Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2000

Spalte:

947–949

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Otto, Gert

Titel/Untertitel:

Rhetorische Predigtlehre. Ein Grundriss.

Verlag:

Mainz: Grünewald; Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1999. 215 S. 8. Kart. DM 42,-. ISBN 3-7887-2200-5 u. 3-374-01729-0.

Rezensent:

Jochen Cornelius-Bundschuh

Der emeritierte Mainzer Praktische Theologe Gert Otto bündelt mit diesem Buch die Anliegen seiner früheren Arbeiten zur Homiletik in einer rhetorischen Predigtlehre. Teilweise werden ältere Texte wieder aufgenommen. Ausgangspunkt bleibt seine These: "Für die Reflexion homiletischer Fragestellungen ist die Rhetorik die Dominante" (7). Predigen heißt zuallererst "kompetent und verantwortungsvoll mit Sprache umgehen" (52); erst innerhalb dieses rhetorischen Denkzusammenhangs findet die theologische Reflexion ihren Ort.

In den Kapiteln I und II legt der Vf. zahlreiche Quellentexte vor: aus der antiken und der modernen Rhetorik, zum Verhältnis von Rhetorik und Homiletik und schließlich anschauliche Beispiele unterschiedlicher Textgattungen: vom Sprichwort über das Gedicht bis zum Essay. Sie bestätigen seine These von der Sprachgebundenheit menschlicher Existenz und seine Forderung, Rhetorik nicht instrumentell, sondern kritisch und hermeneutisch zu verstehen.

Der Gegensatz zwischen diesen beiden Zugängen zur Rhetorik durchzieht ihre Geschichte seit der Antike (Kap. III). Im 19. Jh. setzt sich das formale und instrumentelle Verständnis durch und bleibt bis in die sechziger Jahre des 20. Jh.s bestimmend. Rhetorik erscheint in ihm als technisches Hilfsmittel, nicht als konstitutives Element im Prozess der Verständigung und Wahrheitsfindung. Dabei werden grundlegende Zusammenhänge übersehen, in denen die Rhetorik verankert ist (Kap. IV): das "öffentliche Redenkönnen" (78) ist ein wesentliches Element philosophischer Anthropologie; es geht ethisch in der Rhetorik nicht zuerst um Wirkung, sondern um öffentliche Verständigung darüber, "ob die Wirkung verantwortet werden kann" (85); es gibt "keine Rhetorik ohne die Beziehung zur Poesie und zur metaphorischen Sprache" (87).

Auch im Bereich von Kirche und Theologie wurde Rhetorik in dieser Weise (miss-)verstanden, "die ,Krise der Predigt'" nicht als "rhetorische Krise" (88) identifiziert, sondern durch eine "steile Theologie" (109) weiter verschärft. Diese Konfliktkonstellation ist für O. auch 30 Jahre nach der "neuen Hinwendung zur Rhetorik" nicht überwunden (Kap. V): noch immer macht der "Niveauverlust" (88) auf Grund rhetorischer Defizite viele Predigten für den Vf. ,unerträglich' (114); noch immer ist die Homiletik weitgehend wirkungslos (7). Andere Faktoren, z. B. veränderte psychische und soziale Bedingungen der Sprachrezeption und -produktion oder die durch die neuen Medien veränderten Kommunikationsformen, spielen in O.s Wahrnehmung der homiletischen Lage keine Rolle.

Das Buch beschließen Konkretionen. In Kapitel VI geht es um "Form und Inhalt", die sich zwar unterscheiden, aber nicht trennen lassen. O. belegt dies mit Interpretationen von politischen Reden, von Formen des Umgangs mit Musik, in denen der Zusammenhang von Predigt und Liturgie anklingt, und von eigenen Predigten, in denen er Literatur rezipiert. Die Analysen schärfen den Blick dafür, wie sehr die Predigt an der Form "hängt" (121) und geben konkrete Anregungen für einen angemessenen Umgang mit Sprache. Ein besonderes Gewicht kommt der Auseinandersetzung mit dem Thema "Tod und Sprache" zu. "Das Reden angesichts des Todes" ist "die Grundsituation jeder Rede, jeder Predigt" (132) in dem Sinn, dass sie angesichts der "vielen täglichen Tode" "gegen Tod und Sterben anredend" (133) Menschen zur Sprache und damit zu ihrer Existenz helfen will. Die Frage nach dem spezifischen Charakter der Predigt als Rede im Horizont eines transpersonalen Geschehens kommt dabei nicht in den Blick. Die Bestattungspredigt erscheint als eine spezielle, auf Individualisierung drängende Unterform, für deren angemessene Gestaltung O. durch die Interpretation von ,säkularen' Totenreden Grundregeln gewinnt (vgl. 146).

Das abschließende Kapitel wendet sich der Predigtvor- und nachbereitung zu und stellt zwei Strukturmodelle für den homiletischen Prozess vor: den von O. bereits früher entwickelten rhetorischen Zirkel (14) und das Stufenmodell von H. Luther (151). Informativ und für die praktische Arbeit hilfreich sind das "Merkblatt zur Anlage der Predigtvorbereitung" (151-153), fünf Predigtbeispiele mit einem rhetorisch-homiletischen Kommentar und eine beispielhafte Analyse einer (politischen) Predigt, in der allerdings die Frage nach dem Umgang mit dem ,Sprachmaterial', d. h. auch dem biblischen Text keine Rolle spielt. Als Anlagen finden sich zwei Übersichten zu rhetorischen Figuren und zum System der antiken Rhetorik.

O. legt ein Lehrbuch vor, das mit seinen vielen Redebeispielen, den Quellentexten und kommentierten Literaturverzeichnissen gründlich und anschaulich in die rhetorischen Aspekte der Homiletik einführt. Die Frage nach der sprachlichen Form wird als zentrales Element jeder Predigtarbeit eingeschärft; den Beziehungen der Predigt zur öffentlichen, politischen Rede und zu literarischen Texten wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet.