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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1244–1246

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Moltmann, Jürgen

Titel/Untertitel:

Gott im Projekt der modernen Welt. Beiträge zur öffentlichen Relevanz der Theologie.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1997. 236 S. gr.8. Kart. DM 48,-. ISBN 3-579-02079-X.

Rezensent:

Matthias Heesch

Die Frage, was der christliche Glaube und dessen wissenschaftlich gewonnenene Reflexionsgestalt, die Theologie, einer säkularen Öffentlichkeit zu sagen haben, ist eines der Hauptthemen gegenwärtiger Theologie, wobei es zwar auch um deren institutionellen Bestand geht, vor allem aber um die Selbstvergewisserung der Theologie über ihren Auftrag angesichts des irritierenden Faktums geringer werdender Akzeptanz. Daß besorgtes Nachdenken über dieses Zurückgehen der Akzeptanz nicht zum Selbstläufer wird, auf den man - wie mittlerweile verschiedentlich geschehen - mit der Einschaltung von Werbeagenturen reagiert, sondern daß der Rekurs auf die theologisch zu vertretende Sache und die Besinnung auf deren Öffentlichkeitsrelevanz in den Mittelpunkt gegenwärtiger theologischer und kirchlicher Orientierung gestellt wird, ist das zentrale Anliegen von J. Moltmanns im folgenden zu besprechender Aufsatzsammlung.

M. geht von einer für das ganze Werk grundlegenden Gegenstandsbestimmung aus: Gegenstand der Theologie ist Gott (15). Näherhin hat die Theologie es mit Gott "in seiner Gegenwart und in seinem Reich" zu tun (15). Daraus ergibt sich, daß Theologie nie unpolitisch sein kann, denn indem die Theologie das Reich Gottes zur Sprache bringt, bringt sie, wie M., K. Barth folgend, feststellt, diejenige Instanz zur Sprache, der menschliche Reiche, wenn sie den Rahmen gelingenden Zusammenlebens bieten wollen, zu entsprechen haben (226). Mit anderen Worten: Theologie als wissenschaftliche Reflexion der Reich-Gottes-Verkündigung ist nicht auch und akzidentell, sondern ihrer Sache nach und damit wesentlich öffentlichkeitsrelevant (11, 224 f. u. ö.). Diese Wesensbestimmung führt dazu, daß Theologie als politische Theologie zu verstehen ist. Die Explikation dieses Begriffs bzw. Sachverhaltes ist eines der wesentlichen Anliegen des Buches. Politische Theologie ist zunächst "entprivatisierte Theologie" (47, nach J. B. Metz): "Politik ist ist der weiteste Kontext jeder christlichen Theologie" (48). Daß die Politik Kontext der Theologie ist, hat auch Einfluß auf die Politik: Es kommt zur "Entsakralisierung des Staates", zur "Relativierung der politischen Ordnungen" (48) im Interesse der "Befreiung von Gewalt und Armut" (69).

An diesen Formulierungen ist ersichtlich, daß M. den Aufgabenbereich der Theologie als sehr weit ansieht und ihr auch eine hohe Lösungskompetenz für die anstehenden Schwierigkeiten zubilligt. Sie ist als "Theologie der Befreiung" - und dies ist letztlich für M. kaum etwas anderes als die Umschreibung der Öffentlichkeitsrelevanz der Theologie (51-70) - "Alternativtheologie zum Kapitalismus" (68, 141 f. u. ö.), die eine "durch wechselseitige Anerkennung und Annahme" gekennzeichnete "personale Gemeinschaft" anstrebt (187), in der der Mensch nicht mehr funktional, d. h. nach seinem "Marktwert" gemessen und beurteilt wird (200 u. ö.). Diese Gemeinschaft umfaßt auch die nichtmenschliche Natur, in der sich, ebenso wie im Menschen, der Schöpferwille ausdrückt (105). Deswegen gehört es zu den Aufgaben der Theologie, die Natur als Quelle ihr gegenüber zu beachtender Pflichten (89-124) zu betrachten und dafür einzutreten, daß sie Rechtssubjekt wird (105). Diese Auffassung wird theologisch begründet: Gott ist in sich trinitarisch-relational (97), und aus dieser Wesensverfassung heraus ist auch die Schöpfung zu verstehen: In trinitätstheologischer Interpretation von Prov 8,22-31 geht M. von einer "weltimmanenten Präsenz" Gottes in der Schöpfung aus (98), die deswegen in bleibender Beziehung zum Schöpfer steht. Daraus ergibt sich ein Gebot Gottes zur Gemeinschaft aller Geschöpfe untereinander, das vom Menschen zu erfüllen ist (100).

