortgang der Arbeit, dass diese fünffache Perspektivsetzung stets fruchtbar aufeinander bezogen bleibt, wobei die einzelnen Kapitel aber bei der Gewichtung der fünffachen Perspektivsetzung durchaus verschiedene Akzente setzen.

In acht umfangreichen Kapiteln versucht T. die Plausibilität seiner Thesen durch theoretische Einsichten und methodisch reflektierte Analysen zu erweisen. Kapitel 1 entfaltet die theologische Perspektive auf das Fernsehen; Kapitel 2 klärt, was die Begriffe ,Religion' und ,Ritual' zur Erschließung des Fernsehens als emergenter Einheit beitragen können. Kapitel 3 diskutiert theologische Theorien des Fernsehens, während Kapitel 4 den gleichen Zusammenhang in psychologischer, anthropologischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive in den Blick nimmt. Kapitel 5 erörtert, das bisher Erarbeitete aufnehmend und vertiefend, den Zusammenhang von Kultur, Religion und Ritual. Kapitel 6 markiert ein erneutes Anheben, indem es differenziert die ,liturgische Ordnung des Fernsehprogramms' in den Blick nimmt und als eine ,Kosmologie für ausdifferenzierte Gesellschaften' interpretiert (Kapitel 7). Ein ungemein anregendes Kapitel 8 versucht angesichts der These vom Fernsehen als Liturgie des Alltags die Aufgabe der Systematischen Theologie in einer medienreligiösen Umwelt zu bestimmen.

Die Rezension kann nicht von ferne den Reichtum der von T. entwickelten Argumentation und die Fülle der herangezogenen und kritisch beleuchteten theoretischen Ansätze darstellen. Mir hat sich das Buch als eine konsistente Theorie des Fernsehens erschlossen, die ihre Plausibilität nicht zuletzt daraus gewinnt, dass T. auch die Grenzen von Theorien, methodischen Ansätzen und Perspektivierungen beschreibt.

Obwohl das Buch eine Fülle nichttheologischer Fragestellungen und Theorien heranzieht und gerade darin seine Bedeutung für die weitere Diskussion gewinnt, bleibt es durch und durch ein Buch, das aus einer theologischen Leidenschaft heraus geschrieben wurde. Gerade deshalb aber scheinen mir die nüchtern-mahnenden Worte, die T. gegen Schluss findet, bedeutsam zu sein. Er endet nämlich gerade nicht bei einer theologisch-religiös unterfütterten Medien-Euphorie. ,Kirche' ist im Fernsehen stets auch am fremden Ort und deshalb in ihrer Kenntlichkeit auch nur unter Verlusten präsent:

"Eine unter dem Einfluß der Medienformate erfolgreich und dauerhaft medial vergegenwärtigte Kirche läßt gegenüber der Binnenperspektive kirchlichen Erfahrens und Handelns problematisch verzerrte Außenperspektiven entstehen, kultiviert inadäquate Erwartungen und zerrüttet Elemente alltagsnaher Frömmigkeitspraxis. Dies gilt sowohl für berichtende wie auch unterhaltsame mediale ,Beobachtungen' der Kirche. Die Aufnahme der Kirche in die Kosmologie des Mediensystems erfordert einen Preis der nicht steuerbaren und nicht rückholbaren Selbsttransformation, den eine sich ihrer theologischen Identität gewisse Kirche und ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit bewußte Kirche schwerlich bereit sein wird zu zahlen. Sie wird den Mut aufbringen, auf die Bestätigung durch die rituelle ,wirkliche Wirklichkeit' zu verzichten, und gelassen in dem stets stattfindenden kulturellen ,Kampf um das Wirkliche' ihren Beitrag leisten. Mit einer konfliktfreudigen und solchermaßen gelassenen Bestreitung des faktischen Anspruchs des Fernsehens, die dominierende kulturelle Instanz der Festlegung des ,Wirklichen' zu sein, wird die Kirche der Gesamtkultur den besseren Dienst erweisen." (615 f.)