Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2000

Spalte:

949 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Radeck, Heike

Titel/Untertitel:

Ignatianische Exerzitien und Bibliodrama. Ein hermeneutischer Strukturvergleich.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1998. 173 S. gr. 8 = Praktische Theologie heute, 35. Kart. DM 39,80. ISBN 3-17-015277-7.

Rezensent:

Hildrun Keßler

Die in Marburg eingereichte Dissertation "Ignatianische Exerzitien und Bibliodrama. Ein hermeneutischer Strukturvergleich" widmet sich einer außergewöhnlichen Aufgabe: Sie stellt die Exerzitien des Ignatius von Loyola dem modernen Bibliodrama gegenüber und untersucht beide Zugänge zu biblischen Texten unter dem doppelten Aspekt der Rezeption des Textes und seines bleibenden Eigenwertes. Damit wird die seit einigen Jahren geführte wissenschaftliche Diskussion zur Theorie im Bibliodrama durch einen theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Aspekt, aber auch um wesentliche Einsichten der Rezeptionsästhetik bereichert.

Der erste Teil (15-68) der Arbeit skizziert auf dem biographischen Hintergrund des Ignatius von Loyola den vierwöchigen Exerzitienprozess. Die Lesenden erfahren, auf welch geordneten und wohl strukturierten Weg sich die Übenden begeben. Die einzelnen Bausteine werden in Abfolge und Intention beschrieben. Man spürt der Darstellung die theoretischen Kenntnisse, aber auch die praktischen Erfahrungen der Vfn. an. Die Mitte jedes Exerzitienprozesses bilden die contemplaciónes, in denen die Übenden durch Imaginationen, durch das Geschehenlassen innerer Vorstellungen innerhalb eines biblischen Textabschnittes eigene Erlebnishorizonte aktivieren. Hier setzt das analytische Interesse der Vfn. ein. Sie zieht zum Verständnis der Funktion der Imaginationen zum einen das Modell des Katathymen Bilderlebens nach Hanscarl Leuner heran. Zum anderen wählt sie die Symboltheorie Alfred Lorenzers, "weil er eine theoretische Formulierung sowohl des sinnlichen Zugangs als auch der darin angelegten Wechselwirkung zwischen Text und übender Person erlaubt" (55).

Die imaginative Textrezeption in den Exerzitien hat den Status einer "Logik des Symbolischen", in dem sie Bilder, Metaphern und Symbole, nach Lorenzer die sinnlich-symbolische Interaktionsform, in dem fremden Text entdeckt. Bilder und immer neue Symbolkomplexe steigen aus der persönlichen Lebensgeschichte der Übenden auf und korrespondieren mit den Szenen des biblischen Textes, wobei die Vita Jesu eine wesentlich ordnende Funktion für den Imaginationsreichtum hat. Die Ausrichtung an der Jesusgestalt als Ich-Ideal strukturiert die Rezeption, und ein Mehr an Bedeutung der Text- und Lebenswirklichkeit der Rezipierenden wird letztlich auf die Christusgestalt verengt. - Wie verhält es sich demgegenüber im Bibliodrama? Welche "Autorität" besitzt hier der biblische Text für dessen Aneignung in den gegenwärtig verschiedenen Bibliodrama-Schulen?

Im zweiten Teil (69-128) skizziert die Vfn. verschiedene bibliodramatische Ansätze: die "Mimesis" von Samuel Laeuchli, den leibhaftig-geistigen Übungsweg von Heidemarie Langer, den der themenzentrierten Interaktion nahestehenden Ansatz von Tim Schramm. Ausführlich geht die Vfn. auf das Bibliodramamodell von Gerhard Marcel Martin ein, in dem die exegetischen, spiel- und theaterpädagogischen und psychodramatischen Ausgangsfelder der Bibliodramaarbeit von Martin gewürdigt werden. Zum Verständnis einer bibliodramatischen Hermeneutik legen sich erneut die symboltheoretischen Überlegungen Alfred Lorenzers nahe, da Bibliodrama und Lorenzers Tiefenhermeneutik auf einem Wechselspiel zwischen dem "Text als präsentativem Symbol und den ihm korrespondierenden sinnlich-symbolischen Interaktionsformen" (122) der Interpretierenden beruhen. Diese Wechselwirkungen lassen eine Typologie der beschriebenen Bibliodramaansätze entstehen, mit der zum dritten Teil (129-162) übergeleitet wird. Es ist hier bedauerlich, dass das Werk von Else Natalie Warns/Heinrich Fallner, Bibliodrama als Prozess. Leitung und Beratung. Bielefeld 1994, in der Analyse kaum wahrgenommen wird, da Warns/Fallner gerade den Überlegungen zu "Bibliodrama - Hermeneutik und Theologie" breiten Raum schenken.

Der dritte, vergleichende Teil bietet einen differenzierten Strukturvergleich beider Konzepte, Exerzitien und Bibliodrama, wobei es der Vfn. mit dem rezeptionsästhetischen Ansatz Wolfgang Isers darauf ankommt, Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede von Exerzitien und Bibliodrama hervorzuheben. Gemeinsam ist beiden Modellen der besondere Zugang zu biblischen Texten, der - im Sinne einer postmodernen Hermeneutik formuliert - die Leserinnen/Leser zu den eigentlichen Autorinnen/Autoren jener Texte macht, die sie lesen. Der Hauptunterschied besteht nach der Vfn. darin, dass im Bibliodrama der vermeintlich eindeutige Text durch die bewusst beförderte Mehrperspektivität hindurch seine Eigenständigkeit bewahrt. Er bleibt durch alle Transpositionen in individuelle Gesten, Bilder und Symbole der Rezipierenden als fremdes Gegenüber erhalten. Die Exerzitien bedienen sich der Texte dagegen eher als ein Mittel, das eigene Leben im Lichte Jesu zu ordnen.

Nach Jahren der Etablierung des Bibliodramas in den verschiedenen Bildungsangeboten von Kirche und Schule, in Aus-, Fort- und Weiterbildung; zwischen Exegese, Ästhetik und Theater regt das Buch an, den Wert des Bibliodramas als eigenen liturgisch-rituellen Übungsweg, als einen "Weg zur Spiritualität im Alltag" (Ellen Kubitza, Tim Schramm) zu achten. Mit ihren Anregungen für ein "exerzitienorientiertes Bibliodrama" (164) betritt H. Radeck diesen Weg, den weiter zu verfolgen sich lohnt.