Wenn also gilt, daß die Schöpfung als Bund Gottes mit seiner gesamten Schöpfung zu verstehen ist (105-107), dann gilt es, vermöge der Rechtsnatur des Bundes, sich für unmittelbar geltende Rechte der nichtmenschlichen Schöpfung einzusetzen (107) und so der "göttlichen Ökologie" (107) eine rechtsförmig geltende Entsprechung zu schaffen (107-110). Das setzt voraus, daß ein einseitig auf beherrschende Aneignung des Erkenntnisgegenstandes zielendes Paradigma von Wissen (17 u. ö.) zugunsten ganzheitlicher Konzepte hinterfragt wird (102-104). Sozialethisch gesehen entspricht dieser epistemologischen Hintanstellung des erkennend-beherrschenden Subjektes eine Orientierung an Gemeinschaftswerten im Interesse einer weltweiten Verbundenheit der Menschen untereinander und mit der Natur (184-187).

M.s Buch überzeugt vor allem durch zwei Aspekte: Zunächst werden klare Diagnosen gestellt: Die Gegenwart ist bedroht durch einen atomistischen Individualismus, der Gemeinschaftswerte, d.h. solche Belange, die nur durch gemeinsames Handeln gewahrt werden können, wie Friedensbewahrung, Umweltschutz und die Errichtung einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung (62 f.), unerreichbar macht. Dann ist aber vor allem hervorzuheben, daß die Antwort auf die mit diesen Problemen gestellten Fragen nicht aktionistisch, sondern theologisch-reflektierend ist. Man kann in gewisser Weise sagen, daß M. das auf Barth zurückgehende Konzept der "Entsprechungen" theologisch ausbaut und auf die Situation der Gegenwart anwendet. Die das Buch leitende klare theologische Konzeption verhindert auch, daß die Synthese mit ethisch und politisch, nicht aber theologisch nahestehenden Konzeptionen, am Ende unter Verschleierung der theologischen Differenzen, gesucht wird, so etwa im Falle der Abgrenzung gegenüber der humanistischen Christentumsinterpretation D. Sölles (168). Bemerkenswert - etwas außerhalb des gerade erwähnten Zusammenhangs - ist übrigens auch das Kapitel Covenant oder Leviathan? (31-49), das die politische Theoriebildung in der Frühzeit des Protestantismus eindrucksvoll und präzise beleuchtet.

Gerade weil der Gesamtrahmen von M.s Erörterungen überzeugend ist, fallen einige Einzelheiten auf, die - jedenfalls in der Fassung, in denen sie hier vorgetragen werden - verfehlt wirken.

Das beginnt mit einer historischen Unrichtigkeit: M. meint, daß die Bundesregierung 1983 bei der Nachrüstung "gegen die Mehrheit des Volkes im Auftrag der USA handelte" (56). War es aber nicht so, daß die Möglichkeit der Raketenstationierung zu klaren Optionen der beiden Bewerber um das Kanzleramt und der sie tragenden Parteien für bzw. gegen die Nachrüstung in der gerade vorangegangenen Bundestagswahl geführt hatte? Die seinerzeitigen Gegner der Nachrüstung - unter ihnen übrigens auch der Rez. - hatten zur Kenntnis zu nehmen, daß die Mehrheit sich im Sinne einer politischen Option für die Nachrüstung entschieden hatte. Die von M. hier gewählte Formulierung trägt dem in keiner Weise Rechnung. Aus Stellungnahmen wie der zitierten könnte die - insgesamt mit Sicherheit falsche - Auffassung abgeleitet werden, daß eine, wie immer begründete, "linke" Präferenz des Autors sekundär und gegen die Tatsachen theologisch und historisch legitimiert werden soll. In diese Richtung weisen auch manche, sicher diskussionswürdige, aber in ihrer hier gebotenen knappen Präsentation recht thetische Meinungsäußerungen des Autors:

Zu denken ist vor allem an die dezidierte Hochschätzung der Gemeinschaft und der an diese anknüpfenden Gemeinschaftsrechte. Wenn gilt, daß Freiheit in einer Gemeinschaft gegenseitiger "Anerkennung und Annahme" (187) realisiert wird, dann ist zu fragen, was das für die Gesellschaft bedeutet, die ja nicht ohne weiteres Gemeinschaft ist und sein kann. Es ist ja eine kaum abzuleugnende Tatsache, daß in einer Gesellschaft auch Menschen koexistieren müssen, die einander weder anerkennen noch akzeptieren, ja daß ethische Werte wie die, dem anderen anerkennend und annehmend zu begegnen, nicht einklagbar und oft reines Wunschdenken sind. Die rechtsförmige Garantie von Freiheit hat Freiheit gerade angesichts dieser - gewiß ebenso unerfreulichen wie andererseits weitverbreiteten - Tatsache zu sichern. Individuelle Freiheit wird natürlich von M. nicht geringgeschätzt, aber doch relativiert, denn ihr Subjekt ist das "bürgerliche Subjekt" (182), was auch immer das heißt. Im "ökumenischen Zeitalter" (184, vgl. 184-186) scheint dieses Subjekt in gewisser Weise überholt zu sein. Aber ist das so? Und was genau ist ein "bürgerliches Subjekt", und was kennzeichnet den Fortschritt über dieses hinaus im "ökumenischen Zeitalter", denn um einen Fortschritt, also eine bewahrende Ergänzung oder Aufhebung, im Unterschied zur einfachen Negation bürgerlicher Freiheit, muß es sich ja handeln? Die insgesamt recht klare Option für Gemeinschaft in der auf F. Tönnies zurückgehenden Alternative Gesellschaft bzw. Gemeinschaft erscheint nämlich nicht immer ausreichend begründet, vor allem wegen der Tendenz, das Individuum als Partizipanten von Gesellschaft in einer Teleologie hin auf Gemeinschaft zu verstehen.

Wie gesagt, das ist keine Kritik an den von M. befürworteten Sachentscheidungen, die in diesem Rahmen gar nicht diskutiert werden können. Es ist aber eine Erinnerung daran, daß dezidierte Thesen dezidierte Begründungen verlangen, und zwar mit wachsender Dezidiertheit um so mehr. Gerade in der Frage der Zuordnung von Individuum und Gemeinschaft und hinsichtlich des genuinen Rechtes des Individuums auch gegenüber der gelingendsten Gemeinschaft wäre den Argumenten des Buches noch einiges hinzuzufügen, wobei sich manches, was in dem Buch für Gemeinschaft gesagt wird, vielleicht relativierte.

Der positive Gesamteindruck, den ein Buch hinterläßt, das sich um konkrete Zeitdiagnose, theologisch-kategoriales Denken und gleichermaßen theologisch reflektierte wie auch problemorientierte Lösungen bemüht, wird aber durch die genannten Desiderate nicht in Frage gestellt. Denn M. hat gezeigt, daß Gott und die Theologie, die wissenschaftlich-reflektiert von Gott redet, tatsächlich relevant sind im Projekt der modernen Welt.